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Vertreibung aus Schlesien

Theodor Buhl beschreibt in seinem Roman "Winnetou August" die Erinnerungen an die Vertreibung seiner Familie aus Schlesien. Es ist der Versuch, die Leiden der deutschen Zivilbevölkerung ohne Kitsch und Pathos darzustellen.

Von Katja Kückert |
    Zu einer Vertreibung gehört meist ein Paradies. Theodor Buhls Paradies liegt im berschlesischen Lublinitz, wo er bis kurz vor Kriegsende mit seinen Eltern und seinem älteren Bruder Willy lebte. Die Familie hatte nicht viel Geld, doch es reichte für ein kleines Haus und bescheidenen Wohlstand. Vater August verachtete die "braunen Kackebrüder", wie Buhl formuliert, und lies sich dennoch in die NSDAP einschreiben, um Inspektor an der örtlichen Irrenanstalt werden zu können.

    Im Nachhinein gesehen war der Lublinitzer Aufbruch 45 das Ende meines Kindseins. Denn als August Anfang Januar, als beinah nichts mehr in den Schränken lag, die Wohnung musterte und mit den Augen an den prallen Ledersesseln hängenblieb und meinte. "Die Russen wer' n sich freuen!"- hörte ich mich plötzlich sagen. "Schneidet doch das Leder raus, das kann man gut gebrauchen!" "Der Junge hat recht!" sagte August und guckte Elfriede an. Elfriede sträubte sich: "Die schöne Garnitur! – die sah im Geiste alles abgehäutet vor sich - "Und wenn wir wiederkommen, August!?"

    Sie kamen wieder, doch nichts sollte mehr so sein, wie zuvor. Der mehrmonatige Fluchtweg führte zu Freunden und Verwandten, die in Plagwitz, Bunzlau und an verschiedenen anderen Orten im heutigen Polen lebten. In Dresden konnte die Familie noch kurz vor dem Angriff der Alliierten die Stadt verlassen. Über zwanzig Jahre lang hat Theodor Buhl an dem Manuskript für seinen Roman: "Winnetou August" gefeilt, es immer wieder um- und neugeschrieben. Und obwohl sich Heinrich Böll und Peter Rühmkorf für seine Erinnerungen an die Vertreibung aus Schlesien begeistert hatten, fand das Buch lange Zeit keinen Verlag, erzählt Theodor Buhl:

    "Ich habe mein erstes Manuskript, Heinrich Böll geschickt, weil ich mir gedacht habe, das interessiert ihn und er hat es auch gelesen, und dann hat er mir geschrieben und mich gefragt, ob er sich bei einem Verleger für mich einsetzen darf und natürlich war ich begeistert. Er hat auch dem Verleger geschrieben, aber der Verleger wollte dann nicht. Und dann habe ich das Manuskript mal an Peter Rühmkorf geschickt und bei dem war ich überrascht, wie gut seine literarische Kritik war, er hatte die Finger auf die Wunde gelegt und da konnte ich weiterarbeiten."

    Jahrelang hat Theodor Buhl um einen spezifischen Ton gerungen, der die Sichtweise eines achtjährigen Jungen treffen würde, denn er selbst gehörte zu jener Generation von Kindern, die noch zu jung waren, um im Krieg als Soldaten zu kämpfen, aber doch schon alt genug, um Gewalt und Grausamkeit zu erleben und zu durchfühlen. Auch sein literarisches Alter Ego Rudi Rachfahl erfährt immer wieder grausame Plünderungen durch russische Soldaten. Mit allen Mitteln versucht seine Mutter zu verhindern, dass die Kinderaugen abscheuliche Vergewaltigungsszenen mit ansehen müssen.

    Wie sie kreischen, wenn man zwischendurch zum Atemholen auftaucht, weil Elfriede einem immer wieder dieses heiße Kissen aufs Gesicht drückt, dass man kämpfen muss mit ihr, um Luft zu kriegen - schweißnass hochkommt aus dem Deckbett- "Nimm mich Nimm mich Sie ist doch noch ein Kind! - und ohne dass man etwa sehen könnte, hört, wie sie weiter unters Bettgestell will- kriechend und an den Sprungfedern zerrend unter der Mutter – und wie sie dicht neben mir sich den Körper heranziehen an den Beinen und sich um den schreienden Kopf unterm Bett nicht kümmern – sie aufreißen, dass man sie schlagen hört auf den Dielen, und wie sie keucht am Ende, wenn sie wechseln.

    In sechzehn Kapiteln beschreibt Theodor Buhl - sehr detailgetreu auch in den schlesischen Formulierungen - seine Kriegserfahrungen. Er führt dabei die Perspektive des erwachsenen Erzählers und die des Kindes eng nebeneinander. Wenn das Erlebte unerträglich wird, wechselt der Icherzähler zu einem verallgemeinernden "man" oder zitiert Schuberts Lied von der Forelle: sah's mit kaltem Blute wie sich das Fischlein wand - gemeint ist da das vergewaltigte Mädchen. Auffällig viele Gedankenstriche werden dabei offenbar zum grafischen Mittel, um den Fluss der Erinnerungen nicht abreißen zu lassen. Er habe sich beim Schreiben oft viele Stunden am Tag auf die über sechzig Jahre lang zurückliegenden Ereignisse konzentriert, da er nicht auf Tagebücher, sondern nur auf die eigenen Erinnerungen zurückgreifen konnte, erzählt Buhl:

    "Alles, was Sie da lesen, ist erlebt. Alles. Die Erinnerungen sind ja nicht wie Filmbilder, sie sind ja oft sehr vage, haben aber einen psychischen Grundton. Das kann sich verbal ausdrücken oder bildhaft. Sie haben einen Sound, den in der Sprache wiederzuerwecken oder ihm nahe zu kommen, das ist ja das Problem."

    Theodor Buhl kennt die Facetten der Vertriebenendebatte und weiß, dass er sich mit seiner Geschichte auf ein schwieriges politisches Terrain begibt und dennoch findet man in seinem sehr handlungsreichen und mitunter spannenden Roman weder Heimattümelei und noch Revanchismus.

    "Das alles hat nichts mit mir zu tun. Aber das Ganze musste man natürlich im Zusammenhang sehen, warum hatten sie keine Heimat mehr? Das ist ja nicht aus heiterem Himmel gekommen, das war die Folge des Krieges, den die Deutschen angefangen hatten. Es hat zunächst ein Tabu gegeben, über die Opfer unter der Deutschen Zivilbevölkerung zu reden und dieses Tabu war auch berechtigt, wir konnten nicht, nachdem was wir als Deutsche getan hatten, konnten wir nicht, nach dem Krieg aufstehen und sagen, wir hatten auch viele Opfer. Das wäre schief gewesen und völlig unangemessen. Aber man kann nicht 65 Jahre nach dem Krieg sagen, diese Opfer gibt es nicht, auch diese Opfer müssen einen Namen und einen Ort haben."

    Theodor Buhl studierte an der Kunstakademie in Düsseldorf, für eine Künstlerkarriere habe das Talent nicht gereicht, deshalb sei er Lehrer geworden, sagt er. Neben literarischen Anspielungen und Zitaten sind es vor allem immer wieder Beschreibungen von Kunstwerken, die er den kundigen Leser entdecken lassen will. So zum Beispiel zeigt ein Blick aus einem Zugfenster die Alexanderschlacht des Renaissance-Malers Albrecht Altdorfer, mit einer aufgehenden Sonne rechts im Bild und einem aufgehenden Mond am linken Bildrand.
    "Und die Funktion des Lichts, die Fackel, die man dreihundert Kilometer weit sehen wird, das ist die Aufklärung, wenn eine Zivilisation, die von der Aufklärung geprägt ist, so etwas macht."

    Die Rachfahls kommen dank des unsichtigen Vorgehens von Vater August durch, und überleben das mühsame "Trekken" mit dem Handwagen, bis sie schließlich auf einen Zug, der in den Westen fährt, geraten. Der tragische Antiheld August hat aus dem Ersten Weltkrieg die "Knoche", seinen gelähmten linken Arm davongetragen. Er säuft regelmäßig, ist aber ansonsten mit einem ziemlich wachen Instinkt ausgestattet und weiß im Zweifelsfall, wie man an den Wachposten vorbeikommt, wo sich noch ein paar Kartoffeln ergattern lassen, und vor allem, dass auch die geistige Nahrung nicht zu kurz kommen darf - trotz Krieg und widriger Zeiten.

    Der Kopp verhungert ganz genauso wie der Körper ohne Futter

    Als er eines Tages in einem verlassenen Haus eine private Bibliothek entdeckt, stiftet er seine Söhne zum geistigen Mundraub an. "Der Untergang des Abendlandes", ein Buch über die Römische Geschichte und was die Jungen besonders interessiert: Mehrere Bände Karl May gehören zu ihrer Beute. Von da an entwickelt sich ein Lesewettlauf zwischen den beiden Brüdern, und in Rudis Wahrnehmung der täglichen Gräuel mischen sich die Lektüreerfahrungen.

    "Mein Vater ist stärker und Winnetou ist stärker. Das weiß jedes Mitglied der Familie instinktiv, dass bei ihm Sicherheit ist. Aber das Kind braucht ja auch die Lektüre aus ganz anderen Gründen, wenn es diese furchtbaren Verletzungen erlebt oder die Gewalttaten, wenn dieser kleine Wenzel totgeschlagen wird und man hört das jede Nacht, der Junge vergleicht das mit Karl May. 'Hier ist die Bastonade wirklich geworden', jetzt kann er das einordnen. Das Kind hat die Möglichkeit das zu kompensieren, was ihm angetan wird und das ist die Funktion der Karl May Lektüre."

    Allerdings irrt auch Karl May zuweilen: Im zweiten Winnetou-Band heißt dessen Pferd plötzlich Rih und nicht mehr Swallow. Als Rudi diesen Fehler entdeckt, wird ihm schlagartig klar und das ist natürlich auch ein allzu deutlicher Wink an den Leser, dass Winnetou nur erfunden ist, wie eben Literatur immer fiktiv ist, auch wenn sie auf autobiografischen Tatsachen beruht.

    Theodor Buhl: "Winnetou August", Eichborn Verlag, 315 S., 19,95 Euro.