In Afghanistan rücken die Islamisten der Taliban seit dem Abzug der internationalen Truppen dort immer weiter vor. Das Bundesinnenministerium hat jetzt entschieden, Abschiebungen nach Afghanistan auszusetzen. Angesichts der instabilen Sicherheitslage wächst auch die Kritik am Umgang Deutschlands mit den ehemaligen afghanischen Mitarbeitern der Bundeswehr. Um sie und ihre Familien vor möglichen Racheakten der radikalislamischen Taliban zu schützen, hat die Bundesregierung bereits rund 1.700 der Ortskräfte und ihre Angehörigen nach Deutschland geholt. Insgesamt geht es aber um mehr als 4.000 Menschen. Die weiteren Ausreiseverfahren ziehen sich in die Länge.
Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) sagte im Deutschlandfunk, für die Ortskräfte, die seit 2013 bei der Bundeswehr beschäftigt waren, gebe es das "ganz klare Commitment, dass die rauskommen". Ein Engpass sei aber, dass die afghanische Seite die Menschen nur aus dem Land lasse, wenn sie einen afghanischen Reisepass hätten. Das Auswärtige Amt versuche die afghanische Regierung von dieser Praxis abzubringen.
Die letzten in Afghanistan stationierten Bundeswehrsoldaten waren Ende Juni nach Deutschland zurückgekehrt. Die Aufträge, die die Bundeswehr vom Parlament erhalten habe, hat sie nach Ansicht der Bundesverteidigungsministerin erfüllt. Während des 20 Jahre dauernden Einsatzes sei kein Terrorismus aus Afghanistan exportiert worden. Es sei aber nicht gelungen, aus Afghanistan ein anderes Land zu machen, es nachhaltig positiv zu verändern. Diese Zielsetzung sei wenig nachhaltig gewesen, sagte Kramp-Karrenbauer. "Das muss uns lehren für weitere Auslandseinsätze, unsere Ziele sehr realistisch zu betrachten und sehr genau zu kommunizieren, was erreichbar ist und was nicht."
Das Interview im Wortlaut:
Jörg Münchenberg: Die Taliban verbuchen derzeit einen Sieg nach dem anderen. Afghanistan steht kurz vor dem Fall. Oder kommen Sie zu einer anderen Einschätzung?
Annegret Kramp-Karrenbauer: Das sind zumindest die Meldungen, die uns erreichen. Man muss immer noch mal sehr genau hinschauen, ob jede Meldung sich auch in der Realität wirklich so darstellt. Trotzdem kann man sicherlich festhalten: Die Taliban machen sehr schnell sehr große Raumgewinne. Deswegen sind das auch sehr, sehr bittere Bilder, gerade mit Blick auch auf unseren Einsatz in den vergangenen 20 Jahren.
Münchenberg: Von US-Geheimdiensten heißt es, es könne in 90 Tagen schon so weit sein, dass Kabul eingenommen wird.
Kramp-Karrenbauer: Es gibt sehr unterschiedliche Analysen auch der Sicherheitskräfte. Das geht von diesem, sicherlich Worst Case Szenario aus bis hin zu Szenarien, in denen die Taliban von einem Sturm auf Kabul absehen, weil sie eine andere Strategie verfolgen. Es ist im Moment schwer abschließend zu beurteilen, welche Haltung sich bei den Taliban selbst durchsetzt, denn auch die sind kein monolithischer Block, sondern bestehen aus unterschiedlichen Strömungen.
"Es gibt Unterstützung der afghanischen Kräfte"
Münchenberg: Ist das denn jetzt alles nur noch eine Angelegenheit der afghanischen Regierungstruppen? Was ist mit militärischer Unterstützung durch das Ausland, von USA oder auch NATO?
Kramp-Karrenbauer: Es gibt Unterstützung der afghanischen Kräfte – alleine dadurch, dass die Finanzierung der Kräfte weiter vom Ausland, von uns, von der amerikanischen Seite, aber auch von anderen NATO-Ländern, auch von Deutschland, mit unternommen wird. Es gibt Trainingsmissionen. Aber man muss ganz offen sagen: Im Moment geht es sicherlich für die afghanischen Kräfte nicht um Ausbildung und Training, sondern im Moment stehen sie in der harten Auseinandersetzung. Und da gehört es zur Realität dazu, dass die militärische Unterstützung der internationalen Kräfte natürlich durch den Rückzug all dieser Truppen sehr nachgelassen hat. Und auch die Amerikaner bis hin zum Sprecher des US-Präsidenten haben erklärt, dass sie ihren Einsatz in diesem Monat noch beenden wollen.
Münchenberg: Trotzdem noch mal die Frage: Es geht jetzt nicht um eine Rückkehr dieser Truppen nach Afghanistan. Es geht ja um militärische Unterstützung, zum Beispiel Luftangriffe. Ist das nicht auch im ureigensten Interesse des Westens, der sich ja so stark in Afghanistan engagiert hat?
Kramp-Karrenbauer: Auch hier rate ich dazu, sich sehr genau zu betrachten, welche Möglichkeiten es gibt. Es gibt ja auch eine Unterstützung und hat sie auch gegeben der amerikanischen Seite etwa für Luftangriffe. Aber auch Luftangriffe verlangen eine genaue Koordinierung vom Boden her, weil man ansonsten in Kauf nimmt, dass es sehr viele unkontrollierte zivile Opfer gibt. Deswegen geht das nur in Zusammenarbeit mit den afghanischen Kräften und das wird an der einen oder anderen Stelle gemacht. Aber auch hier sind insbesondere von den Fähigkeiten die Amerikaner im Lead und auch dazu haben sie sich entsprechend verhalten.
"Die Bundeswehr hat ihre Aufträge erfüllt"
Münchenberg: Die Frage ist am Ende, Frau Ministerin: War es das wert? War es den Einsatz der internationalen Truppen wert, bei dem ja auch 59 Bundeswehrsoldaten ums Leben gekommen sind, wenn man jetzt sieht, dass die Taliban quasi alle Zeit wieder zurückdrehen?
Kramp-Karrenbauer: Das ist eine Frage, die man in dieser Pauschalität nicht mit Ja oder Nein beantworten kann. Für die Bundeswehr kann ich feststellen, dass sie die Aufträge, die sie vom Parlament erhalten hat, erfüllt hat, dass sie sicherlich auch in den kämpferischen Auseinandersetzungen bestanden hat. Was gelungen ist, ist sicherlich, dass in diesen 20 Jahren kein Terrorismus, wie das vorher der Fall war, aus Afghanistan exportiert worden ist. Es ist eine Generation sicherlich auch in einem anderen Land groß geworden, als das vorher der Fall war. Was nicht gelungen ist – das gehört zur Realität und zur Betrachtung hinzu – ist unser Ziel, aus Afghanistan ein anderes Land zu machen, es nachhaltig positiv zu wenden. Man sieht jetzt, wie wenig nachhaltig an der einen oder anderen Stelle diese Zielsetzung war, und das muss uns lehren für weitere Auslandseinsätze, unsere Ziele sehr realistisch zu betrachten und sehr genau zu kommunizieren, was erreichbar ist und was nicht.
"Widerstand ist da"
Münchenberg: Sie sagen, da ist eine Generation in Freiheit aufgewachsen. Auf der anderen Seite, wenn man sich jetzt die Meldungen anschaut: Da werden Richterinnen auf offener Straße erschossen. Es gibt Gräueltaten. Ein bekannter Comedian ist auch umgebracht worden. Was bleibt von den Freiheiten, wenn jetzt die Taliban so radikal gegen das eigene Volk wieder vorgehen?
Kramp-Karrenbauer: Das ist noch nicht entschieden. Im Übrigen: Dieser Terrorismus mit gezielten Tötungen ist etwas, was wir nicht erst jetzt sehen, sondern leider schon seit einer geraumen Zeit. Und das ist auch ein Kern der Auseinandersetzung der unterschiedlichen afghanischen Kräfte. Man darf ja nicht übersehen, dass es nicht nur die Taliban gibt, sondern es gibt auch die anderen Gruppen. Das ist ja der Kern der Auseinandersetzung seit vielen Jahren. Diese Kräfte wehren sich. Was im Moment sehr schwer abzuschätzen ist, ist, wie ihre Chancen sind, wie resilient dieser Widerstand auch ist. Aber den Widerstand gibt es und er ist da.
"Klares Commitment", dass die Ortskräfte rauskommen
Münchenberg: Kommen wir auf die Ortskräfte der Bundeswehr zu sprechen. Da steht der Vorwurf ganz klar im Raum, die Bundesregierung lasse diese Menschen im Stich. Es war ja ursprünglich mal die Rede davon, Charterflüge zu schicken. Die hat es nie gegeben. Stattdessen droht jetzt ihre Rettung an bürokratischen Vorgaben zu scheitern.
Kramp-Karrenbauer: Erst mal kann ich reden für die Ortskräfte, die bei der Bundeswehr beschäftigt waren seit 2013. Da gibt es das ganz klare Commitment, dass die rauskommen. Wir haben auch das klare Commitment innerhalb der Bundesregierung, dass wir auf ein Verfahren "Visa upon arrival" umstellen. Das heißt, die Leute kommen raus und Visa-Verfahren werden erst in Deutschland durchgeführt. Es gibt im Moment einen Engpass. Das ist die Tatsache, dass die afghanische Seite selbst die Leute nur aus dem Land lässt, wenn sie einen afghanischen Reisepass haben.
Münchenberg: Das hört sich aber ein bisschen nach Schwarze-Peter-Spiel an.
Kramp-Karrenbauer: Nein, das hat nichts mit Schwarzem-Peter-Spiel zu tun. Es ist die Realität, die wir zu betrachten haben, und das ist auch nicht die Frage von Linienflügen oder Charterflügen, denn die Leute kommen erst gar nicht zum Flughafen oder zum Flieger, wenn sie diese Reisepapiere nicht haben. Das Auswärtige Amt mit unserer Unterstützung der Bundesregierung versucht im Moment gerade, die afghanische Regierung von dieser Praxis abzubringen. Daneben gibt es andere Ortskräfte, deren Arbeit ja zurzeit noch weiterläuft. Die Entwicklungshilfe-Arbeit läuft noch weiter und deswegen hat sich bisher diese Frage, wie es mit diesen Ortskräften weitergeht, innerhalb der Bundesregierung noch gar nicht gestellt.
"Größter Flaschenhals sind die Ausweispapiere"
Münchenberg: Die Amerikaner haben es genau anders herum gemacht. Sie haben erst die Leute ausgeflogen und kümmern sich dann um die Formalitäten. Deutschland geht genau den anderen Weg, der sich jetzt als so fatal erweist, weil die Sicherheitslage so prekär geworden ist.
Kramp-Karrenbauer: Die Amerikaner agieren von einer anderen Basis aus. Sie haben mit ihren Militärmaschinen eine Militärliegenschaft übernommen. Wir haben die erste Gruppe, die vollkommen unumstritten war, die, die in den letzten beiden Jahren bei uns gearbeitet haben, vor unserem Abzug in Masar-i-Scharif so versorgt, dass der Großteil dieser Menschen mittlerweile bei uns war – auch, weil es die Flugmöglichkeiten von Masar-i-Scharif, auch von Kabul aus gibt. Jetzt haben wir die Frage – und wir stehen mit allen Ortskräften auch über das Einsatzführungskommando in Verbindung: Wie kommen die Leute hierher, wo können wir unterstützen, von der Finanzierung bis - im Moment ist der größte Flaschenhals wie gesagt die Ausweispapiere der afghanischen Seite. Und daran muss diplomatisch und politisch gearbeitet werden. Wir sehen, dass es hier ein Problem gibt, das nicht nur wir haben, sondern das andere Länder mit Blick auf ihre Ortskräfte genauso haben.
Münchenberg: Es geht hier um 1.700 ehemalige Ortskräfte mit Familienangehörigen, die jetzt schon zurück sind. Es geht aber um 4.400 insgesamt. Was wird jetzt aus diesen Menschen?
Kramp-Karrenbauer: Das ist in der Gruppe selbst unterschiedlich. Wir haben auch dort Kräfte, die für sich bisher gesagt haben, sie wollen noch abwarten. Wir stehen mit denen in Kontakt, die sagen, wir wollen raus. Wir unterstützen sie auch. Deswegen bleibt es bei dieser Verpflichtung. Ich sage aber auch mit Blick auf die politischen Mitbewerber, die jetzt auch hier Forderungen stellen, dass sie dann erklären müssen, ob sie möchten, dass die Bundeswehr mit militärischen Kräften, etwa Spezialkräften noch mal in das Land hineingeht, um diese Menschen dort rauszuholen. Das wäre ein anderer Ansatz, mit dem sich dann im Übrigen auch der Bundestag befassen muss. Ich habe bisher noch keinen konkreten Antrag dazu von irgendeinem der Mitbewerber gesehen.
Münchenberg: Aber Sie lehnen einen solchen möglichen Gang ab?
Kramp-Karrenbauer: Wir sehen im Moment die andere Möglichkeit und daran arbeiten wir. Das ist die Realität. Daran arbeiten wir wirklich Tag und Nacht, weil es auch unser Anliegen ist, weil es auch mein Anliegen ist. Ich habe sehr dafür gekämpft, dass diese Ortskräfte, die bei uns waren, wirklich hier rauskommen, denn ich sehe diese Verpflichtung und viele in der Bundeswehr spüren diese Verpflichtung, und denen wollen wir gerecht werden.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.