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Versuch, da zu sein

Johanna Walsers "Versuch, da zu sein" ist ein Mosaik aus Prosastücken, geschrieben in einer Sprache von lyrischer Dichte und befreiender Leichtigkeit. Dieser "Versuch, da zu sein", im wahrhaftigen Augenblick zu leben, ist nach der Erfahrung der Autorin nur in einer unzeitgemäßen Empfindsamkeit möglich. In ihren Texten zeigt sie eine höchst sensible Offenheit für das, was ihr widerfährt. Gerade diese Durchlässigkeit für Menschen und Welt macht sie verletzbar und fordert nach einem angemessenen Abstand. Nur so kann sie dem Dasein in der ihr gemäßen Weise begegnen. Im Prosastück, das dem Buch den Titel gab, schreibt sie: "Ich sehne mich nach Abstand. Alles ist zu nah. Ich möchte die Zwischenräume zwischen mir und den anderen dehnen. Dachte sie. Redete einen Abend lang mit der Schwester, dem Freund, der Freundin, den Eltern, dann war sie wieder allein, obwohl natürlich nicht ganz allein. Sie ging in Gedanken und Vorstellungen um, mit Empfindungen, mit Stimmungen, mit Büchern, mit Musik, mit den Bäumen vor ihrem Fenster, mit der Sonne, mit dem Licht, mit allem, was sie sah, hörte, las. Sie liebte Hölderlin und Aljoscha Karamasow. War an Abwesende gebunden: (nämlich an die Eltern und den Freund). ‘Abstand’, sagte sie, ‘ich brauche Abstand’. Überlegungen, wie sie den Abstand zwischen sich und den anderen vergrößern könne, beanspruchten sie sehr."

Jürgen Wolf |
    Hölderlin und Aljoscha Karamasow sind für den "Versuch, da zu sein" Leitfiguren. Hölderlin wagte trotz aller Bedrohungen von der Außenwelt den Traum eines harmonischen Lebens im Einklang mit der Natur. Aljoscha, der jüngste der Karamasow-Brüder in Dostojewskis Roman, ist umgeben vom Chaos, das sein Vater und seine Brüder verursachen. Gegen alle Tatsachen und mit einer jesusähnlichen Reinheit glaubt er jedoch an das Gute im Menschen und in der Welt. Auch Johanna Walser hält fest am Guten, trotz - oder vielleicht gerade wegen - der übermächtigen Tatsachen der Geschichte unseres Jahrhunderts. Sie ist davon überzeugt, daß jeder den persönlichen Spielraum habe, das Gute und damit eine positive Zukunft zu wählen.

    In dem kurzen Stück mit dem Titel "Der Nörgler" formuliert sie in aller Klarheit ihr eigenes Bekenntnis. "Manchmal besuchte er mich, ein alles herunterputzender Geist, ein Nörgler, wollte mir erklären, nichts sei bedeutend. Alles beschrieb er so, wie ich es nicht beschreiben wollte. Wir unterschieden uns in allem. Er hat das Negative, ich das Positive gewählt. Was für mich gut, vollkommen war, die ganze Natur in allen Menschen und Lebewesen und Dingen, war für ihn schlecht, unvollkommen. So konnten wir uns nie verständigen. Ab und zu sprach nur noch er, ein Negatives nach dem anderen stellte er vor. Ich hatte keine Lust, Widersprecherin vom Dienst zu spielen. Nie bekam er genug, mir seine negativen Schöpfungen vorzustellen.

    Ihre Texte haben eine verborgene religöse Dimension. Das Gute, das Positive, die Präsenz der Natur lassen den "Versuch, da zu sein" glücken. Wie die französische Philosophin Simone Weil so setzt auch Johanna Walser das Gute gleich mit Gott. Und immer wieder beschreibt sie die Erscheinungen der Natur. Ganz bei den Dingen bleibt sie dabei, und dennoch verweisen ihre Worte und Sätze auf das Übersinnliche, das Licht, Wolken und Pflanzen im Diesseits repräsentieren.

    Licht und Schatten spielen, können sich jeden Moment, an jeder Stelle, jeder Ufer- und Seeseite verändern. Glanz fällt über den See, vergeht, Wolke ruhend im Licht. Weit überblickt man See, Landschaft, wenn nicht Nebel unsere Blicke überall an Lichtwände stoßen läßt. Wo nichts zu sein scheint, öffnet sich etwas.

    Der positive, der bejahende Blick nimmt in Johanna Walsers Poetik eine zentrale Position ein. Im besten Falle schafft es Literatur, die Kraft, die der Autor seinem Werk gegeben hat, auf den Leser zu übertragen. Die positive Kraft der schriftstellerischen Arbeit ist das wichtigste Element in einem Text. Der Gegenstand, die eigentliche Geschichte tritt in den Hintergrund.

    Simone Weil, die in vielem eine ältere Schwester von Johanna Walser sein könnte, schreibt im gerade erschienenen vierten Band ihrer "Cahiers", nichts sei weniger kindisch als ein kleines Kind. In diesem Sinne sind viele der Prosastücke im "Versuch, da zu sein" kindlich, ja, im besten Sinne naiv. Ihr vornehmlich positiver Blick auf das Schöne in der Welt hat seine Wurzeln in einer Kindheitsepoche des Bewußtseins. In ihm befindet sich alles noch im Zustand der Unschuld. Vielleicht war ja Heinrich Seuse, jener mystische Schriftsteller des Mittelalters, dessen Figur nur wenige Kilometer von Johanna Walsers Wohnort entfernt auf dem Marktplatz von Überlingen steht, mit seiner bedingungslos liebenden Zuwendung an alles Existierende ein richtungweisender Vorgänger.

    Mit den klaren Bildern ihrer lyrischen Prosa und dem anscheinend reinen Blick auf das ästhetisch Schöne sind Johanna Walsers Texte nicht gerade zeitgemäß. Und trotz allem bieten sie konkrete Möglichkeiten, die den Raum für eine bessere Zukunft offen halten.