
Wenn es um die Ausgangslage geht, in der sich die Europäer derzeit wiederfinden, dann lesen sich die ersten Seiten des EU-Weißbuchs zur Verteidigung sehr vertraut. Seit Jahren wird immer wieder die gleiche Argumentationskette hergestellt: Die Gefahren nehmen zu, wir haben viel zu lange, viel zu wenig getan, wir müssen deshalb jetzt umso mehr tun, je schneller, desto besser und, ganz wichtig, alle zusammen.
Das Narrativ stimmt, es stimmt auch jetzt wieder, doch leider blieb es über viele Jahre bis heute weitgehend folgenlos. Wer erinnert sich noch an den hochtrabend genannten „strategischen Kompass“, den die EU kurz nach Kriegsbeginn in der Ukraine verabschiedete. Richtig, kaum jemand. Und auch nach mehr als zwei Kriegsjahren, in denen sich russische Kriegsverbrechen in der Ukraine Tag für Tag aneinanderreihten, geriet Boris Pistorius noch massiv in die Kritik, als er von der Notwendigkeit sprach, „kriegstüchtig“ werden zu müssen.
Was das Weißbuch nicht anspricht
Seitdem klar wird, dass wir Europäer im Zweifel keinen Schutz mehr von den Amerikanern erwarten dürfen, ist diese Kritik leiser geworden. Nicht Putin im Osten, nein, Trump im Westen erklärt dieses Weißbuch und seine Dringlichkeit.
Aus zwei Gründen wird das im Text aber nicht offen ausgesprochen: Erstens wäre es seit vielen Jahren Sache der Europäer selbst gewesen, für die eigene Sicherheit zu sorgen. Und zweitens, selbst wenn das Ruder in der EU jetzt brachial herumgerissen wird, bestehen auf Jahre hinaus verteidigungspolitisch noch immer fundamentale Abhängigkeiten von den USA.
Was nun die Hoffnungen auf massive Investitionen in die eigene Verteidigung und den Turbo-Aufbau einer wirklich europäischen Rüstungsindustrie angeht: Das Papier macht deutlich, dass Brüssel hier nur Anreize setzen kann. Jedes Land entscheidet für sich und es wäre naiv anzunehmen, dass alle 27 EU-Partner hier an einem Strang ziehen.
Ein Wortungetüm macht die Runde: Die „Bedrohungsperzeptionsasymmetrie“. In Portugal, Spanien, Italien, ja auch in Frankreich wird die russische Gefahr aus dem Osten weit weniger dramatisch wahrgenommen als in Osteuropa. Gleichzeitig stehen gerade diesen Ländern die Schulden bis zu Halskrause, sie hoffen auf Gemeinschaftsschulden durch die EU. Die Niederländer rufen: Nicht mit uns!
Heute treffen sich die Staats- und Regierungschefs in Brüssel, der letzte Gipfel liegt gerade zwei Wochen zurück, der nächste steht schon im Juni an. Streit ist programmiert, noch bleibt festzuhalten: So wird das nichts! Besser wäre es, zusammen auf die massive wirtschaftliche Substanz Europas zu vertrauen und zu sagen: Wir müssen und wir können uns das leisten! Allzu lang haben wir auf den Gedanken gebaut, dass Sicherheit für kleine Münze zu haben ist oder durch Dritte gewährleistet wird.