"Das Büro ist direkt neben dem Bahnhof", hatte die Pressesprecherin im Bundesumweltministerium erklärt. Sigmar Gabriel ist zur Bürgersprechstunde in sein Wahlkampfbüro Wolfenbüttel gereist, und da ist zwischendurch Zeit für ein paar schnell eingeschobene Interviews:
"Na ja, der Normalbetrieb dieser Kernkraftwerke in Deutschland ist sicher, sonst müssten sie sofort abschalten."
Sigmar Gabriel hat den Atomwahlkampf ausgerufen, und während draußen Busse und Bahnen vorbeifahren, erläutert er seinen Standpunkt:
"Aber, je älter ein Kernkraftwerk ist, desto häufiger gibt es Ereignisse und Störfälle. Das können Sie auch ganz gut an der Liste der Ereignisse und Störfälle ablesen."
Für den Atomwahlkampf hat Vattenfall dem Minister die Steilvorlage geliefert - mit einer neuerlichen Serie von Zwischen- und Störfällen im "flügellahmen" Kernkraftwerk Krümmel. Das gehört zwar nicht zur Riege der sieben Altreaktoren, die der SPD-Politiker lieber jetzt als gleich abschalten möchte, ist aber dafür pannenträchtig:
"Deswegen wäre unser dringender Rat, einfach für mehr Sicherheit dadurch zu sorgen, dass man ein anderes Kernkraftwerk länger laufen lässt und Krümmel endlich abschaltet."
Pressekonferenz bei Vattenfall: Gerade erst war Krümmel nach zwei Jahren Stillstand angefahren worden - und schon war es wieder passiert: Reaktorschnellabschaltung:
"Wir bedauern es außerordentlich, dass es durch den Vorfall zu einer Verunsicherung der Bevölkerung gekommen ist."
Der Grund war ein Kurzschluss in einem der Transformatoren, die den Strom ins Netz einspeisen. Es war ein Déjà-vu, auch wenn diesmal keine schwarzen Rauchwolken über dem Kernkraftwerk aufstiegen. Denn auch vor zwei Jahren hatte sich der Reaktor nach einem Kurzschluss in einem Transformator notausgeschaltet. Und genau wie vor zwei Jahren war die Kommunikation des Unternehmens verbesserungsfähig: Zwar dauerte es diesmal keine Woche bis zur Pressekonferenz, aber die Atomaufsicht in Schleswig-Holstein erfuhr nicht sofort aus der Kraftwerksleitwarte von der Störung, sondern auf Umwegen von der Polizei. Der Betriebsleiter hatte sich zunächst selbst ein Bild machen wollen, musste jedoch erst von zu Hause anfahren:
"Außerdem entschuldige ich mich ausdrücklich für die Fehler in der Erstkommunikation."
Zerknirscht trat Michael Züfle, der Geschäftsführer der Vattenfall Europe Nuclear Energy, vor die Kameras der Presse. Um diese Kommunikationspanne auszugleichen, ließ er auch gleich noch für die eigene Homepage einen Dreieinhalb-Minutenbericht produzieren:
Nach aktueller Kenntnislage haben die angeforderten Sicherheitssysteme bestimmungsgemäß funktioniert. Das Schichtpersonal hat das Ereignis gemäß den Bestimmungen im Betriebshandbuch abgearbeitet.
Sogar Greenpeace-Mann Heinz Smittal kommt zu Wort:
"Dieses Atomkraftwerk darf nicht mehr ans Netz gehen."
Im Anschluss erläutert die Firma ausführlich, warum sie das anders sieht und gelobt Besserung.
Während am Himmel über Wolfenbüttel Gewitterwolken drohen, ist Sigmar Gabriel in seinem Element:
"Trotzdem muss man eins sagen: Bei einem Kraftwerksbetreiber gibt es das prinzipielle Problem, dass sie sich sperren, sehr stark sperren gegen die Anwendung des heutigen Stand von Wissenschaft und Technik. Das ist eines der Hauptprobleme, einfach weil sie nichts mehr investieren wollen in die Kraftwerke."
Gabriel hat es sogar geschafft, dass sich der atomkrafttreue Regierungspartner CDU/CSU kritisch gegenüber Vattenfall äußert - mit tatkräftiger, wenn auch unfreiwilliger Hilfe Vattenfalls: Unter anderem fiel bei der Ursachensuche früh eine Nachlässigkeit auf. So hätte im Transformator ein Kontrollgerät angebracht werden sollen, das vor Kurzschlüssen warnt. Doch Vattenfall hatte es nicht eingebaut. Eine andere Auflage hat das Unternehmen nicht umgesetzt: Als Lehre aus dem Störfall vor zwei Jahren sollte auf der Leitwarte eine Stimmaufzeichnung installiert werden, denn damals hatte ein Missverständnis die Situation verschärft. Vattenfall begründet die Unterlassung mit datenschutzrechtlichen Bedenken.
Beides wirft kein gutes Licht auf den Konzern. Kein Wunder also, dass Zweifel an seiner Kompetenz als Betreiber aufkommen. Es geht hierbei besonders um das Thema "Sicherheitskultur". Der Begriff ist im Nachgang der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl geprägt worden. Lothar Hahn, Geschäftsführer der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit in Köln, der seinerzeit vom damaligen grünen Umweltminister Jürgen Trittin mit der Leitung der GRS beauftragt worden ist:
"Es gibt eine wunderbare Definition von der IAEA, die besagt, dass Sicherheitskultur ist - das klingt jetzt ein bisschen holprig, weil ich das direkt übersetze: Sicherheitskultur ist die Gesamtheit der Eigenschaften und Verhaltensweisen in Organisationen und bei einzelnen Mitarbeitern, welche sicherstellt, dass Sicherheitsfragen die überragende Bedeutung bekommen, die ihnen zusteht."
Anders ausgedrückt: Sicherheit muss vor Wirtschaftlichkeit gehen.
"Die Betreiber sind als Erstes in der Pflicht natürlich, die Anlage sicher zu betreiben. Die Betreiber sind als Erstes in der Pflicht. Und der macht das auch mit vielen Sachverständigen und anderen zusammen. Und dann greifen natürlich in einer zweiten Stufe die Aufsichtsbehörden, die genehmigen und überwachen","
sagt Stefan Birkner, Staatssekretär im Umweltministerium von Niedersachsen. In den fünf Bundesländern, in denen derzeit Kernkraftwerke laufen, kontrollieren Landesbehörden die Betreiber im Auftrag des Bundes - und der Bund kontrolliert die Länder, wobei beide Instanzen unabhängige Experten hinzuziehen.
Eine solche Aufgabenteilung ist international einmalig - in Deutschland mit seinem föderalistischen System ist es jedoch gängige Praxis. Der Bund verfährt wie bei etwa bei der Finanzverwaltung auch. Allerdings zieht das arbeitsteilige System der Atomüberwachung schon seit den Tagen Jürgen Trittins Kritik auf sich, denn es beschneidet ein Stück weit den Einfluss des Bundesumweltministeriums. Unter Kanzler Helmut Kohl legten die rot-grünen Landesregierungen in Hessen und Niedersachsen das Regelwerk streng aus, sodass die schwarz-gelbe Bundesregierung immer wieder von ihrer Weisungsbefugnis Gebrauch machte. Inzwischen läuft das Spiel mit umgekehrten Vorzeichen.
Es geht um Machtfragen und ideologische Unterschiede, die mit der unterschiedlichen Einschätzung der Rolle der Kernenergie zusammenhängen - ob Ausstieg oder Weiterbetrieb. Das erschwert die Kommunikation zwischen allen Beteiligten. Dabei ist Kommunikation für die Sicherheitskultur zentral.
""Da muss ich sagen, da haben wir in Deutschland massivste Defizite. Man muss sagen, dass zwischen den handelnden Organisationen und Institutionen ein Klima des Misstrauens herrscht. Das ist weit verbreitet zwischen dem Bund und den Ländern, innerhalb der Bundesregierung, zwischen den verschiedenen Ressorts" beim Umwelt- und beim Wirtschaftsministerium, und zwischen dem Bundesamt für Strahlenschutz und dem Bundesumweltministerium, urteilt Lothar Hahn.
"Zwischen Betreibern und Behörden ist die Kommunikation so schlecht, so miserabel, dass ich befürchte, dass die Sicherheit darunter leiden wird über kurz oder lang, und dieses Misstrauen ist ein Anzeichen dafür, dass die Sicherheitskultur nicht gut ausgebildet ist in Deutschland.""
Oft stehen Machtfragen im Vordergrund. Früher wurden etwa Empfehlungen, die das technische Beratergremium der Reaktorsicherheitskommission in Sachfragen ausgesprochen hat, vom Umweltministerium umgesetzt. Inzwischen ist das nicht mehr unbedingt der Fall.
"Im tagtäglichen Umgang traut man sich nicht über den Weg, Informationen fließen nicht so, wie es sein müsste, die Betreiber, okay, sagen sich natürlich auch, was kommt denn auf mich zu, wenn ich jetzt etwas melde, was hängt da hinten dran, was wird man mir noch anhängen. Es gibt keinen vertrauensvollen Umgang."
Reibungsflächen gibt es viele. Etwa die Debatte, ob ältere Anlagen grundsätzlich schlechter sind als neuere:
"Das ist vielleicht als Arbeitshypothese zunächst einmal verständlich, aber im Detail das nachzuweisen ist ganz schwer. Denn es ist zwar richtig, dass die technischen Auslegungsmerkmale bei älteren Anlagen schlechter sind oder weniger umfassend als bei neueren Anlagen. Aber Sicherheit ist nicht nur eine Frage der technischen Auslegung, sondern auch Sicherheitskultur. Da sprechen wir drüber, Ausbildung des Personals, Ausbildung der Leute, die die Anlage warten, überprüfen, die Frage, was ist nachgerüstet worden im Laufe der Jahre. Man kann auch alte Anlagen sehr geschickt nachrüsten. Man kann nicht alles nachrüsten, zum Beispiel die Auslegung gegen Flugzeugabsturz, da kann man in der Regel nichts mehr machen, aber es gibt andere Dinge, wo man durchaus vernünftige Nachrüstmaßnahmen umsetzen kann, und da ist die Frage, wie ist es zu bewerten dann, und das ist nicht ganz einfach."
Nach Lothar Hahn ist es kein Naturgesetz, dass jede alte Anlage einer neueren unterlegen ist:
"Manche Anlagen sind sehr gut gepflegt worden, bei anderen Anlagen hat man da nicht so viel investiert. Das hängt dann unter anderem wieder ab unter anderem vom Verhältnis zwischen der jeweiligen Aufsichtsbehörde im Land und dem Betreiber. Ist das ein gutes Verhältnis, ein offenes Verhältnis, hat nichts mit Kumpanei zu tun, überhaupt nichts, ein vertrauensvolles Verhältnis miteinander, da wird sicherlich der Betreiber eher bereit sein nachzurüsten, als wenn er nicht weiß, welche Risiken er im Genehmigungsverfahren eingeht."
Der Machtkampf, der auf vielen Ebenen ausgetragen wird, behindert sogar vergleichsweise einfache Aktionen wie die Evaluierung der zweigleisigen deutschen Atomaufsicht durch die Internationale Atomenergiebehörde IAEA in Wien:
"Unser Ziel war die kontinuierliche Verbesserung der atomrechtlichen Überwachung der Sicherheit der Kernkraftwerke unter den in Deutschland gegebenen Rahmenbedingungen, als da sind derzeit der weiterhin geltende Atomausstieg, die Alterung der Anlagen, unsere Anlagen sind natürlich alle schon etliche Jahre alt, dann die Strommarktliberalisierung."
Oskar Grözinger, Abteilungsleiter Kernenergieüberwachung am baden-württembergischen Umweltministerium. Das Bundesumweltministerium hatte die Überprüfung in Auftrag gegeben - aber außer dem Bund nahm nur ein einziges Bundesland daran teil:
"Nämlich Baden-Württemberg. Und Baden-Württemberg hat auch nach unserem Eindruck eine ausgesprochen gute Atombehörde. Die anderen Bundesländer haben sich verweigert. Das ist ja schon mal, als ich spitzt das mal politisch ein bisschen bösartig zu: Sie haben sich verhalten wie der Iran, der die Atomaufsicht auch nicht einlässt","
wettert der Bundesumweltminister Sigmar Gabriel. Warum verweigerten sich Bayern, Hessen und Niedersachsen? FDP-Mann Stefan Birkner vom Umweltministerium Niedersachen:
""Wir standen dieser Mission, das kann man deutlich sagen, auch sehr kritisch gegenüber, weil wir halt wissen, wie der Herr Bundesminister agiert. Baden-Württemberg hat sich dann, auch nach Rücksprache mit den anderen Ländern, bereit erklärt, das zu machen."
Und nahm an der Evaluation teil. Übrigens: Das deutsche System mit der verteilten Atomaufsicht schnitt bei der Bewertung gut ab - wenn auch mit Verbesserungspotenzial: etwa bei der personellen Situation. Denn die Atomaufsicht wird nicht anders behandelt als die Registratur: Frei werdende Stellen dürfen erst einmal nicht besetzt werden, sodass es keine Übergangszeiten für die Einarbeitung gibt. Verbesserungspotenzial sieht die IAEA auch dabei, dass sich die Länder mehr an internationalen Entwicklungen orientieren sollten. Das sieht das System aber nicht vor: Die Mitarbeiter des Bundes sollen den Kontakt nach außen halten. Die Experten bei den Ländern bekommen deshalb Diskussionen oft nur aus zweiter Hand mit. Vor allem aber konstatierte die IAEA das Vertrauensdefizit. Oskar Grözinger:
"Die IAEA hat uns empfohlen, wir mögen unsere Zusammenarbeit zwischen Bund und Länder über den sogenannten Länderausschuss für Atomenergie intensiver nutzen beziehungsweise wir sollen anstreben, vertrauensvoller zusammenzuarbeiten."
Für Umweltminister Sigmar Gabriel ist das Problem einfach gelöst: Er möchte die Atomaufsicht ganz in den eigenen Händen halten:
"Bei uns ist das so, dass der Bund sozusagen die Alltagsarbeit, also die konkrete Beurteilung, darf ein Kraftwerk ans Netz, darf es nicht ans Netz, was wird geprüft, was gibt es für Auflagen, den Ländern übertragen hat. Wenn wir den Eindruck haben, dass die Länder das nicht vernünftig machen, da können wir nach dem Atomgesetz von unseren Weisungsmöglichkeiten Gebrauch machen. Aber sie müssen sich das so vorstellen, die operative Kompetenz, auch die Anzahl von Menschen, die Leute, die das jeden Tag machen, das sitzt natürlich in den Ländern."
Derzeit hätte der Bund in seiner Abteilung Reaktorsicherheit nicht das Personal, selbst in den Kernkraftwerken nach dem Rechten zu schauen. Schon allein, weil aufgrund der vom Finanzminister verordneten Einsparungen viele Stellen gestrichen worden sind.
Außerdem wehren sich die Länder vehement gegen die Zentralisierung. Sie sehen darin keinen Vorteil. Stefan Birkner vom Umweltministerium Niedersachen:
"Man hat eine Vielfalt von Experten zusammen, die auch mit ganz unterschiedlichen Blickwinkeln jeweils aus ihrer Ländersituation die Dinge betrachten. Und in solchen Kreisen entstehen dann auch richtig gute Lösungen, um die Sicherheit immer weiter nach vorne zu bringen. Man hat durch dieses zweistufige System auch immer ein System gegenseitiger Kontrolle und gegenseitige Befruchtung, und dadurch am Ende ein System, was immer wieder sich selbst verbessert. Und deshalb glaube ich, ist das schon ein vernünftiges System - wenn man es denn nicht versucht parteipolitisch zu missbrauchen, damit kann man natürlich so etwas beschädigen. Und das darf nicht passieren."
Die Idee, die Atomaufsicht zusammenzuführen, ist nicht neu. Sie stammt aus den Zeiten von Grünenumweltminister Jürgen Trittin. Eine Weile lang schien dem Ministerium das schwedische Modell attraktiv zu sein. Anders als in Deutschland, wo die Atomaufsicht fast jeden Tag vor Ort ist, um irgendetwas zu kontrollieren oder zu besprechen, setzt Schweden darauf, nur die Prozesse und Konzepte zu prüfen. Für die Kontrolle vor Ort ist der Betreiber selbst zuständig. Das erlaubt eine wesentlich schlankere Verwaltung und - bei einer Ansiedlung im Ministerium - politisch kontrollierte Entscheidungswege. Mit dem Störfall im Vattenfall-Kraftwerk Forsmark zeigten sich die Schwächen des Modells. Also verschwand das Ganze in der Schublade - um jetzt in einer neuen Form aufzuerstehen. Sigmar Gabriel:
"Wir werden in den nächsten Jahren, jedenfalls, wenn das Atomgesetz Bestand hat, und sich CDU und CSU sich nicht durchsetzen, dann werden wir in den nächsten vier Jahren mindestens sieben, mit Krümmel hoffentlich acht Kraftwerke vom Netz gehen lassen. Dann haben wir noch neun Atomkraftwerke. Es macht keinen Sinn, dafür eine Bundesaufsicht und fünf Länder zu haben, sondern schon um die Qualität der Atomaufsicht beizubehalten, muss man das dann zentralisieren. In diesem Vollzug des Atomausstiegs bin ich sehr dafür, dass wir dann eine Bundesbehörde einrichten, die qualifizierten Leute der Länder zusammenziehen, und das Ganze von einer zentralen Behörde überwachen und prüfen lassen. Sonst habe ich große Sorgen um die wirkliche Fähigkeit der Länder, diese Sicherheitsfragen auch wirklich qualitativ hochwertig zu bearbeiten."
Das sehen nicht nur die Länder anders, sondern auch die Industrie. Schnell auflösen ließen sich die Länderbehörden keineswegs, erklärt Dieter Marx, Generalbevollmächtigter des Deutschen Atomforums, das die Betreiberinteressen vertritt:
"Da übersieht er noch etwas: Nicht nur im Betrieb braucht man eine Atomaufsicht, sondern auch während der Stilllegung. Das heißt, selbst wenn die Anlagen in der Stilllegung sind, brauchen sie die gleiche Aufmerksamkeit und die gleiche Überwachung."
Es ist Wahlkampf - und in der Jagd um Stimmen werden in der Atomsicherheit Sachfragen zum Vehikel der Debatte gemacht. Das stimmt Lothar Hahn von der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit besorgt:
"Momentan haben wir die Sache mit Krümmel, wir haben Wahlkampf, das ist unübersehbar, wird auch kein Hehl daraus gemacht, und ich halte es für unverantwortlich, Wahlkampf zu machen in nuklearen Sicherheitsfragen, wo man die Bevölkerung verunsichert, ob man jetzt übertreibt oder ob man abwiegelt, das will ich jetzt gar nicht werten, ich will auch keine angreifen, ich will keinem etwas vorwerfen, hier gibt es keinen, der nicht auch ein bisschen Schuld an der Situation hat."
Selbst Sachfragen, an denen die Experten seit Jahrzehnten arbeiten, werden instrumentalisiert. Ein Beispiel: In allen Druckwasserreaktoren gibt es einen denkbaren Störfall, bei dem die Kühlmittelleitungen für den Reaktorkern abreißen, woraufhin das Kühlwasser herausschießt und Isoliermaterial mitreißt. Das kann die Notkühlung verstopfen - und man hätte ein Riesenproblem. Seit den 90er-Jahren ist das bekannt:
"Die Störfallnachweise dafür, dass man das im Griff hat, dass das nicht passieren kann, die waren nur sehr schwer zu erbringen. Das Land Niedersachsen zum Beispiel, damit es sich überhaupt bereit erklärt, einen vernünftigen Nachweis zu erbringen und nicht nur Stückwerk, musste ich als Bundesaufsicht nach Art. 65 Grundgesetz eine richtige Weisung an das Land Niedersachsen herausgeben."
Für Stefan Birkner vom Umweltministerium Niedersachsen ist dieser Angriff Wahlkampfgetöse:
"Und das ist der Vorwurf, den wir dem Bund machen müssen, in dem Fall dem Bundesminister Gabriel ganz konkret, dass er leichtfertig seine Aufsichtsfunktion parteipolitisch missbraucht, um einen kurzfristigen Erfolg zu haben, aber dabei in Kauf nimmt, die wichtige vertrauensvolle Zusammenarbeit zu gefährden."
Lothar Hahn von der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit ist entsetzt über das Schauspiel, das derzeit aufgeführt wird. Er ist ernsthaft besorgt. Als die IAEA ihn bei der Evaluierung der deutschen Atomaufsicht fragte, was er sich wünschen würde, wenn er drei Wünsche frei hätte, antwortete er:
"Da habe ich kurz überlegt und gesagt. Erstens würde ich mir wünschen eine drastische Verbesserung der Sicherheitskultur dahin gehend, dass die Kommunikation zwischen den Beteiligten funktioniert, zweitens eine Reform der Informationsflüsse, was sicherheitsrelevante Informationen angeht, und drittens kompetente Aufsichtsbehörden."
"Na ja, der Normalbetrieb dieser Kernkraftwerke in Deutschland ist sicher, sonst müssten sie sofort abschalten."
Sigmar Gabriel hat den Atomwahlkampf ausgerufen, und während draußen Busse und Bahnen vorbeifahren, erläutert er seinen Standpunkt:
"Aber, je älter ein Kernkraftwerk ist, desto häufiger gibt es Ereignisse und Störfälle. Das können Sie auch ganz gut an der Liste der Ereignisse und Störfälle ablesen."
Für den Atomwahlkampf hat Vattenfall dem Minister die Steilvorlage geliefert - mit einer neuerlichen Serie von Zwischen- und Störfällen im "flügellahmen" Kernkraftwerk Krümmel. Das gehört zwar nicht zur Riege der sieben Altreaktoren, die der SPD-Politiker lieber jetzt als gleich abschalten möchte, ist aber dafür pannenträchtig:
"Deswegen wäre unser dringender Rat, einfach für mehr Sicherheit dadurch zu sorgen, dass man ein anderes Kernkraftwerk länger laufen lässt und Krümmel endlich abschaltet."
Pressekonferenz bei Vattenfall: Gerade erst war Krümmel nach zwei Jahren Stillstand angefahren worden - und schon war es wieder passiert: Reaktorschnellabschaltung:
"Wir bedauern es außerordentlich, dass es durch den Vorfall zu einer Verunsicherung der Bevölkerung gekommen ist."
Der Grund war ein Kurzschluss in einem der Transformatoren, die den Strom ins Netz einspeisen. Es war ein Déjà-vu, auch wenn diesmal keine schwarzen Rauchwolken über dem Kernkraftwerk aufstiegen. Denn auch vor zwei Jahren hatte sich der Reaktor nach einem Kurzschluss in einem Transformator notausgeschaltet. Und genau wie vor zwei Jahren war die Kommunikation des Unternehmens verbesserungsfähig: Zwar dauerte es diesmal keine Woche bis zur Pressekonferenz, aber die Atomaufsicht in Schleswig-Holstein erfuhr nicht sofort aus der Kraftwerksleitwarte von der Störung, sondern auf Umwegen von der Polizei. Der Betriebsleiter hatte sich zunächst selbst ein Bild machen wollen, musste jedoch erst von zu Hause anfahren:
"Außerdem entschuldige ich mich ausdrücklich für die Fehler in der Erstkommunikation."
Zerknirscht trat Michael Züfle, der Geschäftsführer der Vattenfall Europe Nuclear Energy, vor die Kameras der Presse. Um diese Kommunikationspanne auszugleichen, ließ er auch gleich noch für die eigene Homepage einen Dreieinhalb-Minutenbericht produzieren:
Nach aktueller Kenntnislage haben die angeforderten Sicherheitssysteme bestimmungsgemäß funktioniert. Das Schichtpersonal hat das Ereignis gemäß den Bestimmungen im Betriebshandbuch abgearbeitet.
Sogar Greenpeace-Mann Heinz Smittal kommt zu Wort:
"Dieses Atomkraftwerk darf nicht mehr ans Netz gehen."
Im Anschluss erläutert die Firma ausführlich, warum sie das anders sieht und gelobt Besserung.
Während am Himmel über Wolfenbüttel Gewitterwolken drohen, ist Sigmar Gabriel in seinem Element:
"Trotzdem muss man eins sagen: Bei einem Kraftwerksbetreiber gibt es das prinzipielle Problem, dass sie sich sperren, sehr stark sperren gegen die Anwendung des heutigen Stand von Wissenschaft und Technik. Das ist eines der Hauptprobleme, einfach weil sie nichts mehr investieren wollen in die Kraftwerke."
Gabriel hat es sogar geschafft, dass sich der atomkrafttreue Regierungspartner CDU/CSU kritisch gegenüber Vattenfall äußert - mit tatkräftiger, wenn auch unfreiwilliger Hilfe Vattenfalls: Unter anderem fiel bei der Ursachensuche früh eine Nachlässigkeit auf. So hätte im Transformator ein Kontrollgerät angebracht werden sollen, das vor Kurzschlüssen warnt. Doch Vattenfall hatte es nicht eingebaut. Eine andere Auflage hat das Unternehmen nicht umgesetzt: Als Lehre aus dem Störfall vor zwei Jahren sollte auf der Leitwarte eine Stimmaufzeichnung installiert werden, denn damals hatte ein Missverständnis die Situation verschärft. Vattenfall begründet die Unterlassung mit datenschutzrechtlichen Bedenken.
Beides wirft kein gutes Licht auf den Konzern. Kein Wunder also, dass Zweifel an seiner Kompetenz als Betreiber aufkommen. Es geht hierbei besonders um das Thema "Sicherheitskultur". Der Begriff ist im Nachgang der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl geprägt worden. Lothar Hahn, Geschäftsführer der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit in Köln, der seinerzeit vom damaligen grünen Umweltminister Jürgen Trittin mit der Leitung der GRS beauftragt worden ist:
"Es gibt eine wunderbare Definition von der IAEA, die besagt, dass Sicherheitskultur ist - das klingt jetzt ein bisschen holprig, weil ich das direkt übersetze: Sicherheitskultur ist die Gesamtheit der Eigenschaften und Verhaltensweisen in Organisationen und bei einzelnen Mitarbeitern, welche sicherstellt, dass Sicherheitsfragen die überragende Bedeutung bekommen, die ihnen zusteht."
Anders ausgedrückt: Sicherheit muss vor Wirtschaftlichkeit gehen.
"Die Betreiber sind als Erstes in der Pflicht natürlich, die Anlage sicher zu betreiben. Die Betreiber sind als Erstes in der Pflicht. Und der macht das auch mit vielen Sachverständigen und anderen zusammen. Und dann greifen natürlich in einer zweiten Stufe die Aufsichtsbehörden, die genehmigen und überwachen","
sagt Stefan Birkner, Staatssekretär im Umweltministerium von Niedersachsen. In den fünf Bundesländern, in denen derzeit Kernkraftwerke laufen, kontrollieren Landesbehörden die Betreiber im Auftrag des Bundes - und der Bund kontrolliert die Länder, wobei beide Instanzen unabhängige Experten hinzuziehen.
Eine solche Aufgabenteilung ist international einmalig - in Deutschland mit seinem föderalistischen System ist es jedoch gängige Praxis. Der Bund verfährt wie bei etwa bei der Finanzverwaltung auch. Allerdings zieht das arbeitsteilige System der Atomüberwachung schon seit den Tagen Jürgen Trittins Kritik auf sich, denn es beschneidet ein Stück weit den Einfluss des Bundesumweltministeriums. Unter Kanzler Helmut Kohl legten die rot-grünen Landesregierungen in Hessen und Niedersachsen das Regelwerk streng aus, sodass die schwarz-gelbe Bundesregierung immer wieder von ihrer Weisungsbefugnis Gebrauch machte. Inzwischen läuft das Spiel mit umgekehrten Vorzeichen.
Es geht um Machtfragen und ideologische Unterschiede, die mit der unterschiedlichen Einschätzung der Rolle der Kernenergie zusammenhängen - ob Ausstieg oder Weiterbetrieb. Das erschwert die Kommunikation zwischen allen Beteiligten. Dabei ist Kommunikation für die Sicherheitskultur zentral.
""Da muss ich sagen, da haben wir in Deutschland massivste Defizite. Man muss sagen, dass zwischen den handelnden Organisationen und Institutionen ein Klima des Misstrauens herrscht. Das ist weit verbreitet zwischen dem Bund und den Ländern, innerhalb der Bundesregierung, zwischen den verschiedenen Ressorts" beim Umwelt- und beim Wirtschaftsministerium, und zwischen dem Bundesamt für Strahlenschutz und dem Bundesumweltministerium, urteilt Lothar Hahn.
"Zwischen Betreibern und Behörden ist die Kommunikation so schlecht, so miserabel, dass ich befürchte, dass die Sicherheit darunter leiden wird über kurz oder lang, und dieses Misstrauen ist ein Anzeichen dafür, dass die Sicherheitskultur nicht gut ausgebildet ist in Deutschland.""
Oft stehen Machtfragen im Vordergrund. Früher wurden etwa Empfehlungen, die das technische Beratergremium der Reaktorsicherheitskommission in Sachfragen ausgesprochen hat, vom Umweltministerium umgesetzt. Inzwischen ist das nicht mehr unbedingt der Fall.
"Im tagtäglichen Umgang traut man sich nicht über den Weg, Informationen fließen nicht so, wie es sein müsste, die Betreiber, okay, sagen sich natürlich auch, was kommt denn auf mich zu, wenn ich jetzt etwas melde, was hängt da hinten dran, was wird man mir noch anhängen. Es gibt keinen vertrauensvollen Umgang."
Reibungsflächen gibt es viele. Etwa die Debatte, ob ältere Anlagen grundsätzlich schlechter sind als neuere:
"Das ist vielleicht als Arbeitshypothese zunächst einmal verständlich, aber im Detail das nachzuweisen ist ganz schwer. Denn es ist zwar richtig, dass die technischen Auslegungsmerkmale bei älteren Anlagen schlechter sind oder weniger umfassend als bei neueren Anlagen. Aber Sicherheit ist nicht nur eine Frage der technischen Auslegung, sondern auch Sicherheitskultur. Da sprechen wir drüber, Ausbildung des Personals, Ausbildung der Leute, die die Anlage warten, überprüfen, die Frage, was ist nachgerüstet worden im Laufe der Jahre. Man kann auch alte Anlagen sehr geschickt nachrüsten. Man kann nicht alles nachrüsten, zum Beispiel die Auslegung gegen Flugzeugabsturz, da kann man in der Regel nichts mehr machen, aber es gibt andere Dinge, wo man durchaus vernünftige Nachrüstmaßnahmen umsetzen kann, und da ist die Frage, wie ist es zu bewerten dann, und das ist nicht ganz einfach."
Nach Lothar Hahn ist es kein Naturgesetz, dass jede alte Anlage einer neueren unterlegen ist:
"Manche Anlagen sind sehr gut gepflegt worden, bei anderen Anlagen hat man da nicht so viel investiert. Das hängt dann unter anderem wieder ab unter anderem vom Verhältnis zwischen der jeweiligen Aufsichtsbehörde im Land und dem Betreiber. Ist das ein gutes Verhältnis, ein offenes Verhältnis, hat nichts mit Kumpanei zu tun, überhaupt nichts, ein vertrauensvolles Verhältnis miteinander, da wird sicherlich der Betreiber eher bereit sein nachzurüsten, als wenn er nicht weiß, welche Risiken er im Genehmigungsverfahren eingeht."
Der Machtkampf, der auf vielen Ebenen ausgetragen wird, behindert sogar vergleichsweise einfache Aktionen wie die Evaluierung der zweigleisigen deutschen Atomaufsicht durch die Internationale Atomenergiebehörde IAEA in Wien:
"Unser Ziel war die kontinuierliche Verbesserung der atomrechtlichen Überwachung der Sicherheit der Kernkraftwerke unter den in Deutschland gegebenen Rahmenbedingungen, als da sind derzeit der weiterhin geltende Atomausstieg, die Alterung der Anlagen, unsere Anlagen sind natürlich alle schon etliche Jahre alt, dann die Strommarktliberalisierung."
Oskar Grözinger, Abteilungsleiter Kernenergieüberwachung am baden-württembergischen Umweltministerium. Das Bundesumweltministerium hatte die Überprüfung in Auftrag gegeben - aber außer dem Bund nahm nur ein einziges Bundesland daran teil:
"Nämlich Baden-Württemberg. Und Baden-Württemberg hat auch nach unserem Eindruck eine ausgesprochen gute Atombehörde. Die anderen Bundesländer haben sich verweigert. Das ist ja schon mal, als ich spitzt das mal politisch ein bisschen bösartig zu: Sie haben sich verhalten wie der Iran, der die Atomaufsicht auch nicht einlässt","
wettert der Bundesumweltminister Sigmar Gabriel. Warum verweigerten sich Bayern, Hessen und Niedersachsen? FDP-Mann Stefan Birkner vom Umweltministerium Niedersachen:
""Wir standen dieser Mission, das kann man deutlich sagen, auch sehr kritisch gegenüber, weil wir halt wissen, wie der Herr Bundesminister agiert. Baden-Württemberg hat sich dann, auch nach Rücksprache mit den anderen Ländern, bereit erklärt, das zu machen."
Und nahm an der Evaluation teil. Übrigens: Das deutsche System mit der verteilten Atomaufsicht schnitt bei der Bewertung gut ab - wenn auch mit Verbesserungspotenzial: etwa bei der personellen Situation. Denn die Atomaufsicht wird nicht anders behandelt als die Registratur: Frei werdende Stellen dürfen erst einmal nicht besetzt werden, sodass es keine Übergangszeiten für die Einarbeitung gibt. Verbesserungspotenzial sieht die IAEA auch dabei, dass sich die Länder mehr an internationalen Entwicklungen orientieren sollten. Das sieht das System aber nicht vor: Die Mitarbeiter des Bundes sollen den Kontakt nach außen halten. Die Experten bei den Ländern bekommen deshalb Diskussionen oft nur aus zweiter Hand mit. Vor allem aber konstatierte die IAEA das Vertrauensdefizit. Oskar Grözinger:
"Die IAEA hat uns empfohlen, wir mögen unsere Zusammenarbeit zwischen Bund und Länder über den sogenannten Länderausschuss für Atomenergie intensiver nutzen beziehungsweise wir sollen anstreben, vertrauensvoller zusammenzuarbeiten."
Für Umweltminister Sigmar Gabriel ist das Problem einfach gelöst: Er möchte die Atomaufsicht ganz in den eigenen Händen halten:
"Bei uns ist das so, dass der Bund sozusagen die Alltagsarbeit, also die konkrete Beurteilung, darf ein Kraftwerk ans Netz, darf es nicht ans Netz, was wird geprüft, was gibt es für Auflagen, den Ländern übertragen hat. Wenn wir den Eindruck haben, dass die Länder das nicht vernünftig machen, da können wir nach dem Atomgesetz von unseren Weisungsmöglichkeiten Gebrauch machen. Aber sie müssen sich das so vorstellen, die operative Kompetenz, auch die Anzahl von Menschen, die Leute, die das jeden Tag machen, das sitzt natürlich in den Ländern."
Derzeit hätte der Bund in seiner Abteilung Reaktorsicherheit nicht das Personal, selbst in den Kernkraftwerken nach dem Rechten zu schauen. Schon allein, weil aufgrund der vom Finanzminister verordneten Einsparungen viele Stellen gestrichen worden sind.
Außerdem wehren sich die Länder vehement gegen die Zentralisierung. Sie sehen darin keinen Vorteil. Stefan Birkner vom Umweltministerium Niedersachen:
"Man hat eine Vielfalt von Experten zusammen, die auch mit ganz unterschiedlichen Blickwinkeln jeweils aus ihrer Ländersituation die Dinge betrachten. Und in solchen Kreisen entstehen dann auch richtig gute Lösungen, um die Sicherheit immer weiter nach vorne zu bringen. Man hat durch dieses zweistufige System auch immer ein System gegenseitiger Kontrolle und gegenseitige Befruchtung, und dadurch am Ende ein System, was immer wieder sich selbst verbessert. Und deshalb glaube ich, ist das schon ein vernünftiges System - wenn man es denn nicht versucht parteipolitisch zu missbrauchen, damit kann man natürlich so etwas beschädigen. Und das darf nicht passieren."
Die Idee, die Atomaufsicht zusammenzuführen, ist nicht neu. Sie stammt aus den Zeiten von Grünenumweltminister Jürgen Trittin. Eine Weile lang schien dem Ministerium das schwedische Modell attraktiv zu sein. Anders als in Deutschland, wo die Atomaufsicht fast jeden Tag vor Ort ist, um irgendetwas zu kontrollieren oder zu besprechen, setzt Schweden darauf, nur die Prozesse und Konzepte zu prüfen. Für die Kontrolle vor Ort ist der Betreiber selbst zuständig. Das erlaubt eine wesentlich schlankere Verwaltung und - bei einer Ansiedlung im Ministerium - politisch kontrollierte Entscheidungswege. Mit dem Störfall im Vattenfall-Kraftwerk Forsmark zeigten sich die Schwächen des Modells. Also verschwand das Ganze in der Schublade - um jetzt in einer neuen Form aufzuerstehen. Sigmar Gabriel:
"Wir werden in den nächsten Jahren, jedenfalls, wenn das Atomgesetz Bestand hat, und sich CDU und CSU sich nicht durchsetzen, dann werden wir in den nächsten vier Jahren mindestens sieben, mit Krümmel hoffentlich acht Kraftwerke vom Netz gehen lassen. Dann haben wir noch neun Atomkraftwerke. Es macht keinen Sinn, dafür eine Bundesaufsicht und fünf Länder zu haben, sondern schon um die Qualität der Atomaufsicht beizubehalten, muss man das dann zentralisieren. In diesem Vollzug des Atomausstiegs bin ich sehr dafür, dass wir dann eine Bundesbehörde einrichten, die qualifizierten Leute der Länder zusammenziehen, und das Ganze von einer zentralen Behörde überwachen und prüfen lassen. Sonst habe ich große Sorgen um die wirkliche Fähigkeit der Länder, diese Sicherheitsfragen auch wirklich qualitativ hochwertig zu bearbeiten."
Das sehen nicht nur die Länder anders, sondern auch die Industrie. Schnell auflösen ließen sich die Länderbehörden keineswegs, erklärt Dieter Marx, Generalbevollmächtigter des Deutschen Atomforums, das die Betreiberinteressen vertritt:
"Da übersieht er noch etwas: Nicht nur im Betrieb braucht man eine Atomaufsicht, sondern auch während der Stilllegung. Das heißt, selbst wenn die Anlagen in der Stilllegung sind, brauchen sie die gleiche Aufmerksamkeit und die gleiche Überwachung."
Es ist Wahlkampf - und in der Jagd um Stimmen werden in der Atomsicherheit Sachfragen zum Vehikel der Debatte gemacht. Das stimmt Lothar Hahn von der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit besorgt:
"Momentan haben wir die Sache mit Krümmel, wir haben Wahlkampf, das ist unübersehbar, wird auch kein Hehl daraus gemacht, und ich halte es für unverantwortlich, Wahlkampf zu machen in nuklearen Sicherheitsfragen, wo man die Bevölkerung verunsichert, ob man jetzt übertreibt oder ob man abwiegelt, das will ich jetzt gar nicht werten, ich will auch keine angreifen, ich will keinem etwas vorwerfen, hier gibt es keinen, der nicht auch ein bisschen Schuld an der Situation hat."
Selbst Sachfragen, an denen die Experten seit Jahrzehnten arbeiten, werden instrumentalisiert. Ein Beispiel: In allen Druckwasserreaktoren gibt es einen denkbaren Störfall, bei dem die Kühlmittelleitungen für den Reaktorkern abreißen, woraufhin das Kühlwasser herausschießt und Isoliermaterial mitreißt. Das kann die Notkühlung verstopfen - und man hätte ein Riesenproblem. Seit den 90er-Jahren ist das bekannt:
"Die Störfallnachweise dafür, dass man das im Griff hat, dass das nicht passieren kann, die waren nur sehr schwer zu erbringen. Das Land Niedersachsen zum Beispiel, damit es sich überhaupt bereit erklärt, einen vernünftigen Nachweis zu erbringen und nicht nur Stückwerk, musste ich als Bundesaufsicht nach Art. 65 Grundgesetz eine richtige Weisung an das Land Niedersachsen herausgeben."
Für Stefan Birkner vom Umweltministerium Niedersachsen ist dieser Angriff Wahlkampfgetöse:
"Und das ist der Vorwurf, den wir dem Bund machen müssen, in dem Fall dem Bundesminister Gabriel ganz konkret, dass er leichtfertig seine Aufsichtsfunktion parteipolitisch missbraucht, um einen kurzfristigen Erfolg zu haben, aber dabei in Kauf nimmt, die wichtige vertrauensvolle Zusammenarbeit zu gefährden."
Lothar Hahn von der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit ist entsetzt über das Schauspiel, das derzeit aufgeführt wird. Er ist ernsthaft besorgt. Als die IAEA ihn bei der Evaluierung der deutschen Atomaufsicht fragte, was er sich wünschen würde, wenn er drei Wünsche frei hätte, antwortete er:
"Da habe ich kurz überlegt und gesagt. Erstens würde ich mir wünschen eine drastische Verbesserung der Sicherheitskultur dahin gehend, dass die Kommunikation zwischen den Beteiligten funktioniert, zweitens eine Reform der Informationsflüsse, was sicherheitsrelevante Informationen angeht, und drittens kompetente Aufsichtsbehörden."