Die EU-Kommission hat wegen eines umstrittenen Urteils des Bundesverfassungsgerichts zu Staatsanleihenkäufen der Europäischen Zentralbank ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eingeleitet. An die Regierung in Berlin sei ein Schreiben gegangen, teilte die Kommission am Mittwoch (9. Juni 2021) mit.
"Sprengsatz" im europäischen Rechtssystem
Es gehe um die Interpretation europäischen Rechts durch das Bundesverfassungsgericht und den Europäischen Gerichtshof (EuGH), sagte Peter Kapern, Deutschlandfunk-Korrespondent in Brüssel. Es gebe Experten, die eine "große rechtliche Kollision" auf die EU zukommen sähen.
Kapern bezeichnete das Karlsruher Urteil als "Sprengsatz" im europäischen Rechtssystem. Damit sei der Vorrang des europäischen Rechts in Frage gestellt, die Grundlage für die europäische Rechtsgemeinschaft. Zudem könnten andere nationale Gerichte nach dem Karlsruher Vorbild entscheiden. Die EU-Kommission hat bereits mehrfach Länder wie Polen kritisiert, weil diese sich weigern, Urteile des Europäischen Gerichtshofs umzusetzen.
Die Karlsruher Richter hatten im Mai 2020 die billionenschweren Aufkäufe von Staatsanleihen der Euro-Länder durch die EZB als teilweise verfassungswidrig eingestuft. Damit hatten sie sich gegen den Europäischen Gerichtshof gestellt, der Ende 2018 entschieden hatte, dass die Käufe nicht gegen das EU-Recht verstoßen.
Politologe sieht Möglichkeiten, den Konflikt beizulegen
Im Kern geht es bei dem Konflikt also um den Vorrang des Europarechts. Die EU-Komission als Hüterin der EU-Verträge startet ein solches Verfahren üblicherweise dann, wenn sie der Auffassung ist, dass ein Land gegen europäisches Recht verstoßen hat.
Mit dem nun beginnenden Auskunftsersuchen muss sich Deutschland zunächst innerhalb von einer Frist von zwei Monaten äußern. Kann der Streit nicht gelöst werden, könnte er schließlich vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) landen, der eine Geldstrafe verhängen kann.
Es gebe noch Möglichkeiten, diesen Streit beizulegen, sagte der Politikwissenschaftler und EU-Experte Josef Janning im Dlf. Es würde eine andere Lage entstehen, wenn das Bundesverfassungsgericht noch einmal klarstelle, "dass es den Vorrang des europäischen Rechts nicht in Zweifel zieht". Dann wäre dieses Verfahren nicht mehr tauglich, als Präzedenzfall für "politisch instrumentalisierte Verfassungsgerichte" in Ungarn oder Polen gegen die EU herzuhalten.
Das Interview im Wortlaut:
Dirk Müller: Ist die Kommission jetzt übergriffig?
Josef Janning: Nein, ist sie nicht. Man mag sich wundern, ob es politisch weise ist, diesen Konflikt, den Herr Kapern ja geschildert hat, der rechtlich nur außerordentlich schwierig aufzulösen wäre, so voranzutreiben, dass am Ende der EuGH zu einer Entscheidung gezwungen wird, und damit stehen dann sowohl das eine Verfassungsgericht, das europäische, und das nationale Verfassungsgericht, das deutsche, in ihren Entscheidungen möglicherweise gegeneinander, und das lässt sich ja gar nicht rechtlich auflösen.
Müller: Aber man könnte das ja als wohltuendes Korrektiv sehen, egal wie es ausgeht.
Janning: Ja, das kann man. Es gibt ja auch noch Möglichkeiten, diesen Streit beizulegen. Es ist ja wiederholt darauf hingewiesen worden, dass ja eine andere Lage entstünde, hätte das Bundesverfassungsgericht noch einmal klargestellt, dass es den Vorrang des europäischen Rechts nicht in Zweifel zieht. Dann wäre dieses Verfahren nicht mehr tauglich gewesen als Präzedenzfall etwa für politisch instrumentalisierte Verfassungsgerichte in Ungarn oder Polen, die dann der Europäischen Union und dem Europäischen Gerichtshof mit Hinweis darauf das Recht absprechen wollen, über nationale Fragen, wie sie das sehen, souveräne nationale Fragen überhaupt zu urteilen.
"Keine objektiven Kriterien"
Müller: Aus der anderen Perspektive betrachtet, aus der deutschen Perspektive oder Mitgliedslandperspektive betrachtet würde das ja bedeuten: Ganz gleich was Luxemburg beschließt, die Luxemburger Richter, das ist immer so gut wie heilig, das kann nicht mehr angezweifelt werden. Ist das so?
Janning: Nein, das ist nicht so. Die Frage ist nur, wer stellt fest, wann das nicht mehr der Fall ist. Das Bundesverfassungsgericht hat mit seiner letzten Entscheidung sich selbst gewissermaßen das Recht gegeben zu entscheiden, ob die europäische Ebene und der Europäische Gerichtshof ihre Kompetenzen überschritten haben. Und in dem Moment, wo sie dieses etablieren, dann öffnen sie eine Büchse der Pandora, denn es gibt ja keine objektiven Kriterien. Es wird zwar jede Menge Begründungen geben, aber es gibt keine objektiven Kriterien, wo genau die Grenze der Zuständigkeiten liegt. Das ist ja immer wieder auch unterschiedlich gesehen und entschieden und vertreten worden und das wird damit rechtlich nicht aufzulösen sein.
Müller: Aber damit ist es ja legitim, dass das Bundesverfassungsgericht sagt, aus unserer Rechtsauffassung heraus verträgt sich das nicht beziehungsweise es muss überprüft werden, wir sehen das anders als Luxemburg. Ist das nicht das gute Recht der Karlsruher?
Janning: Ja, natürlich ist es das Recht der Karlsruher. Aber was ist eigentlich ihr Mandat? Ihr Mandat ist die Wahrung der deutschen Verfassung und da haben die Karlsruher Richter seit dem Urteil zum Maastricht-Vertrag für sich gewissermaßen eine Zuständigkeit etabliert, indem sie sagen, unsere Aufgabe ist es, den Wesensgehalt der deutschen Verfassungsordnung zu schützen. Und was der Wesensgehalt ist, das bestimmt das Verfassungsgericht, und auch, inwieweit dieser Wesensgehalt durch Einzelentscheidungen auf europäischer Ebene beeinträchtigt wird, ebenfalls dieses Gericht. Das ist natürlich eine schwierige Frage und da sagen viele auf europäischer Ebene, das kann eigentlich nicht sein. Wir streiten nicht ab, dass sie Sorge haben, dass die Demokratie verloren ginge im Prozess der Europäisierung. Das ist ihr gutes Recht, darauf zu achten. Da finden sie ja auf europäischer Ebene auch sehr viele Fürsprecher, die sagen, ja, wir wollen diese Demokratisierung der Europäischen Union. Aber dass dies dann als Hebel benutzt werden kann, praktisch Europapolitik zu verhindern, das ist der Knackpunkt und das macht auch die Bundesregierung so unglücklich oder gespalten in dieser Situation.
Wenn die Bundesbank zu entscheiden hätte
Müller: Wenn wir das ganze politisch einmal betrachten – und Sie sagen ja, Vorrang des EU-Rechts (das haben wir eben von Peter Kapern auch gehört) ist nicht strittig. Dann haben Sie argumentiert, das hätten die Karlsruher ja vielleicht noch in einem einzigen Satz als Ergänzung dazuschreiben können; dann hätte es vielleicht auch weniger Konfrontation in dem Punkt gegeben.
Janning: Ja.
Müller: Jetzt sagen Kritiker, wenn die Bundesbank zu entscheiden hätte und das Bundesverfassungsgericht mit der unmittelbaren Zuständigkeit, hätte es eine solche EZB- oder Geldpolitik nie gegeben. Was ist da dran?
Janning: Das kann sein. Das weiß man nicht. Wenn tatsächlich diese Entscheidungen bei der Bundesbank lägen – man muss sich auch daran erinnern, dass seinerzeit, als es den Euro nicht gab und die Bundesbank gewissermaßen die D-Mark beaufsichtigte, da war ihr Mandat ein einfaches Gesetz und keine Verfassung, die man leicht hätte ändern können. Aber ich glaube, wenn die Bundesbank das tatsächlich wäre, würde sie anders handeln. Sie ist im Verbund der Europäischen Zentralbank eine der kritischen Stimmen, auch zurückhaltenden Stimmen in der Frage der Anleihekäufe gewesen.
Müller: Wird immer wieder überstimmt.
Janning: Ja, sie wird immer wieder überstimmt, und die Regierungen der Mitgliedsstaaten, die ja gewissermaßen die eigentlichen Herren der Verträge sind, sind mit dieser Überstimmung auch einverstanden, einschließlich der Bundesregierung, denn sie haben ein überragendes politisches Interesse daran, dass diese Europäische Union nicht über das Scheitern des Euro zerbricht.
Müller: Noch einmal politisch betrachtet. Kann es sein, dass Urteile aus Luxemburg Deutschland, deutschen Interessen, deutschen Wirtschafts- und Stabilitätsinteressen schaden?
Janning: Zumindest kann es sein, dass diese Urteile deutschen Interessen, wie immer man die formulieren mag, zuwider laufen, und das ist natürlich auch ein gewisser Schaden. Nur auch das ist ja eine interessante Frage, denn Interesse ist ja nicht objektiv da, sondern Interesse wird definiert und wird festgelegt und Interesse wird sehr oft danach definiert, wovon man sich den größeren Nutzen verspricht. Der EuGH interessiert sich nicht für die Mehrung des Nutzens einzelner Mitgliedsstaaten, sondern er muss immer abwägen die Rechtsordnung der Europäischen Union und ob die durch das Verhalten von Mitgliedsstaaten beziehungsweise von Akteuren in Mitgliedsstaaten, zum Beispiel Unternehmen verletzt werden oder nicht.
Müller: Sie sagen, er muss. Tut er das auch?
Janning: Ja, das tut er. Es gibt natürlich eine Debatte darüber, ob der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung nicht selbst gewissermaßen den Rechtsrahmen des europäischen Rechts erweitert, indem er interpretiert, vielleicht auch mal etwas weiter interpretiert, und das halte ich für eine legitime Frage. Aber schwierig ist, ob etwa ein nationales Verfassungsgericht hier die passende Institution wäre, um einen solchen Vorgang rechtlich sauber zu beurteilen.
"Interessen liegen nicht nah beieinander"
Müller: Das wird ja in der Europäischen Union sehr kritisch diskutiert. Die Niederlande, die Skandinavier, auch Deutschland ist auf der einen Seite, Österreich gehört mit dazu und die Südeuropäer, wenn wir das so pauschalisieren wollen. Kann es sein, dass diese Interessen gerade in der Geldpolitik, in der Finanzierungspolitik, Stabilitätspolitik immer weiter auseinanderdriften?
Janning: Ja, natürlich liegen die Interessen nicht nah beieinander. Dafür sind die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verhältnisse in der Europäischen Union zu unterschiedlich. Wir beobachten allerdings, dass auch in denjenigen Staaten – Sie haben ja solche genannt, die sich häufig als die Sparsamen gerieren -, dass auch die ein Interesse am Funktionieren des Währungsverbundes haben – sogar diejenigen wie die Schweden, die selbst gar nicht Mitglied sind. Niemand möchte Europa zurückwerfen in die Zeit der Vielzahl der kleinen Währungen, die den internationalen Einflüssen und Spekulationen und dem Aufwertungsdruck beispielsweise in ganz anderer Weise ausgesetzt sind. Das heißt, trotz der Interessendivergenzen, die eindeutig bestehen, gibt es auch im Norden, nördlich der Alpen ein erhebliches Interesse daran, den Euro als Stabilitätswährung, als Koloss-Währung, die nicht so leicht von außen beeinflusst werden kann, zu erhalten, und das überlagert bislang die Kritik an der Motivation mancher Entscheidungsträger im Süden der Europäischen Union, etwa was das Anleihen-Kaufprogramm der EZB angeht.
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