Jasper Barenberg: Eine dramatische humanitäre Lage beklagte jüngst UN-Generalsekretär Antonio Guterres mit Blick auf das Leben der zwei Millionen Palästinenser im Gazastreifen, wo es nur wenige Stunden am Tag Strom gibt, wo die Wirtschaft am Boden liegt, drei Kriege der herrschenden Hamas mit Israel haben Gaza verwüstet. Israels Blockade setzt den Menschen außerdem zu. Die desolate Lage ist aber auch Folge des Machtkampfes mit der größeren Palästinenser-Organisation im Westjordanland, mit der Fatah von Palästinenser-Präsident Mahmud Abbas. Nach zehn Jahren nun bietet die radikal-islamische Hamas der Fatah an, die Verwaltung des Gazastreifens zu übernehmen.
Mitgehört hat Bettina Marx, die in Ramallah im Westjordanland das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung leitet. Einen schönen guten Morgen dorthin.
Bettina Marx: Guten Morgen.
Amerika und Israel sind nicht an Versöhnung interessiert
Barenberg: Frau Marx, in den letzten zehn Jahren hat es viele Versöhnungsversuche zwischen Hamas und Fatah gegeben. Sie sind alle gescheitert. Könnte dieser Erfolg haben?
Marx: Ja, in der Tat. Es gab so viele Versuche, zu einer Versöhnung zu kommen. Wenn man eine Timeline aufstellen würde, dann wäre das fast monatlich sozusagen. Ja, in diesem Falle könnte es gelingen, denn die beiden Lager, sowohl Fatah als auch Hamas, sind erschöpft, möchten auf jeden Fall eine Einigung erzielen. Auf der anderen Seite sind da vor allen Dingen die Menschen im Gazastreifen, die vollkommen deprimiert sind, verzweifelt sind über diese Lage, und die sich nichts anderes wünschen als eine Versöhnung. Was dagegen spricht ist die Weltlage, ist auch die Tatsache, dass der Präsident der Autonomiebehörde, Mahmud Abbas, im Moment in den Vereinigten Staaten ist, dort mit Präsident Trump zusammentreffen wird, vor der UNO sprechen wird, und er kann im Moment überhaupt keine Unruhe gebrauchen. Es wäre für ihn ein sehr schwieriges Zeichen zu signalisieren, dass er bereit ist, mit der Hamas eine gemeinsame Regierung zu bilden, denn die Hamas wird international als Terrororganisation angesehen, und das ist etwas, was er im Moment nicht brauchen kann. Von daher gehe ich davon aus, dass es noch eine Weile dauert, bis wir Erfolge sehen, wenn wir überhaupt Erfolge sehen werden.
Barenberg: Eine Einigung zwischen Fatah und Hamas ist dringend nötig, höre ich aus Ihren Worten. Aber bei Donald Trump zum Beispiel kann er damit nicht um bessere Unterstützung werben?
Marx: Ganz genau. Weder bei der amerikanischen, noch bei der israelischen Regierung wird diese Ankündigung, eine Einheitsregierung zu bilden, auf große Gegenliebe stoßen. In Israel hat man kein Interesse daran, dass die beiden Landesteile, die Westbank und der Gazastreifen, sich wieder einigen und wieder zusammenwachsen. Eigentlich lebt man in Israel ganz gut damit, dass diese beiden Landesteile getrennt sind, und es gibt Überlegungen, dass man den Gazastreifen dauerhaft Richtung Ägypten sozusagen schiebt und die Verantwortung für den Gazastreifen an Ägypten übergibt, um sich einfach dieser Last des Gazastreifens mit zwei Millionen Menschen, die dort unter sehr, sehr schweren, menschenunwürdigen Bedingungen leben, zu entledigen.
Bewaffnete Sicherheitskräfte der Hamas sind großer Streitpunkt
Barenberg: Jetzt haben wir in dem Beitrag gehört, dass die Kontrolle über die bewaffneten Sicherheitskräfte in Gaza eine große Hürde auf dem Weg zu einer Einigung sind. Ist das der entscheidende Punkt und auch der entscheidende Makel an dem Vorschlag der Hamas?
Marx: Das ist sicherlich einer der entscheidenden Punkte. Das ist schon ganz wichtig, denn die Autonomiebehörde in Ramallah kann das nicht dulden. Der Präsident, Mahmud Abbas, hat immer gesagt, es kann hier nur eine Autorität geben, es kann hier nur eine Armee geben, bewaffnete Sicherheitskräfte, nur unter der Führung einer Autorität. Das wird er nicht hinnehmen können, dass die Hamas mit ihren bewaffneten Milizen, aber auch die anderen kleinen Organisationen oder kleineren Organisationen im Gazastreifen wie der Islamische Dschihad, die dort alle Milizen unterhalten, dass diese Milizen weiter bestehen. Er verlangt natürlich, dass die Sicherheitskräfte der Autonomiebehörde dort die Herrschaft übernehmen, nicht nur die Grenzsicherung - das ist ein ganz wichtiger Punkt, damit Palästinenser den Gazastreifen endlich auch verlassen können -, sondern auch die Herrschaft sozusagen im Gazastreifen. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, auf den auch die Israelis und auch die Amerikaner natürlich mit Argusaugen schauen werden.
"Abbas ist innenpolitisch sehr angeschlagen"
Barenberg: Nun haben wir auch gelernt, dass Palästinenser-Chef Abbas geschwächt ist, dass ihm Korruption angekreidet wird, dass er keinen guten Stand im Westjordanland hat. Hat er denn die Macht, sagen wir, diesen kritischen Punkt zu erreichen, die Kontrolle über die Sicherheitskräfte in Gaza zu übernehmen und die Grenze zu schützen?
Marx: Diese Macht hat er nicht, wenn die Hamas ihm diese Macht nicht übergibt. Er hat überhaupt keine Möglichkeiten, irgendetwas im Gazastreifen gegen den Willen der dort herrschenden Hamas zu tun. Er braucht von ihnen die Kooperation und er braucht von der Hamas diese Zugeständnisse. Anders wird er sich hier nicht durchsetzen können. Er ist in der Tat innenpolitisch sehr angeschlagen. Man traut ihm sehr wenig zu. Er genießt einen sehr, sehr schlechten Ruf in der Bevölkerung, nicht nur wegen der Korruption, die man ihm zuschreibt, sondern auch wegen seines autoritären Regierungsstils. Er schränkt die Meinungsfreiheit im Westjordanland immer stärker ein. Aber das ist übrigens auch etwas, was die Menschen im Gazastreifen der Hamas vorwerfen. Die beiden Führungen der Palästinenser, die schenken sich hier nichts. Beide sind konfrontiert mit massiven Vorwürfen von Korruption, von Vorteilsnahme, aber auch mit den sehr massiven Vorwürfen, dass sie autoritär auftreten, Bewegungsfreiheit und Meinungsfreiheit einschränken.
"Die Verzweiflung sind sehr, sehr groß"
Barenberg: Die Kassam-Brigaden, wie sie genannt werden, diese bewaffneten Milizen im Gazastreifen haben ja bisher auch unabhängig von der Hamas-Führung agiert. Nun kann man sich kaum vorstellen, dass sich das ändern würde. Wie wäre denn ein Weg vorstellbar, dass von der Hamas oder diesen Milizen vielmehr keine weiteren Angriffe auf Israel ausgehen?
Marx: Ja, das ist in der Tat sehr, sehr schwierig. Das kommt sehr darauf an, wie die Bevölkerung das aufnehmen wird. Natürlich, auch diese Milizen leben in ihrer Bevölkerung und leben in dem Umfeld der Menschen im Gazastreifen und sind sich dessen bewusst, dass die Verzweiflung und die Frustration der Bevölkerung im Gazastreifen ausgesprochen groß ist. Sie werden nichts unternehmen, was gegen den Willen dieser Mehrheitsbevölkerung sprechen wird, wenn es dieser Mehrheitsbevölkerung gelingt, das deutlich zu machen. Die Verzweiflung ist sehr, sehr groß, aber auch der Zweifel, dass dieser Versöhnungskurs funktionieren kann. Ich habe gestern gesprochen mit verschiedenen Freunden im Gazastreifen und alle haben mir diese Einschätzung wiedergegeben, dass im Gazastreifen eigentlich niemand daran glaubt, dass das passieren kann - nicht nur, weil die Versöhnungsversuche immer gescheitert sind in den letzten Jahren, sondern weil die Menschen auch daran zweifeln, dass diejenigen, die die Macht in den Händen haben - und das ist im Gazastreifen die Hamas, aber das sind auch die anderen bewaffneten Milizen -, dass die bereit sein könnten, diese Macht abzugeben. Es geht nicht nur um Militanz und Waffen, es geht hier auch um wirtschaftliche Vorteile, denn auch im Gazastreifen herrscht inzwischen eine kleine Clique, die ganz gut leben kann von ihrer Herrschaft im Gazastreifen - im Unterschied zu der Bevölkerung, die ausgesprochen elend dort lebt.
Barenberg: Bettina Marx, sie leitet das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Ramallah im Westjordanland. Danke für Ihre Zeit heute Morgen.
Marx: Gerne.
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