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Verschwiegene NS-Vergangenheit

Vor zwei Wochen sind in Leipzig erste Ergebnisse des Forschungsprojektes "Doping in Deutschland" vorgestellt worden, das vom Deutschen Olympischen Sportbund initiiert wurde. Ein Fokus lag dabei auf den Anfängen der Dopingmedizin in der alten Bundesrepublik. Kontinuitäten aus der NS-Zeit deuten die Wissenschaftler zwar an. Doch einige Fragen bleiben offen:

Von Grit Hartmann |
    Einer der ersten Anabolika-Dopingfälle in der alten Bundesrepublik ereignet sich 1952. Kurz vor den Spielen in Helsinki fliegt Martin Brustmann, Chefarzt des Ruderverbandes, aus dem Olympiateam. Vor den Ausscheidungsrennen hatte er dem Rüsselsheimer Achter das Präparat Testoviron zugesteckt, ein Anabolikum. Das Team verlor und beschwerte sich über den Doktor – angeblich führten die Pillen, berichtete damals "Der Spiegel", nach 500 Metern "zu Lähmungserscheinungen".
    Bei den Berliner Forschern geht der Kölner Brustmann schlicht als "berühmter Sportarzt" durch, seine Position im Verband fehlt. Der knapp erwähnte Dopingvorfall soll nur belegen, wie Sportmediziner – Zitat – "die Ergebnisse der Hormonforschung nutzten, die in den 50er-Jahren enorm intensiviert wurde". Diese erste Anabolika-Affäre indes dokumentiert viel mehr: eine Tradition, in der Disziplinierung, Kampf bis zum Sieg und später auch Rasse als anthropologische Konstanten galten. Brustmann begann als Sportlehrer der Kaiserlichen Hoheiten des Hauses Hohenzollern und startete 1906 selbst als Sprinter bei den Spielen in Athen. Schon als Medizinstudent verabreichte er Athleten eine selbst kreierte angeblich leistungssteigernde Mixtur aus Schokolade, Salzen und Alkalien. Von ihm betreute Leichtathleten erzielten sechs Weltrekorde. 1912 war Brustmann Olympiaarzt, ebenso 1936, bei den Nazi-Spielen in Berlin. Dort vermaß das Medizinerteam auch die Athletenfüße. Wichtigste Fragestellung: "Ist die Form des Fußes rassisch bedingt?"
    Angelika Uhlmann ist eine der wenigen Kennerinnen der Sportmedizin auch im Dritten Reich. Sie hat zu Wolfgang Kohlrausch promoviert, während der NS-Diktatur auch Chef der Sportmedizin an der Universität Freiburg. Kohlrauschs großes Thema damals: die Erforschung der Leistungsgrenzen Jugendlicher. Die Nationalsozialisten, sagt sie, schätzten die Sportmediziner überaus:
    "Für die Produktion von Spitzensportlern, für die Produktion von Volksgesundheit und für die Wehrhaftmachung der Jugend, das war ein ganz wichtiger Aspekt. Militär und Sport verschmolz immer mehr miteinander. Zum Beispiel das militärische Gradestehen wurde als die beste Sportübung bezeichnet."
    Brustmann und Kohlrausch sind nur zwei von vielen Protagonisten der westdeutschen Sportmedizin mit ungebrochenen Karrieren über mehrere Systeme. Die Berliner Forschungsberichte deuten solche Linien allenfalls zaghaft an. Wofür die Kontinuitäten stehen, ob sie mit den Anfängen des Dopings in Verbindung zu bringen wären – diese Frage wird gar nicht erst aufgeworfen. Die Historiker begnügen sich mit der Feststellung, in den 50ern hätten die meisten Sportärzte die Ethik ihres Berufsstandes hochgehalten, sie seien gegen Doping gewesen. Nur: Galt das auch für die Koryphäen der Zunft?
    Ein Schüler von Karl Gebhardt liefert Hinweise. Gebhardt selbst war einer der Ideengeber für die 1919 gegründete Deutsche Hochschule für Leibesübungen, der späteren Reichsakademie. Er leitete dort das Medizinische Institut, auch unter den Nationalsozialisten. Bei den Berliner Spielen 1936 war er Chefmediziner des Olympiateams. Wie wichtig die Nazis diese Betreuung nahmen, zeigt ein anderer Umstand: Gebhardt diente zugleich dem Reichsführer SS, Heinrich Himmler, als Leibarzt. Er steuerte Menschenversuche im Konzentrationslager Ravensbrück und wurde im Nürnberger Ärzteprozess zum Tode verurteilt.
    Gebhardts Biografie muss die Berliner Historiker vielleicht nicht interessieren. Sie erwähnen aber seinen Zögling Frohwalt Heiss. Der wird als verantwortlicher Mediziner der Olympia-Expedition 1952 vorgestellt; an der Reichsakademie sei er Leiter des "Arzthauses" gewesen. Tatsächlich jedoch war Heiss dort Gebhardts erster Assistent und diesem freundschaftlich verbunden. Seine Professur erhielt er 1942. Auch Heiss gehörte schon 1936 zum erlesenen Kreis der Olympia-Ärzte. Ebenso unwichtig scheint den Forschern ein einflussreiches Ehrenamt: Heiss avancierte 1950 zum ersten Vorsitzenden des neugegründeten Sportärztebundes.
    Auch mit der medizinischen Ethik von Hans Grebe hatten weder die Zunft noch der Sport ein Problem. Grebe wurde 1957 Präsident des Sportärztebundes. Für Uhlmann einer der schlimmsten Fälle:
    "Der war ja bei Verschuer und hat auch hinterher über seine Zwillingsforschung noch ganz stolz geredet."
    Mit dem späteren Auschwitz-Arzt Josef Mengele assistierte und promovierte Grebe in Frankfurt bei Otmar von Verschuer. Dessen Zwillingsforschung basierte dann auf den Versuchen von Mengele. Grebe brachte es 1944 zum Direktor des Instituts für Rassenhygiene und Erbbiologie in Rostock. Zwischen 1958 und 1976 beschäftigte ihn der Deutsche Box-Verband als Chefarzt. Überliefert ist ein Streit mit dem amerikanischen Kollegen Ernst Jokl. Nach einigen Todesfällen plädierte Jokl 1984 für ein Verbot des Boxens. "Der K.o.", meinte er, "ist die einzige gesetzlich erlaubte Tötungsart". Grebe hielt dagegen: Boxen sei von "hohem erzieherischem Wert". Die Wege der beiden Mediziner hatten sich schon 1933 getrennt: Jokl war Jude. Er musste emigrieren, als Grebe seinen Aufstieg begann.
    Der Sport ist reich an derlei Abgründen. Eines der interessantesten Kapitel führt nach Freiburg. Dort ließ Herbert Reindell ab 1952 die vermutlich erste Doping-Dissertation anfertigen. Die Historiker teilen eher pauschal mit, Reindell habe "bereits zur Zeit des Nationalsozialismus" gewirkt, mit dem Weltrekordler Rudolf Harbig auch den populärsten deutschen Leichtathleten jener Zeit betreut. Nach dem Krieg habe er "die Freiburger Schule aufgebaut". Aus einem Briefwechsel schließt einer der Berliner Forscher auf eine "pädagogische Orientierung" Reindells in dieser Zeit. Leitmotiv sei das "Ideal einer ganzheitlichen Kultivierung des Menschseins" gewesen. Gefragt wird dann, wie es überhaupt zur späteren "Entgrenzung des Leistungsprinzips" kommen konnte. Angelika Uhlmann:
    "Also erst mal muss man das ja in Frage stellen, wie weit da pädagogische Fähigkeiten da waren. Und wenn man das gutwillig auslegt, dann muss man einfach sagen, dass die Tradition, in der die Sportmedizin steht, schon seit der Weimarer Republik – der ist einfach immanent, dass man eine Leistungssteigerung will mit allen Mitteln. Und deshalb ist das nicht verwunderlich. Da gab's keine Brüche. Das ist einfach ne Kontinuität, von einem System ins nächste."
    Die Freiburger Schule, verbindet man sie denn mit Reindell, beginnt sicher nicht mit der "Stunde Null". 1940 habilitierte sich Reindell im Breisgau mit einer Arbeit über das Sportlerherz – ein Begriff, den der Professor prägte. 1942 übernahm er die Leitung der Sportmedizin an der Universität. Reindell ist überdies – nach Heiss und Grebe – der dritte Mediziner mit NS-Vergangenheit, der es zum Präsidenten der Sportärzteschaft brachte. Ab 1963 amtierte er zwei volle Jahrzehnte. Oberster Olympiadoktor war er zwischen 1952 und 1972. Den massiven Personaltransfer erklärt Uhlmann so:
    "Das war einfach so ne Notwendigkeit: Wir brauchen wieder dieses Renommee, und Sport an sich kann ja nicht verkehrt sein. Das spielt bestimmt auch ein bisschen mit, dass man den als harmlos angesehen hat. Auf der politischen Seite haben die Amerikaner ja eigentlich sehr drauf geachtet, dass nicht wieder so ein Drill entsteht, aber über kurz oder lang ... das hat sich dann sehr schnell wieder verwässert. Teichler aus Potsdam hat das mal sehr schön genannt: Der Westen bekam das Personal und der Osten das System."
    Auf den Posten des leitenden Olympiaarztes rückte Reindells gelehrigster Schüler nach: Joseph Keul. Jener Mann, unter dem Freiburg zum Zentrum der neueren deutschen Dopingmedizin wurde. Keul verfasste 1999 selbst ein Werk namens "Geschichte der deutschen Sportmedizin". Den Nationalsozialismus streift er nur knapp:
    "In dem Buch steht drin, dass in der NS-Zeit die Sportmedizin brachlag, weil, die Sportmedizin ist so was Hehres und Gutes. Und deshalb hatten die nichts mit dem Nationalsozialismus zu tun. Punkt."