In den USA schien die Frage entschieden: Die Republikaner hatten sich Donald Trump mit Haut und Haaren ergeben und tragen nun seinen nunmehr mit „legalen“ Mitteln betriebenen Staatsstreich mit. Auch in Großbritannien sind die Tories aufgegangen in einem nationalistischen und rassistischen Amalgam. Im postkommunistischen Osteuropa haben sich die regierenden Konservativen klerikal-faschistischen und völkisch-autoritären Zwischenkriegstraditionen geöffnet und deren Antisemitismus aufgegriffen. In Frankreich steht der vielfach mutierte Gaullismus unter dem Druck von gleich zwei Versionen der Neuen Rechten, die an eine sehr alte und üble Ideengeschichte der Gegenrevolution anknüpfen. Der Essay fragt anhand aktueller Wahlen und im Blick auf Deutschland, wie weit die Radikalisierung der Konservativen in liberalen Demokratien geht.
Claus Leggewie, Jahrgang 1950, ist Professor für Politikwissenschaften an der Justus-Liebig-Universität Gießen und Mitherausgeber der Blätter für deutsche und internationale Politik. Von 2007 bis 2017 war er Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen.
Am Anfang war Adenauer heißt ein Standardwerk zur Geschichte der frühen Bundesrepublik. Der nicht mehr allen bekannte erste Bundeskanzler war nach 1949 vor allem für die Westbindung verantwortlich, die Einordnung der jungen BRD in die westlichen Wirtschafts- und Militärbündnisse – eine segensreiche Abkehr vom deutschen Sonderweg gegen die politische Kultur des Westens, die Adolf Hitler ins Extrem getrieben hatte. Zugleich war Adenauer der Mitgründer und charismatische Vorsitzende der Christlich Demokratischen Union, der wohl wichtigsten Neugründung einer Partei nach dem Krieg. CDU und CSU schleppten durchaus braunes Personal und Denken mit, wurden aber bald als moderne liberal-konservative Volksparteien zur führenden Kraft. Sie waren nicht mehr konfessionell eingeengt wie das katholische Zentrum und vor allem gingen sie auf Distanz zu dem demokratiefeindlichen Konservatismus, der die Weimarer Republik erwürgt und sich den Nationalsozialisten unterworfen hatte. Mit dieser Selbstentnazifizierung war die Trennmauer gegen Rechtsaußen hochgezogen, die „Sozialistische Reichspartei“ SRP, ein Sammelbecken alter und neuer Nazis, wurde 1952 verboten. Daran, wie Adenauers Nachnachfolger Friedrich Merz als gestandener Konservativer über die AfD spricht, erkennt man, dass dieses Versprechen gehalten hat: Keine Koalition mit den Gaulands, Weidels und Höckes. Der „Kampf gegen rechts“ hat in Deutschland eine breite Basis.
Konrad Adenauer wurde von rechten Gegnern als „Gärtnerkonservativer“ verspottet – als ein Konservativer, der nur das Erbe des christlichen Abendlands pflegt (wie die Rosen in seinem Garten), aber die pluralistische Gesellschaft und die liberale Weltordnung akzeptiert, die mit der Niederlage des Faschismus zum Standardmodell im Westen geworden waren. Dagegen setzte Armin Mohler – so hieß der neu-rechte Publizist, der Adenauers Gartenkunst bespöttelte – eine „konservative Revolution“. Dieses Bestreben, die liberale Moderne in ihrem Kern rückgängig zu machen, eint die Neue Rechte in ganz Europa, die oft unter dem verharmlosenden Etikett des Rechtspopulismus gehandelt wird.
Zahlreiche politische Tabubrüche in Europa
Die Gretchenfrage rund um den Globus lautet heute, ob die konservativen Parteien der radikalen Rechten standhalten oder nachgeben. In den USA haben sich die Republikaner Donald Trump fast schon mit Haut und Haaren ergeben und tragen einen nunmehr „legal“ verkleideten Staatsstreich mit, indem die freie und gleiche Wahl für potenzielle Anhänger der Demokraten willkürlich eingeschränkt wird. Auch in Großbritannien sind die Tories aufgegangen im nationalistischen und rassistischen Amalgam der Brexiteers. Im postkommunistischen Osteuropa fallen die regierenden Konservativen auf klerikal-faschistische und völkisch-autoritäre Traditionen der Zwischenkriegszeit zurück und greifen deren Antisemitismus auf. Und in Frankreich steht die rechte Mitte unter dem Druck von gleich zwei Varianten der Neuen Rechten, die unverblümt an Ideen der Gegenrevolution seit 1789 anknüpfen und damit soeben ein sattes Drittel der Wählerschaft hinter sich vereint haben.
Zu der demokratischen Regression, die seit der Jahrtausendwende weltweit zu registrieren ist, trägt dieses Wackeln der Konservativen maßgeblich bei. Vom „Dammbruch in Kastilien“ schrieb jüngst eine Zeitung, als in Spaniens Norden die von der konservativen Volkspartei Partido Popular (PP) geführte Regionalregierung der rechtsradikalen Vox-Partei, sozusagen als Morgengabe für eine Koalition, drei Ministerien überließ. Die spanische Presse munkelte, wenn der Damm in Kastilien gebrochen sei, könnte demnächst Madrid unter Wasser stehen, wo Vox bereits drittgrößte Parlamentspartei geworden ist. Die Volkspartei sah das nicht so dramatisch: Man habe nur die Wiederholung der Regionalwahl verhindern wollen. Doch bei den Nationalwahlen in Spanien nächstes Jahr könnte der PP-Vorsitzende Alberto Núñez Feijóo mit Vox-Chef Santiago Abascal anbandeln.
Weitere Perspektiven auf den Konservatismus:
Steht Europa unter Wasser, wenn in Valladolid ein Damm bricht? Ja, meint der Vorsitzende der Europäischen Volkspartei EVP, der Pole Donald Tusk, denn ein Bündnis der Konservativen mit der extremen Rechten erstmals seit Ende der Franco‑Diktatur sei ja nicht der einzige Tabubruch. In Österreich hat die Schwesterpartei der CDU, die ÖVP, zweimal schon mit der rechtsradikalen FPÖ paktiert. Wie der Titel eines Buches der Wiener Publizistin Natascha Strobl lautet, setzte sich dort ein „radikalisierter Konservatismus“ durch; dessen sechs Merkmale seien der bewusste Regelbruch, die scharfe Polarisierung „Wir gegen die Anderen“, starke Männer als Führungspersonen, der gezielte Umbau der staatlichen Institutionen, Politik im permanenten Wahlkampfmodus und die Konstruktion einer Parallelwirklichkeit durch Desinformationskampagnen. Die beiden Kanzler Wolfgang Schüssel und Sebastian Kurz gingen so ungeniert Koalitionen mit der extremen Rechten ein wie andernorts Sozialdemokraten mit Grünen und Linken.
Inszenierung als Gegenmodell zur liberalen Moderne
Dieser Rechtsdrift hat ein weltanschauliches Fundament, das von Los Angeles bis Wladiwostok als Gegenmodell zur liberalen Moderne auftritt. Als ihr gefährlichster Verfechter hat sich ein gewisser Wladimir Putin entpuppt, der es nicht mehr bei Worten belässt. Ideen der Neuen Rechten sind in Russland stark vertreten, und der russische Präsident ist seit Langem der eifrigste Unterstützer jener sogenannten „Populisten“ oder „Rechtspopulisten“, die in den erwähnten Ländern ebenjenen völkisch-autoritären Nationalismus propagieren, den Putins Angriff auf die Ukraine zur grauenhaften Vollendung bringt. Über die Moskauer Desinformationskampagnen und Finanzspritzen sind sie bis nach Washington vorgedrungen, wo sich Donald Trump der besonderen Verbundenheit mit Putin rühmte und die Ukraine gewissermaßen zum Abschuss freigab. Seine Getreuen und die Maulhelden von Fox News preisen ihn heute noch dafür.
Damit fällt der Blick auf Ungarn, wo sich der Putin nahestehende Premier Viktor Orbán gerade gegen die versammelte Opposition durchgesetzt und ein viertes Mandat gewonnen hat. Dieses will er für die von ihm angestrebte Umkrempelung der Europäischen Union nutzen, deren Subventionen sein korruptes Regime freilich gerne weiter akzeptiert. Die Fidesz-Partei reichert herkömmlich konservative Ideen von Familie und Vaterland mit einem Geschichtsrevisionismus an, der das faschistische und großungarische Horthy-Regime der 1940er Jahre wiederbelebt und keinerlei Scheu vor antisemitischer Hetze an den Tag legt. Dem urkonservativen Herausforderer Péter Márki-Zay, einem gläubigen Familienvater, ist es trotz einer alle anderen politischen Kräfte umfassenden Koalition nicht gelungen, Orbán zu verdrängen. In Budapest ist der Verrat der Konservativen und ihr Ausverkauf an die völkisch-autoritäre Rechte perfekt.
Gemäßigte Rechte sind in Frankreich bedeutungslos geworden
Das drohte auch beim Ansturm der radikalen Rechten in Frankreich. Im ersten Wahlgang zur Präsidentschaft am 10. April versank die gaullistische Kandidatin Valérie Pécresse mit weniger als fünf Prozent der abgegebenen Stimmen in der Bedeutungslosigkeit, während Marine Le Pen es in den zweiten Wahlgang schaffte, wobei zwei noch weiter rechts stehende Kandidaten zusätzliche neun Prozent ergatterten. Ein Drittel der französischen Wählerinnen und Wähler folgte dem völkisch-autoritären Nationalismus dieses Trios und mehr als vier von zehn unterstützten am traurigen Ende Marine Le Pen gegen Emmanuel Macron.
Pécresse steht jetzt vor den Scherben einer Formation, die nach 1945 und vor allem seit 1958 die politische Landschaft Frankreichs dominiert hat, der Gaullismus. Benannt nach ihrem Gründer, General Charles de Gaulle, stand sie für einen bürgerlichen Konservatismus, der sich radikal vom Regime Marschall Pétains absetzte, der im Zweiten Weltkrieg mit den nazideutschen Besatzern kollaboriert hatte. De Gaulle und seine Nachfolger – Georges Pompidou, Jacques Chirac und Nicolas Sarkozy – waren sozial konservativ; sie ermöglichten aber die technische und wirtschaftliche Modernisierung des Landes und festigten dessen staatliche Souveränität mit dem Aufstieg zur Atommacht. Dem Projekt eines europäischen Bundesstaates setzten sie stets das „Europa der Vaterländer“ entgegen, dokumentiert im Widerstand gegen den Maastricht-Vertrag 1992 und in der Ablehnung der EU-Verfassung im Jahr 2000. Der Gaullismus war nicht die einzige Formation der politischen Rechten, wie die Präsidentschaft des liberal-konservativen Valéry Giscard d’Estaing von 1974 bis 1981 zeigte. Doch nach der diesjährigen Wahl sind wohl beide Strömungen der gemäßigten Rechten für lange Zeit bedeutungslos geworden.
Seit den 1960er Jahren ist der Aufstieg der extremen Rechten mit dem Namen der Familie Le Pen verbunden, deren Weltanschauung sich aus so gut wie allen Quellen reaktionären Denkens in Frankreich speist: aus dem Ur-Faschismus und Antisemitismus der Action française und diversen Antidemokraten der Zwischenkriegszeit, aus dem autoritären Repertoire des Vichy-Regimes, dessen Parole „Familie, Arbeit, Vaterland“ lautete, und aus dem Traum eines auf ewig französischen Algerien, das Le Pen Senior als Soldat mit Folter und Terror verteidigte, und zuletzt aus dem daraus resultierenden Affekt gegen arabisch-islamische Einwanderer, selbst wenn diese gute französische Citoyens geworden sind. Die französische Verfassung wollte Marine Le Pen mit Volksentscheiden aus den Angeln heben, sie reaktivierte alte Ressentiments gegen Deutschland und schürte neue gegen die Europäische Union.
Rechts von ihr wurde Éric Zemmour noch deutlicher, und es half Valérie Précresse nicht, dass sie sich diesem reaktionären Diskurs anbiederte – die gaullistische Wählerschaft lief über zum liberalen Macron, aber mehr noch zu Le Pen. 40 Prozent der praktizierenden Katholiken haben laut einer Umfrage der katholischen Tageszeitung La Croix den drei KandidatInnen der extremen Rechten ihre Stimme gegeben, davon mit 17 Prozent weit über dem Durchschnitt dem rechtskräftig verurteilten Volksverhetzer Éric Zemmour. Einen Aufruf der Bischöfe, Le Pen nicht zu wählen, erwartete man vergeblich. Nach den auch in Frankreich häufigen Kirchenaustritten ist offenbar ein harter Kern übrig geblieben, der an Positionen der Gegenrevolution klebt und gemeinsam mit den Rechtsradikalen Homosexuellenehe, Abtreibung und „Genderwahn“ bekämpfen will, vor allem aber die muslimische Einwanderung. Mit dieser Stoßrichtung wurde eine marginale Sekte zu einer bestimmenden Kraft des politischen Systems – die Zwerge wollten Riesen werden und haben es fast geschafft.
Der Ukraine-Krieg hat bei manchen ein Umdenken bewirkt: Nicht nur die Putin verbundene Marine Le Pen scheiterte, sondern auch die Partei SDS des rechtspopulistischen Janez Janša, des Orbán nahestehenden Regierungschefs von Slowenien. Doch gleichzeitig macht sich in Italien mit Giorgia Meloni die populäre Anführerin der Fratelli d’Italia, einer ausdrücklich neofaschistischen Partei auf, bei der Parlamentswahl im nächsten Jahr die Mitte-Links-Regierung abzulösen – mit einem Programm, das noch deutlicher als das von Marine Le Pen auf eine Loslösung von der EU und einen fremdenfeindlichen Nationalismus zielt. Melonis ausdrückliches Ziel ist, nicht „als die Generation in die Geschichtsbücher einzugehen, die die Rechte ermordet hat“. An seinem Ursprungsort ist der Faschismus immer hoffähig geblieben und soll nun regierungsfähig werden.
In den USA droht die Vollendung des Super-GAUs
Dem verhinderten GAU in Europa könnte der vollendete Super-GAU in einer der ältesten und klassischen Demokratien der Welt in den Vereinigten Staaten folgen. Er trägt weiterhin den Stempel Donald Trumps, US-Präsident bis 2021, dabei datiert die immer raschere Rechtsorientierung der von Trump eroberten Partei der Republikaner schon länger zurück. Die Partei Abraham Lincolns war ein verlässlicher Hort liberal-konservativer Überzeugungen, doch seit den 1980er Jahren wurde sie immer stärker zur politischen Heimat religiös-fundamentalistischer Gruppierungen, die sich als Verfechter der weißen Vorherrschaft, der white supremacy, nun immer deutlicher als Rassisten zu erkennen geben. Zwei Grundüberzeugungen moderner Verfassungen wurden geopfert: das farbenblinde Ideal der Gleichheit der Menschen und die Trennung von Religion und Politik. Auch hier also findet der Ausverkauf altamerikanischer konservativer Werte an eine völkisch-identitäre Ideologie statt, die der Pleitemanager Trump gegen anfangs erheblichen Widerstand der alten Parteigarde für seine Propaganda zu nutzen vermochte. Alte isolationistische Neigungen der Amerikaner, ihre Nation aus den Konflikten der Welt möglichst herauszuhalten, etikettierte er mit „Amerika first“; das war der Wahlspruch der 1930er Jahre, der die USA nicht gegen Hitler, sondern – wenn überhaupt – mit Hitler gegen Josef Stalin ins Feld schicken wollte. Und Trump beherrscht den populistischen Trick, tatsächliche oder gefühlte Benachteiligungen des weißen Hinterlands, der sogenannten Hillbillies, gegen die multikulturellen Eliten der Städte zu instrumentalisieren – ein Milliardär hetzt die desillusionierten Arbeitermassen in einen nach rechts verdrehten Klassenkampf. Der knüpft an bestehende und sich weitende materielle Benachteiligungen an, flaggt sich aber weltanschaulich um und richtet sich nicht gegen das Kapital oder „die Reichen“, sondern gegen noch Schwächere. An die Stelle der Klasse tritt Rasse, Religion und Herkunft.
Bei den Zwischenwahlen im November und den nächsten Präsidentschaftswahlen steht nicht weniger als die Zukunft der amerikanischen und damit der westlichen Demokratie insgesamt auf dem Spiel.
Claus Leggewie
Genau wie die französische und ungarische Rechte – und über seinen Kumpan Stephen Bannon im engen Kontakt mit ihnen – griff Trumps Anhang nämlich das ursprünglich aus Frankreich stammende Ideologem vom „Bevölkerungsaustausch“ auf, eine erfolgreiche Verschwörungstheorie, der zufolge finstere Kräfte eines tiefen Staates die christlich-weiße Mehrheit durch farbige, besonders muslimische Einwanderer ersetzen wollten. Allein das erratische Naturell Trumps und der von ihm stümperhaft inszenierte Sturm aufs Kapitol haben am 6. Januar 2021 einen Staatsstreich gegen den designierten Nachfolger Joe Biden verhindert. Trumps Einfluss auf die Republikaner ist ungebrochen, er bereitet seine neuerliche Kandidatur für 2024 vor, zieht seinen Anhängern das Geld aus der Tasche und unterstützt KandidatInnen bei Vorwahlen, die schon in diesem Herbst den Demokraten in beiden Häusern die ohnehin knappe Mehrheit entreißen sollen. In aktuellen Umfragen liegen Republikaner und Demokraten Kopf an Kopf, die Hälfte der Amerikaner bescheinigen Joe Biden, einen schlechten Job als Präsident zu machen und zwei Drittel sehen ihr Land auf dem falschen Weg. Dass Steve Bannon für den Herbst ein Amtsenthebungsverfahren ankündigt, unterstreicht, dass hier kein übliches Rennen zwischen Regierung und Opposition läuft, sondern die Destabilisierung der Demokratie angestrebt wird. Bei den Zwischenwahlen im November und den nächsten Präsidentschaftswahlen steht nicht weniger als die Zukunft der amerikanischen und damit der westlichen Demokratie insgesamt auf dem Spiel.
Ein Trend aus den neuen Demokratien des globalen Südens
Der Trend zur demokratischen Regression, der nach 2000 massiv wurde, sich bisher aber vor allem auf neue Demokratien des globalen Südens beschränkt hatte, ist auf die etablierten und neuen Demokratien des Westens übergesprungen. Damit fällt der Blick noch einmal auf die europäische Christdemokratie, dieser ausdrücklichen Abkehr der Konservativen vom Sündenfall ihrer Kollaboration mit dem Faschismus. Der Rheinländer Konrad Adenauer, der jüdische Elsässer Maurice Schumann, der Trentiner Alcide De Gasperi, allesamt Erben des karolingischen Kerneuropas, und ebenso ihre Partner in den Beneluxstaaten grenzten sich klar vom kompromittierten Konservatismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ab: mit der aktiven Anerkennung der liberalen Demokratie, mit der Betonung einer sozialen Marktwirtschaft und der politisch-kulturellen Verwestlichung. Speziell als Vorreiter der Europäischen Gemeinschaften lösten sie damit Hoffnungen des antifaschistischen Widerstands der 1940er Jahre ein, in welchem sie an der Seite von Liberalen, Sozialisten und Kommunisten, den einstigen Todfeinden der Altkonservativen, gestanden hatten. Das katholische Denken prägte sie, aber interkonfessionell beendeten sie auch das Schisma der beiden christlichen Kirchen, die sich, wenn auch zögerlich, säkularisierten.
Es ist schon gesagt worden, dass diese Konversion nicht ohne weltanschauliche Kompromisse vonstatten ging und personelle Kontinuitäten der „braunen“ Rechten hingenommen wurden. Eben erst ist bekannt geworden, wie intensiv Adenauer die SPD-Opposition regelrecht bespitzeln ließ, und zwar unter der Ägide eines Geheimdienstchefs, der auch den Nazis treu gedient hatte. Viele autoritäre Traditionen blieben in der christdemokratischen Rechten lebendig, doch genau diese braunen Spuren verursachten ihre nachlassende Attraktion seit den 1960er Jahren, als postmaterialistische und libertäre Wertorientierungen die Gesellschaften, die Staatsapparate, die Parteien und auch die Kirchen erreichten. In Frankreich und den Beneluxstaaten verkümmerten die Christdemokraten zu Splitterparteien, in Italien stürzte die lange herrschende Democrazia Cristiana über ihre Bestechlichkeit und tauchte bei Rechtspopulisten wie Berlusconis Forza Italia unter; auch in der Schweiz wurden die Christdemokraten von der beinhart rechten SVP überflügelt.
Die Ära der "Volkspartei der Mitte" ist vorbei
Die deutschen Christdemokraten mussten eine Regentschaft der Sozialdemokratie unter Willy Brandt und Helmut Schmidt erleben, bevor sie als modernisierte „Volkspartei der Mitte“ ihre strukturelle Mehrheitsfähigkeit wiedererrangen – mit dem diesbezüglich genialen Helmut Kohl, der den CSU-Rivalen Franz Josef Strauß auflaufen ließ. Der Bajuware hatte rechts von der Union keine Konkurrenz zulassen wollen, indem er den rechten Rand gleich selbst besetzte. Auf diese Weise konnten die Unionsparteien 1990 in der DDR das alte sozialdemokratische Herzland erobern und nach dem weniger genialen Desaster Kohls in der Spendenaffäre mit Angela Merkel sogar eine Ostdeutsche als Parteivorsitzende einsetzen. Deren formidable Integrationsfähigkeit ergab eine extrabreite Mitte, in der problemlos sozialdemokratische Versatzstücke einzubauen waren. Der Kanzlerwahlverein schien wieder unbesiegbar und bildete einen deutschen Block in der Europäischen Volkspartei, während die Sozialdemokraten fast überall dem demoskopischen Abgrund entgegentrudelten. Ähnlich erging es Postkommunisten und Sozialisten im Süden und Osten Europas.
Spätestens das Jahr 2015 brachte dann eine Wende. Seither bröckelt der Widerstand der gemäßigten Rechten gegen ein Arrangement mit der völkisch-autoritären Konkurrenz, die mit populistischer Propaganda in einer diffusen Netzöffentlichkeit punktete. Der Hebel war der Widerstand gegen Migration, auf dessen Welle Rechtspopulisten in Skandinavien in Regierungen eintraten, in Frankreich und Südeuropa Erpressungsmacht bekamen und von Osteuropa aus die Europäische Union in ihren normativen und institutionellen Grundfesten erschütterten. Und mit der AfD ist auch in Deutschland erstmals eine nachhaltige Konkurrenz rechts von der Union entstanden, die sie speziell in Ostdeutschland zu überflügeln droht. Hält da – ironisch gesprochen – der „antifaschistische Schutzwall“?
Der CDU stehen harte Versuchungen bevor
Das wird nun der Lackmustest für die deutsche Christdemokratie, die sich bis auf einige Abtrünnige aus der zweiten Reihe bisher immer deutlich nach Rechtsaußen abgrenzte und alte (die NPD, die DVU) wie neue Rechtsparteien (die Republikaner) marginalisieren konnte. Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz hat angekündigt, diesbezüglich prinzipientreu zu bleiben; der Quasi-Übertritt des Vorsitzenden der CDU-Werteunion, Max Otte, als AfD-Kandidat für das Bundespräsidialamt, und die Wahlniederlage seines Gesinnungsgenossen Hans-Georg Maaßen boten ihm eine ideale Gelegenheit, Taten folgen zu lassen. Doch die echte Nagelprobe kommt noch, sollte die AfD, in der Pandemie durch ihren politischen Nihilismus in einer heterogenen Allesverweigerer-Allianz gestärkt, in Ostdeutschland und einigen westdeutschen Problemzonen ihre Vetoposition behalten und die durchaus vorhandenen koalitions- oder duldungsbereiten Kräfte in der Union nicht auf ewig Opposition bleiben wollen. Nicht überall haben sich die Rechten durch ihre erwiesene Unfähigkeit blamiert, im Osten des Landes bleiben sie eine Vetomacht. Die Lage der CDU ist insofern bedenklich, als sie genau dort ihre 1990 so eindrucksvoll gewonnene Hegemonie verloren hat und womöglich bald schon ohne Regierungsgesicht unattraktiv zu werden droht. Damit würden CDU/CSU nachträglich in die gesamteuropäische Verfallsgeschichte der Christdemokratie einschwenken, die als Europäische Volkspartei auch erheblich an Gewicht verloren hat. Den durch die Extremen eingeengten Raum in der Mitte könnten Sozialliberale einnehmen.
Allein mit der Statuierung von Exempeln und Achtungserfolgen bei Landtagswahlen kommt die Merz-Union wohl nicht davon. In der Partei zirkulieren Vorschläge für eine „schonungslose Aufarbeitung“ der Wahlniederlage, an frischen programmatischen Ideen mangelt es jedoch weiter. Die Litanei von der „großen Volkspartei der Mitte“ verfängt nicht mehr, der Kanzlerwahlverein funktioniert nicht länger. Auch das lang beschworene „hohe C“ (für christlich) zieht nicht, da auch treue Gläubige den christlichen Kirchen nach den Missbrauchsskandalen scharenweise den Rücken zukehren. Andernorts mobilisieren ultrarechte Evangelikale mit Glaubenssätzen, die bei ihnen immer weniger religiös sind, dafür immer stärker rassistisch werden. Auch mit einer neoliberalen Neuinszenierung, die vor längerer Zeit im Jahr 2003 Merz und Merkel versucht haben, würde die Union scheitern; solchen Luftschlössern laufen in der multiplen Krise der kapitalistischen Globalisierung die Massen nicht mehr nach.
Verjüngung, Verweiblichung und Diversifizierung der Union bleiben inhaltlich leer, auch mehr Videokonferenzen und ein vermeintlich „linker“ Generalsekretär aus dem Osten helfen nicht. Aber was und wie sonst? Die Rückbindung an das christliche Abendland haben Hasardeure wie Viktor Orbán und Éric Zemmour besetzt, der Topos der „Bewahrung der Schöpfung“ ist vermutlich besser bei der grünen Volkspartei aufgehoben. Der Wahlschlappe 2021 folgte noch kein politisches Wunder wie 1945. Was bleibt, ist eher das Hoffen auf ein Scheitern der Ampel beim Krisenmanagement. Das darf man aber nicht laut sagen, denn davon wären alle Parteien gleichermaßen betroffen. Die Versuchung, nach weiter rechts abzudriften, bleibt also bestehen.
So sucht der Konservatismus weiter nach einer attraktiven, zeitgemäßen Botschaft und gesellschaftlichen Basis in der ausgerufenen, bisher noch kaum verstandenen Zeitenwende. Die Programmschriften der Union und ihr nahestehender Intellektueller wärmen meist Allgemeinplätze auf oder listen Sekundärtugenden auf, andere wie der baden-württembergische Ministerpräsident Wilfried Kretschmann sehen das Konservative ohnehin längst besser bei den Grünen aufgehoben. Wem am Überleben dieser politischen Strömung gelegen ist (und das sollte auch für Andersdenkende gelten), der empfiehlt weniger abstrakte Prinzipien und schwammige Werte als prozedurale und institutionelle Festigkeit gegen die „konservative Revolution“ der extremen Rechten: statt Regelbruch Verlässlichkeit, statt Polarisierung Ausgleich mit „Anderen“, statt toxischer Männlichkeit Menschlichkeit, statt Fremdenhass Gastfreundschaft für Notleidende, statt Lügen Respekt vor den Institutionen, die Wahrheit verbürgen: das Recht, die Wissenschaft und der öffentliche Diskurs in freien Medien.
Mäßigung und Demut könnten eine Rolle spielen
Antifaschismus darf kein linkes Spezial- oder Nischenthema bleiben. Auch wenn das kein Alleinstellungsmerkmal auf dem Wählermarkt ist, bedarf es eines klaren Neins zur extremen Rechten. Und man darf gespannt sein, wie gerade Konservative die Zeitenwende in eine unsichere Zukunft ausbuchstabieren, wofür die altbackene Unionsparole „Weiter so!“ wirklich nicht mehr passt. Vor allem unter ökologischen Gesichtspunkten, namentlich der Bremsung des Klimawandels und des Artensterbens, besteht die Wahl heute nicht mehr wie im klassischen Konservatismus zwischen dem, was ist und dem, was war, sondern zwischen dem, was ist und dem, was sein wird. Und was besser werden soll. Hier könnten nur scheinbar paradox gerade konservativ markierte Haltungen wie Mäßigung und Demut eine Rolle spielen. Doch die Formel vom „Schutz des Lebens“ wird eingeengt auf das „ungeborene Leben“, wie in Polen und jetzt in den USA mit einer frontalen Rücknahme des Verfassungsurteils zum Abtreibungsrecht, das die Autonomie der Frauen wenigstens im Grundsatz respektierte. Es ist kein Zufall, dass die patriarchale Wut gerade diese Errungenschaft attackiert.
Um noch einmal auf Konrad Adenauer zurückzukommen: Er war innenpolitisch durchaus ein Wertkonservativer oder, wie seine Kritiker sagten: ein Erzreaktionär. Im hohen Alter, von seiner Partei verlassen und persönlich verstockt, gab auch er seinen Namen für einen Preis her, den die nach sehr weit rechts driftende Deutschland-Stiftung an Intellektuelle und Künstler verlieh – der erste Preisträger im Todesjahr Adenauers 1967 hieß ausgerechnet Armin Mohler, der Erfinder der Konservativen Revolution. Auch Helmut Kohl nahm 1994 in seinem Alterstrotz den Konrad-Adenauer-Friedenspreis der Deutschland-Stiftung an, wohlwissend um die Gesellschaft, in die er sich da begeben hatte, bei seinem Versuch, eine „geistig-moralische Wende“ hinzulegen. Diesen Irrweg sollte ein aufgeklärter Konservatismus nicht wieder beschreiten.