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Vertragsverletzungsverfahren eingestellt
Europarechtler: Karlsruhe hat Autorität des EuGH nicht in Frage gestellt, Polen schon

Die EU hat ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland wegen des umstrittenen EZB-Urteils aus Karlsruhe eingestellt. Diese Beilegung des Konfliktes sei teilweise dadurch zu erklären, dass sich Brüssel auf den gravierenden Vorgang in Polen konzentrieren wolle, sagte der Europarechtler Franz Mayer im Dlf.

Franz Mayer im Gespräch mit Sandra Schulz |
Wolken ziehen über die Europäische Zentralbank (EZB) in Frankfurt am Main hinweg.
Außenansicht Europäische Zentralbank (EZB) in Frankfurt am Main (picture alliance / greatif | Florian Gaul)
Das Bundesverfassungsgericht hatte im Mai 2020 das Anleihekaufprogramm der Europäischen Zentralbank (PSPP) für teilweise verfassungswidrig erklärt, obwohl der Europäische Gerichtshof (EuGH) vorher schon grünes Licht für das Programm gegeben hatte. Nach Auffassung der EU-Kommission kritisierten die Karlsruher Richter so das EuGH-Urteil als Kompetenzüberschreitung und verstießen ihrerseits gegen den Grundsatz, wonach das EU-Recht Vorrang hat. Im Juni 2021 leitete die EU-Kommission deshalb das Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland ein. Die Brüsseler Behörde betonte damals, auch in anderen Ländern gebe es nun ebenfalls eine Grundsatzdebatte über den Vorrang von EU-Recht vor nationalem Recht.
Am 3. Dezember 2021 teilte die EU-Kommission mit, dass das Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland wieder eingestellt worden sei. Die Bundesregierung habe überzeugend dargelegt, dass Deutschland den Vorrang des EU-Rechts und das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit anerkenne, erklärte die Brüsseler Behörde.

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Der Europarechtler Franz Mayer von der Universität Bielefeld hatte bereits 2020 das Vorgehen des Bundesverfassungsgerichtes in Karlsruhe gegenüber der EU kritisiert und befürwortete deren Einleitung eines Vertragsverlezungsverfahrens gegen Deutschland. "Dass der größte Mitgliedsstaat einfach so mit einem derartigen Urteil davonkommt, war politisch nicht darstellbar", sagte Mayer im Deutschlandunk.

Nationale und europäische Perspektive

Mayer machte darauf aufmerksam, dass es immer schon zwei Persektiven auf das Europrecht gegeben habe: die nationale mit der verfassungsrechtlichen Sicht begründete Perspektive und die europarechtliche Perspektive. Es habe immer schon das Risiko gegeben, "dass man an einer bestimmten Stelle in Konflikt gerät. Und da gab es eine Schwebelage und die hatte auch so was Stabilisierendes“, sagte Mayer. "Wenn man den Konflikt nicht eskalieren lassen mag, dann sind alle sehr vorsichtig." Diese sehe er durch die Einstellung des Verfahrens wieder hergestellt.

Mayer: Fall Polen jetzt wichtiger

Mayer betonte, dass der Rechtsstreit zwischen der EU und Polen inzwischen auch wichtiger sei als der mit Deutschland. Polen agiere viel extremer, als es Deutschland in seinem Vorgehen gegen die EU getan habe, so Mayer. "Was in Polen passiert ist ja wirklich die komplette Infragestellung des Vorrangs der Einheitlichkeit des Europarechts, der Autorität des Europäischen Gerichtshofs, und all diese Dinge hat die Bundesregierung ja gegenüber der Kommission jetzt zusichern können als in Deutschland ohne jeden Zweifel anerkannt, und das hat auch das Bundesverfassungsgericht nie in Frage gestellt."
Mayer fügte hinzu, dass der Fall Polen das Potenzial habe, "die europäische Rechtsordnung komplett zu destabilisieren“. In Polen gehe es "ganz klar um eine Abwehr jeglicher Einmischung - wie die das darstellen - des Europarechts in das nationale Recht. Und das ist schlicht nicht die Geschäftsgrundlage einer Mitgliedschaft in der Europäischen Union." Mayer mutmaßte, dass die EU nicht zuletzt auch mit Blick auf die Probleme mit Polen das Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eingestellt habe. Man müsse sich "auf die wirklich zentralen Konflikte, die es in der europäischen Rechtsgemeinschaft gibt, konzentrieren".

Sandra Schulz: Dieser ganze Streit wurde ja verstanden als massiv ausgetragener Machtkampf zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof. Ist denn jetzt irgendwas klarer als vorher?
Franz Mayer: Ich denke, dazu gibt es mindestens zwei Antworten. Die optimistische ist: Ja, alles ist geklärt, alles ist in Butter, Deutschland hat nachgegeben und deswegen dann die Einstellung des Vertragsverletzungsverfahrens.
Die pessimistische ist: Nichts ist geklärt, die Bundesregierung hat die Lage in ihrer Antwort an die Kommission im August schöngemalt und die Kommission malt das jetzt noch ein bisschen schöner. Klar ist, dass das Bundesverfassungsgericht als unabhängiges Gericht seine Rechtsprechung nicht offen geändert hat, auch nicht im April 2021. Da gab es ja noch mal einen Nachgang zum Urteil. Ebenso klar ist aber auch, seit April 2020 ist ziemlich viel passiert.

"Einleitung des Vertragsverletzungsverfahrens war richtig"

Schulz: Zu welcher Antwort tendieren Sie, dass die EU-Kommission da jetzt vielleicht einen Deckel draufmachen wollte?
Mayer: Man muss ja sehen, dass die Kommission politisches Ermessen zum Ob und Wie eines Vertragsverletzungsverfahrens hat. Ich hielt die Einleitung des Vertragsverletzungsverfahrens für richtig: Dass der größte Mitgliedsstaat einfach so mit einem derartigen Urteil davonkommt, war politisch nicht darstellbar. Auf der anderen Seite war der konkrete Fall der denkbar ungeeignetste Fall für das Thema Ultra-Vires-Akt. Nicht mal nach den Kriterien des Bundesverfassungsgerichts aus der früheren Rechtsprechung war das einfach zu erklären, warum das jetzt eine Kompetenzüberschreitung sein soll.
Schulz: Ultra-Vires-Akt, das ist ein Schlüsselbegriff aus dieser EZB-Entscheidung aus Karlsruhe, in dem das Bundesverfassungsgericht damit begründet hat, warum es sich gegen den EuGH stellt. Was heißt das, Ultra Vires?
Mayer: Ultra Vires bedeutet lateinisch über die jeweilige Macht, jenseits der Kompetenzen, und das Argument des Bundesverfassungsgerichts ist, die Europäische Union kann sich jenseits ihrer Kompetenzen bewegen. Das ist denkbar und für diesen Fall stellen wir das fest, weil es ist eine verfassungsrechtliche Frage. Auf der europäischen Ebene gibt es Festlegungen dazu, dass Kompetenzüberschreitungen der europäischen Einrichtungen und Organe vom Europäischen Gerichtshof kontrolliert werden.
Ein Problem entsteht dann, wenn der Europäische Gerichtshof der mögliche Kompetenzüberschreiter ist, und hier gibt es diese zwei unterschiedlichen Blickrichtungen, die auch ein Stück weit unvereinbar bleiben.
Gebäude des Bundesverfassungsgerichts mit dem Schriftzug Bundesverfassungsgericht davor.
Das Gebäude des Bundesverfassungsgerichts, entworfen vom Architekt Paul Baumgarten. (picture alliance / dpa / Uli Deck)

Frage des Verfassungsgerichtes: "Ist das überhaupt Europarecht?"

Schulz: Das könnte man ja auch übersetzen als ein Karlsruher: Hier stehen wir, wir können nicht anders, natürlich wissen wir, dass das Europarecht Vorrang hat, aber in diesem Fall hat der EuGH aus unserer Sicht – ich sage es jetzt sehr paraphrasiert – so falsch entschieden, dass wir einfach nicht anders können, als uns dagegen zu wenden. Das kann doch jetzt jederzeit im Prinzip auch wieder passieren.
Mayer: Ja, wobei Vorrang ist eigentlich gar nicht das große Problem. Das Bundesverfassungsgericht hat sehr deutlich gesagt, dass es den Vorrang des Europarechts grundsätzlich sogar gegenüber der Verfassung, gegenüber dem Grundgesetz anerkennt. Es fragt sozusagen vorgelagert, ist das überhaupt Europarecht, kompetenzgemäß; wenn ja, dann Vorrang. Wenn kein Europarecht, dann gibt es ein Problem.
Aber richtig ist, dass sich ein Stück weit diese Positionen nicht gut miteinander vereinbaren lassen, dementsprechend nicht auszuschließen ist, dass das noch mal vorkommt. Aber das ist jetzt in 60 Jahren ein einziges Mal passiert, dass das Bundesverfassungsgericht das festgestellt hat, und die werden das nicht leichtfertig noch mal aktivieren.
Von daher denke ich schon, dass wie gesagt seit 2020 im Mai sehr viel passiert ist, und man muss, glaube ich, auch noch mal den aktuellen Hintergrund mit Polen sehen, der das Ganze noch mal in ein ganz anderes Verhältnis rückt.

"Zwei Erzählungen dazu, wie Europarecht in nationale Rechtsordnung kommt"

Schulz: Sie sagen, die Frage, wer gewonnen hat, die sollte man jetzt am besten offenlassen?
Mayer: Das ist eigentlich auch der ursprüngliche Ansatz gewesen, weil es ja schon immer diese zwei Erzählungen dazu gibt, wie das Europarecht genau in die nationale Rechtsordnung kommt: Die nationale mit der verfassungsrechtlichen Sicht begründete und die europarechtliche. Da gab es schon immer dieses Risiko, dass man an einer bestimmten Stelle in Konflikt gerät, und da gab es eine Schwebelage und die hatte auch so was Stabilisierendes. Wenn man den Konflikt nicht eskalieren lassen mag, dann sind alle sehr vorsichtig. Ich habe das Gefühl, dass wir jetzt wieder in diese Schwebelage zurückkommen, und das ist, glaube ich, auch eine gute Entwicklung. Noch mal: Im Kontrast zu dem, was Polen gerade macht, wird deutlich, dass wir dort ganz andere Probleme haben.
Schulz: Haben wir da auch nicht nur andere Probleme, sondern vielleicht auch andere Standards, wenn wir jetzt sehen, es gab diesen ja wirklich zugespitzten Konflikt zwischen dem deutschen Bundesverfassungsgericht und dem EuGH. Das ist jetzt alles schön nonchalant abgeräumt. Und gegenüber Polen soll jetzt aber weiter harte Kante gezeigt werden.
Mayer: Ja, man könnte sagen, da wird mit zweierlei Maß gemessen. Aber es sind auch zwei völlig unterschiedliche Dinge. Was in Polen passiert ist ja wirklich die komplette Infragestellung des Vorrangs der Einheitlichkeit des Europarechts, der Autorität des Europäischen Gerichtshofs, und all diese Dinge hat die Bundesregierung ja gegenüber der Kommission jetzt zusichern können als in Deutschland ohne jeden Zweifel anerkannt, und das hat auch das Bundesverfassungsgericht nie in Frage gestellt. Wir sind hier wirklich in einer ganz anderen Dimension und ich glaube, das ist Teil der Erklärung dafür, dass die Kommission das Verfahren jetzt eingestellt hat, zu diesem Zeitpunkt, außer dass sie vielleicht auch nutzen wollten, dass wir gerade hier in Deutschland mit der Regierungsbildung ohnehin andere Konzentrationen haben und das gar nicht mitkriegen, was da in Brüssel passiert. Aber man will sich wirklich auf diesen ganz, ganz gravierenden Vorgang in Polen konzentrieren, der das Potenzial hat, die europäische Rechtsordnung komplett zu destabilisieren.

Fall Polen: "Die Unterschiede sind gravierend"

Schulz: Aber lässt sich diese Differenzierung, die sicherlich sehr wichtig ist, ausreichend verständlich kommunizieren? Es kommt ja jetzt schon das Argument aus Polen: Seht ihr, Karlsruhe hat es vorgemacht, wir machen es nach. Diese Differenzierung, wird die ankommen?
Mayer: Das ist schwierig, weil im Ausgangspunkt gibt es durchaus Parallelen, weil auch das Bundesverfassungsgericht aus der nationalen Verfassung heraus argumentiert. Das wird in Polen ja auch versucht. Aber im Einzelnen sind die Unterschiede doch gravierend. Vielleicht am offensichtlichsten: Dem Bundesverfassungsgericht ging es in diesem streitigen Urteil eigentlich darum, dass der EuGH nicht kraftvoll genug war, dass er nicht mehr kontrolliert hat, und das ist definitiv nicht die Sicht aus Polen. In Polen geht es ganz klar um eine Abwehr jeglicher Einmischung, wie die das darstellen, des Europarechts in das nationale Recht, und das ist schlicht nicht die Geschäftsgrundlage einer Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Da ist das Bundesverfassungsgericht ganz eindeutig. Wir haben ein Staatsziel vereintes Europa. Das Bundesverfassungsgericht bekennt sich zum Vorrang des Europarechts sogar gegenüber dem Grundgesetz, im Prinzip mit einigen wenigen Ausnahmen. Das ist wirklich ein qualitativ ganz anderer Blick auf das Europarecht.
Schulz: Sie haben das EZB-Urteil aus Karlsruhe ja auch scharf kritisiert. Jetzt, nachdem wir wissen, wie die Sache weiter- und ausgegangen ist, war das vielleicht doch ein bisschen übertrieben, da vom Kampf der Giganten zu sprechen und von einem tiefen Zerwürfnis?
Mayer: Nee, das würde ich nicht sagen, weil das Potenzial, dass so etwas eskaliert, und insbesondere auch mit Blick darauf, dass das Bundesverfassungsgericht ja ein hohes Ansehen hat im Kreise der Höchstgerichte und eine Leitfunktion hat, das war definitiv da, dieses Potenzial, und das ist auch immer noch da. Ich will das auf keinen Fall kleinreden und ich halte das auch nach wie vor für einen problematischen Vorgang, diese ganze PSPP-Geschichte. Jetzt ist es von allen Seiten offenbar doch im Bemühen um Deeskalation einigermaßen gut ausgegangen, aber ich bleibe dabei: Das PSPP-Urteil war kein Ruhmesblatt für das Bundesverfassungsgericht.

"Auf die zentralen Konflikte in der Rechtsgemeinschaft konzentrieren"

Schulz: Wir haben noch einen ganz kurzen Moment bis zu den Nachrichten. Sagen Sie es uns in Kurzform mit Blick auf Polen. Was haben wir aus der Sache gelernt?
Mayer: Dass man sich auf die wirklich zentralen Konflikte, die es in der europäischen Rechtsgemeinschaft gibt, konzentrieren muss, und ein Stück weit ist das dann wirklich etwas, was in Polen passiert, und PSPP, das war der falsche Kampf.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.