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Verurteilt, gerettet und begnadigt

Unendlich lange hat es gedauert. Acht Jahre in libyscher Gefangenschaft, und dann ging plötzlich alles ganz schnell - im wahrsten Sinne des Wortes über Nacht. Seit heute morgen sind die fünf bulgarischen Krankenschwestern und ein Arzt wieder frei. Ihnen war vorgeworfen worden, mehr als 400 Kinder in einem libyschen Krankenhaus mit dem Aids-Erreger HIV infiziert zu haben.

Beiträge von Volker Finthammer und Esther Saoub, Redaktion: Hans-Jürgen Bartsch |
    Die Sechs sind dafür zum Tode verurteilt, durch internationale Gespräche gestern gerettet und heute morgen schon vom bulgarischen Staatspräsidenten begnadigt worden. Eine Chronologie der Ereignisse von Esther Saoub.

    "Todesschwestern" hießen die bulgarischen Pflegerinnen in Libyen, bis heute glauben viele an ihre Schuld. Der Oberste Richterrat hat diesen Glauben indirekt bestätigt, indem er das Todesurteil in eine Haftstrafe umwandelte, statt die sechs Ausländer zu begnadigen. Eine Hinrichtung haben sich aber selbst die Opferfamilien nicht gewünscht:

    " Ich will, dass meine Tochter und meine Frau behandelt werden, und alle anderen Kinder. Und zwar im Ausland. Eine Hinrichtung hätte niemandem genutzt, im Gegenteil. Wir brauchen die Sympathie des Westens, für die Kinder und für Libyen. "

    Muhammads Tochter Marwa war ein Jahr alt, als sie sich mit dem Aids-Virus infizierte, heute ist sie elf. Seine Frau hat sich übers Stillen angesteckt. Regelmäßig kommt die Familie in ein Krankenhaus in Bengazi zur Behandlung, nur hier fühlen sich die infizierte Marwa und ihre gesunde Zwillingsschwester wohl, denn niemand schaut sie schräg an:

    " Auf der Straße rufen die Kinder: du hast doch Aids. "

    Die Kinder und ihre Familien leben fast völlig isoliert von Freunden und Familien, die Leute kennen die Krankheit nicht, sagt Mutter Amal, sie haben Angst davor. Und der Vater Muhammad fügt hinzu:

    " Wir haben es allen Verwandten sofort gesagt, als wir erfuhren, dass Marwa Aids hat, seitdem besucht uns niemand mehr. Höchstens zu den großen Festen, kommen die Großeltern, aber Kinder bringt niemand mit, sie haben Angst, vor der Ansteckung, sogar über den Atem! "

    Aids ist eine tabuisierte Krankheit in Libyen, ein Stigma, über das man nicht spricht, auch nicht im Krankenhaus. Als daher im Februar 1999 bekannt wurde, dass sich über vierhundert Kinder ganz offensichtlich in einer Kinderklinik infiziert hatten, war es die naheliegendste Lösung, die Schuldigen außerhalb des Landes zu suchen.

    " Am 9. Februar haben sie ungefähr 20 bulgarische Krankenschwestern und einen Arzt festgenommen. Ohne Haftbefehl, ohne Papiere, nichts. Sie haben sie entführt, wie Terroristen, verstehen sie? Sie haben ihnen die Augen verbunden, sie geknebelt, gefesselt und geschlagen. Erst später haben sie dann kapiert, dass das Polizisten waren, die sie nach Tripolis in eine Polizeistation gebracht haben. "

    Dr. Zdrawko Georgiew, Ehemann der Schwester Kristina Valtscheva, wurde einen Tag danach ebenfalls verhaftet, später jedoch frei gesprochen. Ausreisen durfte er allerdings bis heute morgen nicht. In einem früheren Telefoninterview beschrieb er uns die Verhöre und Haftbedingungen:

    " Sie haben mich geschlagen und verlangt, dass ich die Wahrheit sage, ich habe gefragt, welche Wahrheit, ich wusste gar nicht, was sie wollen. Dann haben sie mich in eine unterirdische Zelle gesperrt, zwei Monate habe ich kein Licht gesehen, keine Toilette, kein Wasser, nichts. Ich bin verrückt geworden. Es war psychologische Folter. Die Schwestern und den palästinensischen Arzt haben sie mit Schlägen gefoltert, mit Elektroschocks, sie wurden von Hunden und Insekten gebissen, noch nicht einmal Tiere würde man so behandeln - die ersten acht Monate waren wirklich fürchterlich. "

    Die libysche Polizei erreicht zunächst was sie will: einige der Angeklagten gestehen, widerrufen allerdings später, und erheben ihrerseits den Vorwurf der Folter. Für Georgiew ist die ganze Anklage absurd:

    " Meine Frau und ich kannten die anderen Krankenschwestern gar nicht. Aber die Libyer haben das Szenario entworfen, dass wir eine Gruppe seien, kontrolliert von CIA und Mossad. Das ist absoluter Unsinn. Wir hatten niemals mit diesen Geheimdiensten zu tun. Für Geld hätten wir diese schmutzigen Dinge getan, haben sie gesagt. Dabei haben meine Frau und ich nie in diesem Krankenhaus gearbeitet. Aber sie haben meine Frau als Chefin der Gruppe hingestellt. "

    Es folgen verschieden Gerichtsverfahren, und schließlich, im Mai 2004, das erste Todesurteil. Dabei ist die Beweislage mehr als dünn, al-Tuhami al-Tumi, Anwalt des palästinensischen Arztes:

    " Alle Gutachten wurden von libyschen Experten verfasst. Sicher, die Wissenschaftler haben ihr bestes getan, aber das reicht eben nicht aus, um die Wahrheit herauszufinden, unsere Erfahrung auf dem Gebiet ist einfach noch zu gering. Wir brauchten also Gutachten aus dem Ausland, und wir haben dem Gericht auch zwei vorgelegt, ein französisches und ein italienisches, und beide haben die Angeklagten von jeder Schuld frei gesprochen."

    Das Gericht lässt diese Gutachten und weitere schlicht nicht gelten. Auch nicht im Berufungsprozess 2006. Kurz vor der Urteilsverkündung schreiben Wissenschaftler aus aller Welt einen offenen Brief an Staatschef Ghaddafi, der die Freilassung der Angeklagten fordert. Dennoch entscheidet der Strafgerichtshof am 19. Dezember 2006 auf schuldig, eine erneute Berufung wird sechs Monate später abgelehnt. Es folgen drei Wochen feilschen um Entschädigung und Finanzhilfen, an deren Ende die Ausreise und Begnadigung der Ausländer steht. Der Vorwurf der Schuld ist noch immer nicht vom Tisch, aber die EU hat eine neue Seite aufgeschlagen, Gaddafi wird belohnt, mit einer engeren Bindung an Europa.

    Der Erfolg, er hat wie immer viele Väter. Außenminister Frank-Walter Steinmeier verweist auf die deutsche EU-Ratspräsidentschaft, die den Weg für bessere Beziehungen zu Libyen geebnet habe. Briten und nicht gerade wenige EU-Diplomaten haben ganz sicher ebenfalls einen großen Anteil daran. Doch in den letzten Stunden und Tagen trat das Ehepaar Sarkozy auf die internationale Bühne, vor allem die Ehefrau des französischen Staatspräsidenten mischte kräftig mit - und selbst französische Zeitungen fragen da mehr als kritisch: was hat Gattin Cecilia auf solch hohem diplomatischen Parkett verloren? Volker Finthammer aus unserem Brüsseler Studio.

    Geradezu überschwänglich dankt Kommissionspräsident Manuel Barroso dem französischen Präsidenten und dessen Frau für ihr Engagement bei die Freilassung der fünf bulgarischen Krankenschwestern und des palästinensischstämmigen Arztes. Die Rolle des französischen Präsidenten wird noch zu klären sein und ob er durch die französischen Drähte zum Emir von Katar wirklich der letzte Hebel war, der die Auslieferung der Inhaftierten möglich gemacht hat.

    Auch die Rolle der EU sieht nur vom Ende her wirklich gut aus. Jetzt sollen die Beziehungen der EU zu Libyen so schnell wie möglich normalisiert werden, sagt EU Kommissionspräsident Manuel Barroso. Dabei hatten die Beziehungen zu Libyen für Brüssel in den ersten Jahren nach der Verhaftung deutlich Vorrang vor der Hilfe für die Gefangenen.

    Das lag nicht nur daran, dass Bulgarien nicht zur EU gehörte, sondern auch an den eigenen Interessen der Gemeinschaft. So pflegt etwa Italien traditionell enge Bande zu Tripolis, die der frühere Ministerpräsident Silvio Berlusconi nicht in Frage stellen wollte. Die übrigen EU-Mitglieder ließen die Italiener damals gerne gewähren, schließlich verfügt Libyen über große Ölreserven, auf die man in Zeiten schwieriger Energievorsorgung nicht ohne weiteres verzichten will.

    Von daher war es durchaus ein Einlenken, als die EU Kommission vor zwei Jahren beschloss, sich der Sache der bulgarischen Krankenschwestern und des palästinensischen Arztes anzunehmen. Für die eingesperrten Sechs war es zugleich die entscheidende Wende, denn Bulgarien allein hatte sechs Jahre lang nichts erreicht in Libyen - und daran hätte sich ohne den Einsatz der EU auch nichts geändert.

    " Zuvorderst möchte ich der Europäischen Union und den Mitgliedsländern herzlich danken und ganz persönlich Benita Ferrero Waldner, für ihre engagierte Führungsrolle in diesem Fall. Sie war die erste Kollegin die mich bereits im Jahr 2002 aufforderte, den Kampf und die Freilassung zu einem der Europäischen Union zu machen. "

    Sagte der bulgarische Außenminister Passy Solomon 2005, also zwei Jahre vor dem Beitritt Bulgariens zur EU. Der oberste Gerichtshof Libyens hatte wegen Verfahrensfehlern einen neuen Prozess angeordnet und damit die über ein Jahr zuvor ausgesprochene Todesstrafe aufgehoben, was Außenkommissarin Ferrero Waldner als konkrete Chance sah, um das Blatt für die Inhaftierten zu wenden.

    Von einem fairen Prozess konnte nie die Rede sein und es gibt bei allen Versuchen, diese tragische Geschichte zu verstehen, keine rational nachvollziehbaren Motive. Was es aber gibt, sind Schnittmengen zum Fall Lockerbie - jenem Sprengstoffanschlag auf ein amerikanisches Passagierflugzeug vor fast 20 Jahren, bei dem 270 Menschen ums Leben kamen und für den ein libyscher Geheimdienstmitarbeiter in Großbritannien in Haft sitzt. Dieser Gefangene wurde erst nach jahrelangen Sanktionen der Vereinten Nationen an das Gericht in den Niederlanden überstellt, im gleichen Jahr als das Krankenhauspersonal ins Gefängnis wanderte.

    Die Inhaftierten wurden politisch missbraucht und war Teil eine verqueren Strategie, die vor allem eines zum Ziel hatte: Die Rehabilitation des Regimes in Tripolis

    Auch die ursprünglich geforderte Summe von 10 Millionen Euro pro Kind entsprach dem Betrag, den Libyen den Angehörigen der Opfer des Bombenanschlags von Lockerbie zugesagt hatte.

    Nachdem Libyen das Attentat von Lockerbie eingestanden und Entschädigungen für die Angehörigen der Opfer geleistet hatte, wurden die Embargomaßnahmen der Vereinten Nationen im September 2003 vollständig aufgehoben. Ein Jahr darauf nahmen Frankreich und Großbritannien wieder diplomatische Beziehungen zu dem Land auf. Für die EU wurde Libyen zudem immer wichtiger um die unerwünschte illegale Einwanderung einzudämmen.

    Doch um den Weg für eine engere Zusammenarbeit frei zu machen, galt es das Problem des Inhaftierten und vom Tode bedrohten Krankenhauspersonals zu lösen. Bereits 2005 hatte die EU den Bengasi-Aktionsplan aufgestellt, wonach insgesamt 2,5 Milliarden Euro in die Modernisierung des Krankenhauses fließen sollten.

    " Und ich konnte feststellen, das Spital hat heute europäische Standards. Warum? Weil wir technische Hilfe geleitstet haben, und zwar, weil wir Ärzte hingeschickt haben. "

    Insgesamt hat die Eu Kommission 12,5 Mio. Euro für den Bengasi Aktionsplan aufgebracht. Dennoch ging es am Ende nur noch ums Geld und um die Frage, wie können beide Seiten ihr Gesicht wahren. Das war die Aufgabe des deutschen Außenministers Frank Walter Steinmeier während der deutschen EU Ratspräsidentschaft, der sich in Zusammenarbeit mit der Ferrero Waldner und der Hilfe eines Gaddafi Sohnes auf ein Modell verständigen hat.

    Offiziell tritt die Gaddafi Stiftung als Wohltäter gegenüber den Familien der infizierten Kinder auf, die jeweils 1 Mio. Dollar bekommen sollen. Wer sich mit welchem Beitrag an der Entschädigungssumme von über 400 Mio. Euro beteiligt ist bislang nicht offengelegt.

    Libyen selbst soll gut ein Viertel der Summe beitragen, Dazu kommt allen glaubwürdigen Informationen zufolge ein großzügiger Schuldenerlass, an dem sich vor allem auch osteuropäische Länder beteiligen. Sie verzichten auf Geld, dass Libyen ihnen noch aus sozialistischen Zeiten schuldet.

    " Es gibt eine ganze Reihe von anderen Pledges. Aber verstehen sie mich bitte nicht falsch, ich kann sie heute nicht nennen, das ist nicht meine Rolle, und ich kann auch nicht darauf antworten. "

    Einem in Tripolis unterzeichneten Memorandum zufolge, dass vom europäischen Rat noch angenommen werden muss, sollen die Beziehungen zu Libyen erneut ausgebaut werden. So will die EU ein Grenzüberwachungssystem für die libyschen Land- und Seegrenzen liefern und aufbauen und so helfen, die illegale Auswanderung zu bekämpfen. Außerdem soll Libyen größtmöglichen Marktzugang für Agrar- und Fischereiprodukten erhalten.

    Libyens Rehabilitierungsstrategie scheint jedenfalls aufzugehen. Anfang des Monats haben auch die Vereinigten Saaten den ersten Botschafter seit 30 Jahren in das Land entsandt. Und auch der Fall Lockerbie wird möglicherweise aufgrund neuen Beweismaterials, dass die Unschuld des libyschen Geheimdienstmitarbeiters beweisen könnte noch einmal aufgerollt.





    Der bulgarische Präsident Georgi Parwanow und die Gattin seines französischen Amtskollegen, Cecilia Sarkozy in Sofia
    Der bulgarische Präsident Georgi Parwanow und die Gattin seines französischen Amtskollegen, Cecilia Sarkozy in Sofia (AP)
    Interview mit dem Nahost-Experten Michael Lüders
    DLF: Wie kommt es, dass ausgerechnet der neue französische Staatspräsident und seine Gattin das Heft des Handelns so energisch und auch erfolgreich in die Hand nehmen? Darüber wollen wir sprechen mit Michael Lüders, Publizist und Nahost-Experte in Berlin. Herr Lüders, die französische Zeitung "Le Figaro" jubelt bereits, Sarkozy verkörpere endlich wieder eine Außenpolitik des Alten Kontinents, wo sich Paris in Libyen doch seit einigen Jahren von den Amerikanern ausgebootet gefühlt habe.
    Welche Interessen hat Sarkozy in Libyen?

    Lüders: Es sind im Grunde genommen zwei Ziele, die Frankreich dort verfolgt. Zum einen ist Libyen neben Algerien der wichtigste Produzent von Erdöl und Erdgas und vor diesem Hintergrund ist zu verstehen, warum Libyen so sehr hofiert wird, nicht nur von Paris, London oder Berlin, sondern eben auch von den Vereinigten Staaten. Ein Botschafter Washingtons wurde vor einigen Wochen nach Libyen entsannt. Sowohl Tony Blair, wie auch Bundesaußenminister Steinmeier und vor ihm Bundeskanzler Schröder waren in Libyen um deutsche Interessen dort anzumelden. Für Frankreich war Libyen bisher unbesetztes Terrain in gewisser Hinsicht. Es gibt aber auch noch einen weiteren Grund für das französische Engagement, das ist der Führungsanspruch, den Sarkozy innerhalb der Europäischen Union für sich und für Frankreich in Anspruch nimmt. Vor allem auch in Konkurrenz und in Abgrenzung zu Angela Merkel und nicht zu Unrecht hat Berlin diese, man kann fast schon etwas despektierlich sagen Politshow, die sich die französische Führung hier erlaubt hat, unter anderem durch die Entsendung der Gemahlin des französischen Präsidenten kritisiert, denn die eigentliche Kernarbeit über Jahre hinweg im Hintergrund wurde vor allem von Berlin und von Brüssel geleistet, nicht aber von Paris.

    DLF: Sarkozy, Herr Lüders, hat heute auf einer Pressekonferenz bekräftigt, es sein kein Geld geflossen, dennoch, so hört man aus europäischen Diplomatenkreisen, habe Libyen immer wieder auf Zahlungen bestanden. Wie ist die Mentalität Libyens, die der Regierung dort, was halten sie, Herr Lüders, für wahrscheinlich?

    Lüders: Es ist mit Sicherheit Geld geflossen, und zwar nicht zuletzt vor dem Hintergrund der libyschen Gesichtswahrung. Man muss sich ja die Entwicklung der letzten Jahre noch einmal kurz in Erinnerung rufen. Oberst Gaddafi, der seit 1969 im Amt ist, und damit nach Fidel Castro der Dienstälteste Diktator weltweit ist, er hat in den letzten fünf, sechs Jahren einen radikalen Kurswechsel vollzogen und die Widerannäherung an die westliche Welt versucht aus Angst, es könne ihm sonst ebenso gehen wie Saddam Hussein im Irak. Und um dieses Ziel zu erreichen, musste er zweierlei leisten. Zum einen, Abstand nehmen von allen atomaren Versuchen, die es in Libyen gegeben hat, mit Blick auf die Entwicklung der Atomenergie, und zum anderen musste er Entschädigungen in dreistelliger Millionenhöhe zahlen, an die Hinterbliebenen der Opfer des Lockerbie Attentates von 1988, für das bekanntlich libysche Agenten verantwortlich waren, für den Absturz der damaligen PanAm Maschine über dem schottischen Ort Lockerbie. Aus libyscher Sicht, war dieses jetzt, was wir hier gesehen haben, die ganze Inszenierung mit den bulgarischen Krankenschwestern im Grunde genommen die Revanche. Die Rache dafür, dass man Libyen gezwungen hat, so ein hohes Geld zu zahlen an die Hinterbliebenen der Opfer, das versteht sich vor dem Hintergrund beduinischer Stammesheere, wenn sie so wollen, denn Libyen ist ein Staat, der geprägt ist von Stämmen, und wenngleich Oberst Gaddafi zwar eine überaus erratische Person ist, muss man ihm eines doch zugestehen, er versteht es geschickt, die Stämme in Libyen seit Jahrzehnten durch ein geschicktes System aus teile und herrsche, aus Zuckerbrot und Peitsche an sich zu binden und entsprechend Loyalitäten einzufordern und zu erkaufen. Das ist aber für beduinische Verhältnisse eine unglaubliche Demütigung gewesen, dass man den Hinterbliebenen des Lockerbieabsturzes so hohe Entschädigungen hat zahlen müssen, wie gesagt, das hier war die Rache, und auch die Europäische Union, alles hängt ja mit allem zusammen, sah sich natürlich jetzt in dem schwierigen Spagat, einerseits Libyen entgegenkommen zu wollen, andererseits aber nicht den Eindruck zu erwecken, dass man hier nun libyschen, man kann fast schon sagen gangsterhaften Forderungen entgegengekommen sei. Es fehlt an allem in Libyen, vor allem an Know-how und Oberst Gaddafi versucht jetzt mit Hilfe des enormen Erdöl- und Erdgasreichtums westliches Know-how einzukaufen. Wie gesagt mit dem Ziel, die eigene Herrschaft zu sichern und die Machtübergabe vorzubereiten an einen seiner Söhne, an Saif al Islam, der in der internationalen Politik auch immer wieder auftaucht, wenn er zum Beispiel in schwierigen Geiselmissionen vermittelt, unter anderem damals auf den Philippinen, als dort eine deutsche Familie gegen Zahlung eines Lösegeldes frei kam.

    DLF: Welchen Erfolg, Herr Lüders, messen Sie den denkbar neuen und entspannten Beziehungen zwischen Libyen und Europa bei?

    Lüders: Also es gibt wahrhaftig keinerlei Gründe irgendwelche Sympathien für das libysche Regime zu hegen. Aber nichts desto trotz, die Dinge sind wie sie sind. Oberst Gaddafi sitzt fest im Sattel und er hat sich ja geläutert und man sollte ihn sozusagen an seinen Taten messen. Wenn Libyen gewillt ist, eine moderate und zukunftsorientierte Politik zu betreiben, dann ist die Europäische Union sicherlich gut beraten, diesen Weg zu begleiten und zu fördern, und natürlich nüchtern gesehen, wir sind alle abhängig von Erdöl und Erdgas, das ist ein globales Problem, die Abhängigkeiten von Russland sind ja hinlängliche diskutiert worden vor einigen Monaten in der hiesigen Öffentlichkeit. Natürlich hat Europa ein Interesse daran, seine Energieversorgung zu diversifizieren, und Libyen ist dafür ein wichtiges Land.