Michael Blume ist Religionswissenschaftler und Beauftragter der Landesregierung von Baden-Württemberg gegen Antisemitismus. Seit einigen Jahren befasst er sich auch mit Verschwörungsmythen und betreibt dazu den Podcast "Verschwörungsfragen".
Christian Röther: Herr Blume, Sie sprechen von Verschwörungsmythen, nicht von Verschwörungstheorien. Warum?
Michael Blume: Theorien sind wissenschaftliche Erklärungen. Und der Begriff "Verschwörungstheorien", der taucht im 18., 19. Jahrhundert auf und wird dann von Karl Popper geprägt, der genau davor warnt, dass eben Verschwörungstheorien keine wissenschaftlichen Theorien wären. Aber leider ist es heute so, dass sogar der Verschwörungsmythos unterwegs ist, der Begriff "Verschwörungstheorie", den habe der CIA entwickelt, um die Leute nach der Ermordung von John F. Kennedy zu unterdrücken.
Ich sage ganz klar: Es sind keine Theorien. Wer "Verschwörungstheorien" sagt, der geht den Leuten schon auf den Leim und denkt, man diskutiert über Wissenschaft. Ich plädiere deswegen dafür, ganz klar von Verschwörungsmythen zu sprechen.
"Gute und schlechte Mythen"
Röther: Mit dem Begriff haben Sie auch mich überzeugt. Ich spreche auch nur noch von Verschwörungsmythen und nicht mehr von Theorien. Allerdings bin ich auch ein bisschen ins Zweifeln gekommen, ob das der richtige Begriff ist. Weil Mythen, Mythos – das ist für mich vor allem positiv konnotiert. Wertet man diesen Verschwörungsquatsch nicht auf, wenn man ihn "Mythen" nennt?
Blume: Tatsächlich glaube ich, das ist so ein bisschen das Kernproblem, dass wir nämlich eigentlich denken: Denken ist etwas Positives, Glauben ist etwas Positives, Mythos ist etwas Positives. Und dann völlig verwirrt sind, wenn Menschen Böses denken, wenn sie an das Böse glauben, oder eben schwurbeln, also zum Beispiel alles, was auf der Welt geschieht, auf eine vermeintliche Verschwörung zurückführen. "Gib Gates keine Chance" ist ja so ein aktuell verbreitetes Muster dafür.
Und das ist, glaube ich, genau das Problem: Wir müssen uns leider klarmachen, dass wir Menschen zwar dazu geboren sind, zu glauben und zu denken, aber wir können auch daran glauben, dass böse Mächte die Welt beherrschen. Und wir können uns auch in Rassismus, Antisemitismus oder Frauenfeindlichkeit hineindenken. Und deswegen müssen wir auch beginnen, gute und schlechte Mythen zu unterscheiden, und da auch kritischer werden. Auch gegenüber dem, was wir selber glauben und zu wissen meinen.
"Eine umgedrehte Religion"
Röther: Mythen, die spielen ja auch in Religionen wichtige Rollen. Mit Religion ist dieser Begriff "Mythos" eigentlich am engsten verschränkt. Wenn jetzt Religionen und Verschwörungen beide auf Mythen basieren, was sind die dann? Sie haben das gerade auch schon angedeutet: Die sind irgendwie verwandt.
Blume: Schon 2015 hatte ich in einem Meinungsbeitrag dafür plädiert, dass wir endlich Verschwörungsglauben als religiöses Phänomen ernstnehmen. Also, Sie können sich das vorstellen wie eine umgedrehte Religion. In einer normalen gewachsenen Religion wird der Glaube an gute Mächte gelehrt: an Gottheiten, Engel.
Im Verschwörungsglauben wird gesagt: Die ganze Welt wird regiert von einer bösen Macht. Das sind dann meistens Juden und Freimaurer, Zionisten und Illuminaten. Darüber vielleicht Dämonen, Reptiloide. Und die kontrollieren angeblich alles. Das heißt, es funktioniert tatsächlich wie eine umgedrehte Religion. Verschwörungsgläubige glauben an die Weltherrschaft des Bösen, und sie deuten sich ihre ganze Welt damit.
Sie glauben, sie sind die Erwachten. Diejenigen, die den Durchblick haben, während alle anderen getäuscht würden. Das heißt, da geht es um Sinn und Gemeinschaft. Und Verschwörungsglauben ist ein religiöses Thema. Da geht es vielmehr um Seelsorge. Und das ist auch der Grund, warum man da häufig mit rationaler Argumentation, mit wissenschaftlichen Studien bei Verschwörungsgläubigen normalerweise überhaupt nicht weiterkommt.
"Der Teufel ist kein Gegengott"
Röther: Also: Religion gut, Verschwörung böse. Ich vermute mal, so einfach ist es dann aber doch nicht.
Blume: Tatsächlich haben wir natürlich in den meisten Religionen so eine Mischung. Also ein Dualismus, dass man zum Beispiel dann in Religionen lehrt: Es gibt den guten Gott, es gibt aber auch den bösen Teufel. Da ist dann auch ein Abkippen möglich. Also auch Religionen können dualistisch werden und können intolerant werden und können den Nicht-Glaubenden, den Andersglaubenden als Teil einer bösen Verschwörung deuten. Also es gibt natürlich alle möglichen Mischformen.
Gerade im Judentum war es so, dass nach der Zerstörung des zweiten Tempels das rabbinische Judentum da sehr selbstkritisch gewesen ist und den Monotheismus sehr deutlich ausgelegt hat und gesagt hat: Der Teufel ist kein Gegengott, der kann eigentlich gar nichts. Sondern der Kampf zwischen Gut und Böse, der findet in uns selber statt. Das ist schon mal eine ziemlich gute Sache, also wenn Religionen dann auch selbstkritisch ihre eigenen Mythen reflektieren und durchdenken.
Ich würde deswegen auch den Unterschied machen zwischen einem aufgeklärten Glauben, der mit Vernunft zusammengeht, oder eben einem emotionalen dualistischen Glauben, der dann auch selber zum Verschwörungsglauben werden kann. Wir Menschen sind eben nicht automatisch gut und aufgeklärt und glauben nur an das Gute, sondern wir können auch zu Verschwörungsmythologen und Verschwörungsgläubigen werden.
"Vom Judentum lernen"
Röther: Dann springen wir noch mal 2000 Jahre zurück zu der jüdischen Mystik, die Sie gerade angesprochen haben. Die empfehlen Sie in Ihrem Buch quasi als ein Gegenmittel gegen den Verschwörungsglauben. Und Sie haben ja eben auch schon gesagt: Bildung allein hilft nicht. Müssen wir also jetzt alle Mystikerinnen und Mystiker werden?
Blume: Also ich glaube tatsächlich, dass Menschen grundlegend unterschiedlich sind in ihren Bedürfnissen. Wir werden geboren mit unterschiedlichen Veranlagungen zu Musikalität, Kreativität, natürlich auch Spiritualität, Religiosität. Ich glaube nur, dass es unklug ist, die eigenen Bedürfnisse und auch die eigenen Sehnsüchte nach Sinn, Bedeutung, Gemeinschaft zu leugnen. Das wegzutun, lächerlich zu machen. Weil dann überlassen wir es den anderen.
Also eine Beheimatung im Universum, das würde ich schon sagen, die suchen Menschen in Religionen, in Weltanschauungen. Und wenn man das nicht ernstnimmt und sagt, es reicht, wenn Du viel Geld verdienst oder irgendwie Dich selbst optimierst, dann öffnen wir damit Tore für andere, die da eindringen können.
Das Judentum hat diese ganzen Entwicklungen eben durchlaufen. Also ich mache das gerne an der Klagemauer fest. An der Klagemauer in Jerusalem wird ja eben nicht die vermeintliche Weltverschwörung der Römer beklagt, die an allem schuld waren und die den Tempel zerstört haben, sondern es wird die eigene Schuld beklagt: Was haben wir falsch gemacht? Wo müssen wir uns ändern? Und inzwischen gehen da sogar auch Päpste hin.
Also das heißt: Nicht immer das Böse abzuspalten, auf andere zu projizieren und zu sagen, ich bin ja der Gute und die anderen sind die absolut Bösen, sondern sich auch selber immer wieder zu hinterfragen. Von Generationen zu Generation zu wachsen, das ist glaube ich etwas, was tatsächlich auch nicht-jüdische Religionen und Weltanschauungen vom Judentum lernen können.
Von "Platons Falle" zu Hitler
Röther: Als ich Ihr neues Buch "Verschwörungsmythen" aufgeschlagen habe, da war ich zunächst einmal überrascht, dass mir da ganz am Anfang Platon begegnet ist, der antike griechische Philosoph. Was hat Platon mit Verschwörungen zu tun?
Blume: Da hoffe ich auf eine lebendige Debatte, denn tatsächlich war der Arbeitstitel für das Buch sogar "Platons Falle". Ich vertrete die Auffassung, dass Deutschland nicht in den Nationalsozialismus gefallen ist, obwohl es das Land der Dichter und Denker war, sondern weil es das Land der Dichter und Denker war.
Wir haben nämlich in der europäischen Tradition und gerade auch in der deutschen Geistesgeschichte einen sehr starken Platonismus. Und Platon hat in seinem Höhlengleichnis einen Urverschwörungsmythos formuliert. Dass wir nämlich Gefangene in einer Höhle sind, dass all unsere Diskussionen und all unsere Erkenntnisse, Wissenschaft, Dialog und so weiter – das seien nur Schattenspiele, nur Täuschungen. Und es müsse ein starker Anführer kommen, ein starker Befreier, der uns auch mit Gewalt aus dieser Höhle herausschleppt in die Wirklichkeit.
Und ein Beispiel dafür ist Martin Heidegger, der als Theologe gestartet ist, der dann versucht hat, das Judentum aus dem Christentum abzuspalten. Das hat nicht geklappt. Er verlor seinen Glauben, wurde säkular, wurde Philosoph. Und nachher sein großes Werk "Sein und Zeit" ist meines Erachtens eine wunderbare, tiefsinnige, aber auch katastrophale Ausdeutung des platonischen Höhlengleichnisses. Hier haben wir einen Menschen, der sich gefangen fühlt im Sein, der die Zeit als Bedrängnis empfindet, und der auf einen starken Erlöser hofft.
Und schon 1931 schreibt er seinem Bruder: Hier, dieses Buch musst Du unbedingt lesen. Jetzt ist derjenige da, der uns befreien wird. Und das Buch, das er seinem Bruder empfiehlt, ist "Mein Kampf" von Adolf Hitler. Aus dem großen Philosophen, der selbst jüdische Lehrer hatte, jüdische Schüler, eine jüdische Geliebte hatte, wird ein glühender Antisemit. Und er schafft es den Rest seines Lebens nicht mehr, da rauszukommen. Also: Der Platonismus ist ein Erbe der europäischen Kultur, das eben auch große Untiefen hat in der Esoterik, in der Gnosis. Nicht jeder Platoniker und erst recht nicht jede Esoterikerin geht in so eine gefährliche Richtung, aber dass es da diese Untiefen gibt, darüber müssen wir dringend reden.
"Das Böse in uns selbst"
Röther: Jetzt hat man ja aber diesen Dualismus nicht nur bei Platon und vielleicht in der Philosophie, sondern - das haben Sie vorhin auch schon gesagt – auch in vielen Religionen ist das angelegt: das Gute und das Böse. Im Vaterunser, einem der zentralen Gebete des Christentums, heißt es: "und erlöse uns von dem Bösen!" Diese Aussage soll auf Jesus selbst zurückgehen. So ist es im Neuen Testament nachzulesen. Ist also auch Jesus in die "platonische Falle" getappt?
Blume: Ich würde es so verstehen, dass wir bei Jesus wie dann auch in der jüdischen Mystik ja eigentlich die Auseinandersetzung mit dem Bösen in uns selbst haben. Also bis hin dann, dass er sich selbst hingibt und den Tod am Kreuz erleidet und dann trotzdem noch sagt: "Vater, vergib ihnen! Sie wissen nicht, was sie tun." Also nicht die Anklage, nicht das Externalisieren des Bösen. Nicht zu sagen: Wir sind die Guten, die sind die Bösen - vernichtet Sie! Sondern umgekehrt eben immer zu sagen: Der Kampf zwischen Gut und Böse findet immer auch in mir selbst statt.
Dass wir das dann aber im Christentum – und gerade auch im christlichen Antisemitismus – auch hatten, dass dann also Leute gesagt haben: Wir sind die einzig wahre Kirche, und alle, die auch nur ein bisschen anders sind, die sind des Teufels – das steht glaube ich außer Frage.
Ich würde sagen, genau diese Auseinandersetzung haben wir doch letztendlich in allen Religionen. Ich habe neulich im Oberlandesgericht Frankfurt über den sogenannten Islamischen Staat ausgesagt, und auch in deren Theologie ist die absolute Unterscheidung zwischen Gläubiger und Ungläubiger drin. Und es gibt keine Zwischengrade mehr. Wer auch nur bezweifelt, dass jemand ein Ungläubiger ist, den der IS zum Ungläubigen ernannt hat, wird sofort selber zum Ungläubigen.
Also diese Auseinandersetzung, die haben wir in allen Religionen und Weltanschauungen. Ich will als letztes Beispiel vielleicht noch erwähnen: Schauen wir uns den Sozialismus an, wo sich dann später Stalinisten, Trotzkisten und so weiter gegenseitig an die Gurgel gegangen sind. Also genau diese urmenschliche Neigung, immer die anderen als die Bösen zu sehen. Und das ist, glaube ich, die ganz große Gefahr: Ein Verschwörungsmythos meint, die Bösen identifiziert zu haben und damit alles zu beantworten. Und damit macht er uns blind für das Böse in uns selbst.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Michael Blume: Verschwörungsmythen. Woher sie kommen, was sie anrichten, wie wir ihnen begegnen können.
Patmos , 160 Seiten, 15 Euro.
Patmos , 160 Seiten, 15 Euro.