30 Jahre war Hubert Bruchmüller alt, da sagte ihm der Arzt bei der Reservistenuntersuchung in Gommern bei Magdeburg: Sie haben gefährliche Herzrhythmusstörungen. Der Elektromeister bekam vorbeugende Tabletten, aber die Unsicherheit blieb: die Angst vor einem plötzlichen Herzversagen. Da gab es auf einmal neue Hoffnung.
"Vom Hausarzt ist mir gesagt worden, dass 1989 ein neues Medikament zur Verfügung stehen würde, das aber nicht ambulant verabreicht werden würde, sondern ich müsste da nach Lostau in die Lungenklinik, und dort würde das stationär gemacht, weil gleichzeitig Untersuchungen durchgeführt werden."
Ungewöhnlich. Ungewöhnlich auch die Verpackung der Pillen. Sie kamen in einer Pappschachtel ohne Produktnamen:
"Da stand nur drauf Sandoz, Patient Nummer 30, auf meiner Packung, die ich hatte und Phase drei. Mehr stand da nicht drauf."
Die Sandoz AG sitzt in der Schweiz. Die Tabletten gehörten zu einer klinischen Studie. Der Blutdrucksenker Spirapril sollte bei Patienten mit Herzproblemen erprobt werden. Einen Teil der Probanden ließ das Schweizer Unternehmen in der DDR rekrutieren. Durchaus üblich bei Pharmafirmen im deutschsprachigen Raum. Die ersten Kontakte mit der DDR-Führung gab es schon in den Siebzigern, erklärt Volker Hess, Professor für die Geschichte der Medizin an der Berliner Charité.
"In den 80er-Jahren wird das ganze System kommerziell ausgebaut. Soweit wir das bisher wissen, wird das von der Kommerziellen Koordination übernommen, das heißt, das ist Teil der Devisenbewirtschaftung. Die DDR hat zu der Zeit erkannt, dass sich damit Devisen schaufeln lassen oder Devisen machen lassen, und das war der wesentliche Grund, dass das ausgebaut wird."
Der MDR hat recherchiert, dass mehr als fünfzig Firmen diese Möglichkeit nutzten, nicht nur Sandoz, sondern zum Beispiel auch Höchst, Bayer, Schering oder Boehringer Ingelheim. Diese Firmen überwiesen pro Patient zwischen mehreren Hundert und einigen Tausend Westmark nach Berlin-Ost, insgesamt waren es wohl mehrere Millionen. In den Akten finden sich Berichte über schwere Nebenwirkungen und auch Todesfälle. Trotzdem sagt Volker Hess:
"Diese Arzneimittelversuche insgesamt werden glaube ich unnötig skandalisiert."
Todesfälle sind bei klinischen Studien nicht ungewöhnlich, vor allem weil es oft um die Behandlung sehr kranker Patienten geht. Es ist deshalb schwer nachzuweisen, dass tatsächlich das Testmedikament verantwortlich ist. Trotzdem sind einige Angehörige von verstorbenen Versuchsteilnehmern vor Gericht gegangen. Die Arzneimittelhersteller verweisen allerdings darauf, dass die Studien allen damals gültigen Standards entsprochen hätten und mit gleichem Design parallel meist auch in Westdeutschland gelaufen seien. Zudem sind die meisten der Medikamente inzwischen zugelassen und werden breit eingesetzt.
Die Pharmaunternehmen gingen ohnehin nicht in die DDR, weil dort die Hürden für die Versuche niedriger lagen. Die Motive waren wohl simpler: Die DDR lag in der Nähe, es gab keine Sprachprobleme, die Kosten waren etwas niedriger. Und vor allem: Die Firmen mussten nicht mit Dutzenden einzelner Klinken verhandeln, sondern hatten einen zentralen Ansprechpartner in Ostberlin, betont Volker Hess.
"Wenn dann die Tinte unter dem Vertrag trocken ist, dann geht das seinen geregelten Gang. Das heißt, das wird angeordnet, das wird von den Krankenhäusern sozusagen im Zuge eines mal sehr überspitzt Fünfjahresplanes, genauso wird das dann in den Kliniken durchgeführt und die Protokolle geschrieben und abgeliefert, wie andere Dinge auch."
Vorher hatte aber der in der DDR zuständige Zentrale Gutachterausschuss die Studie geprüft und darin saßen vor allem Ärzte.
"Man muss an der Stelle klipp und klar sagen, dass das Arzneimittelgesetz der DDR auf dem Papier, zumindest auf dem Papier deutlich schärfer war, als das westdeutsche Arzneimittelrecht zur gleichen Zeit."
Manches stand aber vermutlich nur auf dem Papier. So war etwa, genau wie im Westen, eine umfassende Aufklärung der Patienten vorgeschrieben. Hubert Bruchmüller kann sich allerdings nur an eine politische Ansprache erinnern.
"Wir die DDR versprechen Ihnen, dass bei erfolgreicher Anwendung dieses Medikament auch weiterhin zur Verfügung stehen wird, wenn das eben erfolgreich ist."
Das klingt zwar nach der Erprobung eines neuen Medikamentes. Aber dass er zum Beispiel auch ein Scheinmedikament bekommen könnte, davon erfuhr Hubert Bruchmüller nichts, er unterschrieb auch keine Einverständniserklärung.
"Uns wurde nicht gesagt, dass es eine Versuchsreihe ist. Ich sehe das eigentlich als Vertrauensbruch an, denn der Patient oder der Mensch an sich hat ja einfach ein Vertrauen zur Ärzteschaft."
"Wir sind in den 1980er-Jahren, das sollte man nicht vergessen. Und ich bin mir nicht sicher, wenn wir den Materialien nachgehen von Arzneimittelversuchen in Westdeutschland oder in der Schweiz, dass wir dort lückenlose Dokumentation der Aufklärung finden. Wir wissen nicht, ob und wie die Patienten aufgeklärt worden sind, auch das ist wieder die Frage der Forschung, das wollen wir rauskriegen."
Das Thema interessiert nicht nur Medizinhistoriker, sondern auch die Politik. So forderte unter anderem der Ost-Beauftragte der Bundesregierung, Christoph Bergner, umfassende Aufklärung und schließt selbst Entschädigungen und strafrechtliche Konsequenzen nicht aus. Für Volker Hess ist allerdings der zentrale Punkt weniger das Vorgehen der Pharmaunternehmen, als der Umgang der DDR-Regierung mit ihren Bürgern.
"Ein Staat, der sich auf die Fahne schreibt, ein sozialistisches Gesundheitswesen aufzubauen und sich auf die Fahne schreibt, medizinische Versorgung für alle und dann seine Bürger an das feindliche, nicht sozialistische Ausland für Arzneimittelversuche verkauft, da liegt das moralische Problem."
"Vom Hausarzt ist mir gesagt worden, dass 1989 ein neues Medikament zur Verfügung stehen würde, das aber nicht ambulant verabreicht werden würde, sondern ich müsste da nach Lostau in die Lungenklinik, und dort würde das stationär gemacht, weil gleichzeitig Untersuchungen durchgeführt werden."
Ungewöhnlich. Ungewöhnlich auch die Verpackung der Pillen. Sie kamen in einer Pappschachtel ohne Produktnamen:
"Da stand nur drauf Sandoz, Patient Nummer 30, auf meiner Packung, die ich hatte und Phase drei. Mehr stand da nicht drauf."
Die Sandoz AG sitzt in der Schweiz. Die Tabletten gehörten zu einer klinischen Studie. Der Blutdrucksenker Spirapril sollte bei Patienten mit Herzproblemen erprobt werden. Einen Teil der Probanden ließ das Schweizer Unternehmen in der DDR rekrutieren. Durchaus üblich bei Pharmafirmen im deutschsprachigen Raum. Die ersten Kontakte mit der DDR-Führung gab es schon in den Siebzigern, erklärt Volker Hess, Professor für die Geschichte der Medizin an der Berliner Charité.
"In den 80er-Jahren wird das ganze System kommerziell ausgebaut. Soweit wir das bisher wissen, wird das von der Kommerziellen Koordination übernommen, das heißt, das ist Teil der Devisenbewirtschaftung. Die DDR hat zu der Zeit erkannt, dass sich damit Devisen schaufeln lassen oder Devisen machen lassen, und das war der wesentliche Grund, dass das ausgebaut wird."
Der MDR hat recherchiert, dass mehr als fünfzig Firmen diese Möglichkeit nutzten, nicht nur Sandoz, sondern zum Beispiel auch Höchst, Bayer, Schering oder Boehringer Ingelheim. Diese Firmen überwiesen pro Patient zwischen mehreren Hundert und einigen Tausend Westmark nach Berlin-Ost, insgesamt waren es wohl mehrere Millionen. In den Akten finden sich Berichte über schwere Nebenwirkungen und auch Todesfälle. Trotzdem sagt Volker Hess:
"Diese Arzneimittelversuche insgesamt werden glaube ich unnötig skandalisiert."
Todesfälle sind bei klinischen Studien nicht ungewöhnlich, vor allem weil es oft um die Behandlung sehr kranker Patienten geht. Es ist deshalb schwer nachzuweisen, dass tatsächlich das Testmedikament verantwortlich ist. Trotzdem sind einige Angehörige von verstorbenen Versuchsteilnehmern vor Gericht gegangen. Die Arzneimittelhersteller verweisen allerdings darauf, dass die Studien allen damals gültigen Standards entsprochen hätten und mit gleichem Design parallel meist auch in Westdeutschland gelaufen seien. Zudem sind die meisten der Medikamente inzwischen zugelassen und werden breit eingesetzt.
Die Pharmaunternehmen gingen ohnehin nicht in die DDR, weil dort die Hürden für die Versuche niedriger lagen. Die Motive waren wohl simpler: Die DDR lag in der Nähe, es gab keine Sprachprobleme, die Kosten waren etwas niedriger. Und vor allem: Die Firmen mussten nicht mit Dutzenden einzelner Klinken verhandeln, sondern hatten einen zentralen Ansprechpartner in Ostberlin, betont Volker Hess.
"Wenn dann die Tinte unter dem Vertrag trocken ist, dann geht das seinen geregelten Gang. Das heißt, das wird angeordnet, das wird von den Krankenhäusern sozusagen im Zuge eines mal sehr überspitzt Fünfjahresplanes, genauso wird das dann in den Kliniken durchgeführt und die Protokolle geschrieben und abgeliefert, wie andere Dinge auch."
Vorher hatte aber der in der DDR zuständige Zentrale Gutachterausschuss die Studie geprüft und darin saßen vor allem Ärzte.
"Man muss an der Stelle klipp und klar sagen, dass das Arzneimittelgesetz der DDR auf dem Papier, zumindest auf dem Papier deutlich schärfer war, als das westdeutsche Arzneimittelrecht zur gleichen Zeit."
Manches stand aber vermutlich nur auf dem Papier. So war etwa, genau wie im Westen, eine umfassende Aufklärung der Patienten vorgeschrieben. Hubert Bruchmüller kann sich allerdings nur an eine politische Ansprache erinnern.
"Wir die DDR versprechen Ihnen, dass bei erfolgreicher Anwendung dieses Medikament auch weiterhin zur Verfügung stehen wird, wenn das eben erfolgreich ist."
Das klingt zwar nach der Erprobung eines neuen Medikamentes. Aber dass er zum Beispiel auch ein Scheinmedikament bekommen könnte, davon erfuhr Hubert Bruchmüller nichts, er unterschrieb auch keine Einverständniserklärung.
"Uns wurde nicht gesagt, dass es eine Versuchsreihe ist. Ich sehe das eigentlich als Vertrauensbruch an, denn der Patient oder der Mensch an sich hat ja einfach ein Vertrauen zur Ärzteschaft."
"Wir sind in den 1980er-Jahren, das sollte man nicht vergessen. Und ich bin mir nicht sicher, wenn wir den Materialien nachgehen von Arzneimittelversuchen in Westdeutschland oder in der Schweiz, dass wir dort lückenlose Dokumentation der Aufklärung finden. Wir wissen nicht, ob und wie die Patienten aufgeklärt worden sind, auch das ist wieder die Frage der Forschung, das wollen wir rauskriegen."
Das Thema interessiert nicht nur Medizinhistoriker, sondern auch die Politik. So forderte unter anderem der Ost-Beauftragte der Bundesregierung, Christoph Bergner, umfassende Aufklärung und schließt selbst Entschädigungen und strafrechtliche Konsequenzen nicht aus. Für Volker Hess ist allerdings der zentrale Punkt weniger das Vorgehen der Pharmaunternehmen, als der Umgang der DDR-Regierung mit ihren Bürgern.
"Ein Staat, der sich auf die Fahne schreibt, ein sozialistisches Gesundheitswesen aufzubauen und sich auf die Fahne schreibt, medizinische Versorgung für alle und dann seine Bürger an das feindliche, nicht sozialistische Ausland für Arzneimittelversuche verkauft, da liegt das moralische Problem."