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Verschiebung des Brexits bis Mai
"Eine Option, die nicht schädlich ist für die Europawahlen"

Die britische Premierministerin Theresa May hat einen Aufschub des Brexits bis zum 30. Juni beantragt. Der SPD-Europaabgeordnente Jo Leinen sagte im Dlf, eine Fristverlängerung könnte nur bis zum 22. Mai gewährt werden. Sonst riskiere man, dass die Europawahl angefochten werden könne.

Jo Leinen im Gespräch mit Jörg Münchenberg |
Der Europaabgeordnete Jo Leinen (SPD) steht in einem Raum des Landtag des Saarlandes.
Der Europaabgeordnete Jo Leinen (SPD) (dpa/ picture alliance/ Oliver Dietze)
Jörg Münchenberg: Wieder einmal Showdown in Sachen Brexit. Am Mittwoch, also morgen, muss sich die EU mit einer Verlängerung des Scheidungstermins befassen, bei dem aber auch das Parlament mitreden wird. Das Unterhaus könnte nämlich den Brexit-Termin eigenständig verändern. May selbst versucht derweil weiter in Europa für ihren Kurs, nämlich Austritt bis Ende Juni, Verbündete zu finden. Zur Stunde trifft sie in Berlin mit Bundeskanzlerin Angela Merkel zusammen.
Am Telefon ist jetzt der EU-Abgeordnete Jo Leinen von der SPD. Herr Leinen, ich grüße Sie!
Jo Leinen: Guten Tag, Herr Münchenberg.
"Brexit-Drama hängt in Brüssel allen zum Hals raus"
Münchenberg: Herr Leinen, wieder einmal Showdown in Sachen Brexit. Sind Sie inzwischen nicht auch schon ziemlich genervt von dieser andauernden Hängepartie?
Leinen: Dieses endlose Brexit-Drama hängt hier in Brüssel allen zum Hals raus, und ich kann Ihnen sagen, die Frustration ist auch entsprechend hoch. Allerdings bei dieser doch historischen Frage, glaube ich, muss man kühlen Kopf bewahren.
Münchenberg: May selbst, wenn wir uns mal auf die Inhalte konzentrieren, will ja die Scheidung bis zum 30. Juni durchziehen. Ist das Ihrer Einschätzung nach realistisch, dieses Datum?
Leinen: Der 30. Juni gibt nicht viel Sinn, weil wir haben im Mai Europawahlen und nach Recht und Gesetz müsste Großbritannien im Mai an Europawahlen teilnehmen, um dann einen Monat später auszutreten. Das kann man weder den Bürgerinnen und Bürgern in Großbritannien erklären und erst recht nicht den Unions-Bürgerinnen und Bürgern bei uns.
Münchenberg: Aber ist das nicht mittlerweile schon längst nicht auch Konsens, dass man sagt, wir beißen in den sauren Apfel, dann müssen sie doch noch mal an den Wahlen teilnehmen?
Leinen: Ich glaube, dass es noch andere Optionen gibt. Wir hatten ja jetzt eine kurze Verlängerung bis zum 10. April. Das wäre morgen. Oder bis zum 12. April, am Freitag.
Münchenberg: Bis zum 12.!
Leinen: Genau, am Freitag. – Es hat sich ja in London etwas getan. Frau May spricht ja endlich nach drei Jahren mit der Opposition. Beide verhandeln, um vielleicht doch noch einen Deal zustande zu kriegen, der im Parlament eine Mehrheit hat. Da ist schon ein neues Faktum da und ich würde mal sagen, man könnte eine Verlängerung noch bis zum 22. Mai bekommen. Das ist nämlich der Tag, an dem die Briten eigentlich wählen würden. Nach dem 22. Mai, wenn sie noch Mitglied sind, müssten sie Europawahlen abhalten, und das kann ich meinen Leuten wirklich nicht erklären.
Chaos aus London darf die EU nicht beeinflussen
Münchenberg: Das heißt, Sie rechnen jetzt damit, dass der EU-Gipfel morgen sagt: Okay, bis Mitte Mai müsst ihr euch entschieden haben, und danach den harten Brexit?
Leinen: Ja, das wäre zumindest eine Option, die nicht schädlich ist für die Europawahlen, die die Anfechtbarkeit der Europawahlen nicht als Risiko bringt und die auch nicht die roten Linien der EU verschieben muss, nämlich die Integrität des Binnenmarktes zu wahren und unser Mitgliedsland Irland zu schützen. Wenn es in London Bewegung gibt für eine Zollunion, den Verbleib Großbritanniens in der Zollunion, dann gehen sie raus, aber wir brauchen keine Grenze zwischen Nordirland und Irland. Das ist eine Option.
Die andere wäre in der Tat eine lange Verlängerung. Frau May sagt, ich kriege das auch bis Mai nicht hin. Dann macht natürlich die Verlängerung bis Juni immer noch keinen Sinn und dann kommt das ins Gespräch, was Herr Tusk gesagt hat. Dann müsste man sehen, ob wir bereit sind, für mindestens ein Jahr, würde ich mal sagen, diesen Brexit zu verschieben.
Münchenberg: Aber, Herr Leinen, ich verstehe Sie auch richtig: Der EU-Gipfel morgen wird in jedem Fall noch mal einer Verlängerung zustimmen? Man wird nicht zulassen, dass am Ende die EU Schuld ist, wenn die Briten, bildlich gesprochen, hier über die Klippe gestürzt werden?
Leinen: Dieser Brexit wird lange im Gedächtnis der Völker bleiben, auch der Briten selber insbesondere, und ich hätte ungern, dass die EU Schuld daran ist. Es gibt ja dieses Blame Game, wer hat den schwarzen Peter, wenn es schiefgeht. Wir haben den Brexit nicht gewollt. Das kam ja aus der Konservativen Partei heraus und ihrer Zerstrittenheit, dieses Referendum zu machen. So ist es nun mal. Ich glaube, der Ball muss im Feld der Briten bleiben, und sie müssen letztendlich auch sich entscheiden: Gibt es einen Deal mit uns, einen Soft-Brexit, so hat das Unterhaus ja oft auch schon entschieden, also keinen harten Brexit. Diese Chance muss man nutzen. Und wenn das noch mal ein paar Wochen Verschiebung bedeutet, glaube ich, ist das die größere Weisheit, das auch zu machen, obwohl es einem widerstrebt.
Münchenberg: Aber, Herr Leinen, gehört nicht letztlich dann auch zur Wahrheit, dass die EU immer wieder einer Verlängerung zustimmen wird, weil man einfach sich nicht auf dieses Blame Game einlassen will und am Ende nicht historisch auch als Schuldiger dastehen will, der diesen harten Brexit verursacht hat?
Leinen: Ja, wir müssen auch aufpassen, dass das Chaos aus London nicht überspringt über den Ärmelkanal und uns erfasst. Morgen ist ja noch mal ein kritischer Moment, ob die 27 beisammen bleiben.
"Die Labour Party hätte am liebsten Neuwahlen"
Münchenberg: Sie müssen ja einstimmig beschließen.
Leinen: Ja, genau. Alle 27 müssen Ja sagen. Das hat bisher geklappt. Ich sehe auch nicht, dass es wirklich einen Regierungschef gibt, der diesen harten Brexit mit all den Folgen, die das hat, will. Ich vermute mal, dass in der langen Nachtsitzung von Mittwoch auf Donnerstag man sich wieder auf eine Verschiebung verständigen muss – leider.
Münchenberg: Auch Macron? Das sind nur leere Drohungen letztlich?
Leinen: Ja, ich sehe auch ein Pingpong-Spiel. Macron macht den Hardliner und Frau Merkel macht die etwas softere Linie, was auch ein bisschen die Interessenslage widerspiegelt. Deutschland ist Exportweltmeister. Wenn ich sehe, wie viele Autos, Maschinen und dergleichen wir nach Großbritannien exportieren, ist der Schaden für Deutschland natürlich wesentlich größer als für Frankreich, die das nicht in dem Maße tun. Da sind auch Interessen dahinter. Aber ich gehe mal davon aus, dass die beiden sich auch besprechen und es morgen dann doch eine EU-27-Linie gibt, weil das ist unsere einzige Chance. Das ist auch unsere Stärke, London zu zeigen, ihr könnt nur begrenzt mit uns spielen und unsere Linien bleiben unsere Linien.
Münchenberg: Herr Leinen, Sie sagten vorhin ja auch, es gibt vermeintliche Bewegung jetzt in London zwischen Labour und den Tories. Aber auf der anderen Seite: Bislang ist ja von einem Durchbruch nichts zu sehen, und die Frage ist ja schon, ist eine Einigung tatsächlich möglich. Denn bislang hieß es ja aus London immer, wir wissen nur, was wir nicht wollen.
Leinen: Ja, in der Tat. Wir alle wissen nicht, ob da auch mit gezinkten Karten gespielt wird, sowohl bei Frau May wie auch bei Herrn Corbyn. Die Labour Party hätte am liebsten Neuwahlen, weil sie sich da Chancen ausrechnen, die neue britische Regierung zu stellen. Dann wäre das noch mal eine völlig neue Lage. Starke Kräfte, immer stärkere Kräfte sagen, die Sackgasse im Parlament und in der Regierung kann nur gelöst werden durch ein zweites Referendum, lasst doch die Bürger noch mal endgültig klären, wollen wir drin bleiben, wollen wir mit einem Deal rausgehen, oder wollen wir mit einem Crash rausgehen. Vielleicht, je mehr Zeit wir gewinnen, ist die letztere Option auch die, die nicht unwahrscheinlich ist.
Münchenberg: Aber die Frage nach der Zeit stellt sich ja immer wieder. Die Briten hatten ja schon sehr, sehr viel Zeit, ohne dass sich tatsächlich ein Kompromiss oder eine Annäherung irgendwie abgezeichnet hat.
Leinen: Ich sage ja: Wenn die Sackgasse auch jetzt noch mal die nächsten drei Wochen weitergeht, wenn es keinen Deal gibt innerhalb der britischen Parteien, zwischen Regierung und Labour Party, dann gibt es eigentlich nur den Ausweg, die Bevölkerung zu fragen. In Großbritannien haben wir eine Politikkrise. Wir haben sogar eine Verfassungskrise. Parlament und Regierung blockieren sich, finden keinen Ausweg. Da gibt es dann nur noch eine Instanz: der Souverän. Das sind die Bürgerinnen und Bürger. Und ich sehe ja, welchen Zulauf diese Petition bekommt - schon über sechs Millionen -, welche Großdemonstrationen mit hunderttausenden von Menschen dort stattfinden. Ich war ja mal Präsident der europäischen Bewegung. Die gab es fast nicht in Großbritannien. Heute ist das die größte Mitgliedsorganisation. Überall sprießen Gruppen als proeuropäische Gruppen im Land. Ich denke, Großbritannien holt nach, was es 44 Jahre nicht gemacht hat, seit dem Beitritt: wirklich mal in sich zu gehen und wirklich zu diskutieren, wie halten wir es mit Europa und wie ist unsere Lage in dieser Welt.
Münchenberg: … sagt der EU-Abgeordnete Jo Leinen von der SPD. Herr Leinen, danke für das Gespräch. Und ich nehme mal an, zu diesem Thema war das nicht unser letztes Interview.
Leinen: Auf Wiederhören, Herr Münchenberg.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.