'Vergleichende Analyse von Verschwörungstheorien' heißt das neue Netzwerk mit rund 60 Forschern aus 30 Ländern Europas, das Michael Butter, Professor für Amerikanistik an der Universität Tübingen, koordiniert. Er beschreibt zwei Arten von Verschwörungstheorien:
"Jemand hat den Verdacht, dass sich zwei andere Menschen entweder gegen ihn oder gegen eine dritte Person verabredet haben. Wenn wir das so definieren, finden wir Verschwörungstheorien in allen Zeiten, in allen Kulturen. Wenn wir es enger definieren oder stärker definieren, dann könnte man sagen: Verschwörungstheorien besagen, dass eine im Geheimen operierende Gruppe von Akteuren, nämlich die Verschwörer, dabei ist, die Kontrolle zu übernehmen über irgendeine Institution, einen Staat, manchmal sogar die ganze Welt oder diese Kontrolle schon längst übernommen hat und im Geheimen die Strippen zieht."
Verschwörungstheorie als Misstrauen gegenüber einer Gruppe
Den Verdacht, dass jemand 'Ränke schmiedet' oder etwas 'im Schilde führt', kennt man schon lange und: Der Verdacht kann berechtigt sein. Ihn zu untersuchen war lange Zeit eine Aufgabe der Wissenschaft, genau so wie sie hinter die Zusammenhänge der Natur zu kommen versuchte. Wie heute im Krimi entwickelte man schon früh aus den bekannten Fakten eine Theorie, die allerdings noch nicht Verschwörungstheorie hieß.
Die Historikerin Dr. Stefanie Mahrer arbeitet zur Zeit an der Universität Basel und am Franz Rosenzweig Zentrum der Hebräischen Universität in Jerusalem. Sie sieht ebenfalls zwei Funktionen:
"Einerseits kann man eine Gruppe von Menschen verunglimpfen, man kann sie verfolgen lassen dadurch. Aber man kann für sich selbst auch Unerklärbares dadurch erklärbar machen. Und dann hilft es, wenn man einen Schuldigen hat, den man in die Ecke stellen kann. Und für sich selbst hat man etwas erklärt, was man nicht erklären kann und sich auch nicht erklären will, würde ich sagen. Es wird dann so quasi religiös auch. Das übernimmt dann die Funktion der Religion, die ja lange Zeit die Welt erklärt hat.
Ausgrenzung kein neues Phänomen
Andersartige ausgrenzen und zum Sündenbock machen hat eine lange Tradition. Stefanie Mahrer:
"Der Antijudaismus richtet sich gegen das Judentum als Religion, nicht als Rasse, wie dann später, wobei das ja immer auch zusammen spielt, oder die Juden als Volk auch. Was auch schon mitspielt ganz früh ist, dass die Juden angeblich Jesus auf dem Gewissen hätten, dass sie ihn verraten hätten und so am Tod des Messias Schuld hätten und diesen Messias ja auch nicht als Messias anerkannt haben. Ich glaube, das ist so ein ganz wichtiger Punkt, der bei den späteren Verschwörungstheorien dann mitspielt."
Antijudaismus, Antisemitismus oder eine anti-israelische Einstellung könnten auf dieser Tradition beruhen. Das erschwert jede vernünftige Auseinandersetzung, weil Kritik, etwa an der Politik Israels, erstickt werden kann, wenn man sie als 'antijüdisch' oder als Verschwörungstheorie brandmarkt. Die negative Bedeutung des Wortes geht auf den Philosophen Karl Popper zurück, erklärt Michael Butter:
"Dieser moderne Gebrauch kommt erst nach dem Zweiten Weltkrieg auf und wird entscheidend geprägt durch Karl Popper in seinem Buch über die offene Gesellschaft und ihre Feinde, wo er nämlich von der Verschwörungstheorie der Gesellschaft schreibt.
Und er verwendet in dem Moment, in dem er diesen Begriff prägt, ihn schon negativ, weil er nämlich sagen will: Es gibt da diese Vulgärmarxisten, die haben Marx nicht richtig verstanden und die sehen nicht, wie der Kapitalismus funktioniert, dass da nämlich systemische Zwänge am Werk sind; sondern sie denken, dass es da eine Gruppe von Kapitalisten gibt, Individuen, die sich verabredet haben im Geheimen und jetzt ihre Ziele durchsetzen. Das heißt der Begriff ist von Anfang an negativ konnotiert."
Verschwörungstheorien als Religionsersatz
Dass Halbwissen die Unsicherheit eher erhöht, als mindert, leuchtet ein. Der Anhänger von Verschwörungstheorien sucht jedoch die Sicherheit, die Geborgenheit, die ihm früher die Religion gab. Deshalb werden Fakten, die seine Theorie stören, ausgeblendet.
Mitte des letzten Jahrhunderts ändert sich die Zielrichtung von Verschwörungstheorien weg von Minderheiten, Juden, Hexen, Zigeunern, Fremden hin zu Eliten, etwa Banken, Politik oder Medien.
Das Internet hat sowohl die Suche nach passenden Argumenten erleichtert, als auch deren Verbreitung. Stefanie Mahrer:
"Ich tipp jetzt was in mein Handy und egal wo auf der Welt, kann man das lesen. Es bringt auch Menschen zusammen, die wahrscheinlich vor dem Internet nicht unbedingt zusammen kommuniziert hätten, weil man sich einfach nicht kennt. Ich kann per Brief oder Telegramm mit jemandem kommunizieren, den ich kenne oder von dem ich weiß, dass er existiert. In Zeiten des Internets kann ich mit einer an sich anonymen Masse von Menschen kommunizieren, an die man wahrscheinlich aber so schnell nicht gekommen wäre vorher."
Das erklärt auch, weshalb es so scheint, als ob die Zahl der Verschwörungstheorien zunähme. Nur man weiß nicht. Das neue Forschungsnetzwerk versucht noch mehr zu ergründen. Michael Butter:
"Wir wissen einfach überhaupt noch nicht, welche Aspekte von Verschwörungstheorien zeit- und kulturlos sind, also immer auftreten und welche Aspekte vielleicht kultur- und zeitspezifisch sind, weil wir eben dieses große Bild noch nicht haben, weil die Puzzleteile sich noch nicht zusammenfügen.
Zum Anderen ist es auch sehr schwer bisher zu beurteilen in welchen Kontexten, bzw. welche Arten von Verschwörungstheorien denn vielleicht gefährlich und problematisch sind und welche vielleicht eher positive Funktionen erfüllen bzw. einigermaßen neutral und harmlos sind."
Wir gegen sie
In vier Jahren wollen die Forscher mehr darüber wissen, wie man mit Verschwörungstheorien umgehen sollte, was sie fördert und was sie bremst. In jedem Fall sind sie ein Warnzeichen. Michael Butter:
"Verschwörungstheorien lösen ein komplexes, soziales Gemengelage mit unterschiedlichen Akteuren und unterschiedlichen Motivationen auf in einen klaren Gegensatz zwischen denen da oben und wir hier unten; das Volk und den Mächtigen auf der anderen Seite und denen daher dann auch in gewisser Weise der sozialen Mobilisierung und den Protesten gegen diese Mächtigen. Man fühlt sich nicht mehr repräsentiert. Man hat das Gefühl, dass diejenigen da oben anderen Interessen und nicht mehr den Interessen des Volkes, deren Vertreter sie ja eigentlich sein sollen, dienen. Und deshalb muss man Verschwörungstheorien ernst nehmen, sie weisen uns auf Krisen der Demokratie hin."