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Versteinerte Geschichte zum Leben erweckt

George Enescu hat an seiner einzigen Oper 17 Jahre lang gearbeitet. "Oedipe" gilt als sein wichtigstes Werk und wurde 1936 in Paris uraufgeführt. Unter der Regie von Àlex Ollé hat Enescus Sicht auf den Ödipus-Mythos nun den Weg ins Brüsseler Théâtre de la Monnaie gefunden.

Von Christoph Schmitz |
    In die Tiefen der Geschichte greift Regisseur Àlex Ollé zurück. Zu den mythologischen und historischen Panoramen, wie sie in Stein gemeißelte Friese antiker Heiligtümer zeigen oder in Bronze gegossene Portalreliefs an Palästen, Kathedralen und Batisterien. Das ganze Personal um König Ödipus, seinen Vater Laios, seine Mutter und Frau Iokaste, Kreon und Tiresias, der blinde Seher, und all die Soldaten und Untertanen – dicht gedrängt stehen sie zu Beginn der Oper auf vier Etagen übereinander im Bühnenvordergrund. Allerdings nicht in hellen Marmor gemeißelt, sondern in erdbraunen Ton gebrannt, wie Tonfiguren im Setzkasten. Ollé erweckt die versteinerte Geschichte um Schicksal, Vatermord, Mutterliebe, Reue und Erlösung zum Leben. Die Figuren beginnen sich zu bewegen und machen sich auf ihren von finsteren Himmelsmächten vorbestimmten Weg. Vom Licht der Freiheit ist der aus Lehm geformte Mensch noch weit entfernt, der Götterfunke Freude nirgends sichtbar.

    Àlex Ollé und Bühnenbildner Alfons Flores vom katalanischen Theaterkombinat La Fura dels baus haben auf deren übliche futuristische Technikopulenz vollständig verzichtet. Mit ihrer erdfarbenen Archaik eröffnen sie dafür ein weites Assoziationsspektrum. Von giftigen Schlammlawinen überrollte Städte kommen einem in den Sinn, die Erdkruste aufsprengender Tagebau, vom Krieg zerstörte Landschaften. Die dort hineingesetzten Zeichen der Moderne wollen dabei nicht aktualisieren, sondern zeigen, wie tief die Gegenwart noch in der Vergangenheit steckt. Ödipus erschlägt den in einem Militärjeep heranrasenden König Laios. Die Sphinx vor dem siebentorigen Theben hat sich mit einem Weltkriegsstuka im Sturzflug über die Stadt hergemacht. Die Düsternis der Geschichte, das Unheimliche, Brutale und Unausweichliche hat der rumänische Komponist George Enescu zum musikalischen Kern seiner Oper geformt.

    Das Lachen der Sphinx lehrt Ödipus das Grauen. Von der Lyrik französischer Musik, vom Funkeln des Impressionismus hat der in Frankreich als Geigenwunderkind zu Weltruhm geführte Enescu nichts übernommen. Seine großsymphonische Überwältigungsrhetorik klingt eher nach Wagner. Allerdings hat er die Avantgarde der 1920er und 30er-Jahre und rumänische Folklore in die Wagner-DNA hineingemendelt und das mit spektakulären Effekten. Unter der musikalischen Leitung von Leo Hussain spielte bei der Premiere das Orchester der Monnaie die ganze Wucht, die vielfach verschlungenen Motive, die oft extrem angeraute Textur kraftvoll aus. Wobei ein wenig Zurückhaltung hier und da den Sängern ganz gut getan hätte. Die mussten ordentlich rudern, um in der Klangflut nicht zu ertrinken. Aber sie stemmten ihre Partien mit stimmlicher und mimischer Hingabe, erschütternd im Leiden ihrer Figuren, wie Dietrich Henschel als Ödipus oder Jan-Hendrik Rootering als Tiresias.

    Als Ödipus mit den Worten des Sehers erkennt, was er getan hat, obwohl er gerade diesem Schicksal hatte entgehen wollen, sticht er sich die Augen aus und zieht in die Welt. Vor den Toren des antiken Athens unter der weisen, vernunftorientierten und menschlichen Herrschaft des Theseus angekommen, weigert sich Ödipus nach Theben zurückzukehren. Er will sein Leben selbst bestimmen. Die weiß gekleideten Athener nehmen ihn auf. Vom Bühnenhimmel rieselt frisches Quellwasser. Und Ödipus wäscht sich Staub und Erde vom Leib. Szenisch und musikalisch hat die Brüsseler Oper wieder einmal überzeugt.