Zum Auftakt des 12. Governance Forums in Genf zeigte sich der UN-"Sonderberichterstatter für Meinungs- und Informationsfreiheit in Europa" besorgt. Die Begründung David Kayes erstaunt: Ausgerechnet der geplante EU-Code of Conduct gegen Hate Speech steht im Zentrum seiner Kritik. Diese Entwürfe, so der Beauftragte, würden weit über das Ziel hinausschießen und eine von Regierungen forcierte Einschränkung der Meinungsfreiheit befördern. Im Klartext: Er befürchtet Zensur auf der Basis einer verordneten "political" - in seinem Sinn wohl - "over-correctness".
Dahinter steht wohl die Angst, Europa könnte an sprachlicher Selbstunterwerfung erkranken. Doch soweit sind wir noch lange nicht. In Anbetracht der aufgeheizten und aggressiven Töne im Netz, auf Facebook und auf der Straße, sind wir derzeit weit eher in Gefahr, an sprachlicher und gedanklicher Selbstgerechtigkeit zu erkranken - zumindest spürbar zu verwahrlosen.
Fragwürdige Wortwahl mit rassistischem Oberton
Und hierbei spielen Facebook und Twitter in der Tat eine bemerkenswerte - und fatale Rolle. Trumps pöbelnde Twitter-Ausfälle scheinen Schule zu machen. Kleinere und größere Machthaber fühlen sich offenbar ermutigt, es ihm gleichzutun, einer Art rhetorischer Bewusstseinsspaltung anheimzufallen und das Netz als eine Art dark room Ihrer wahren Befindlichkeit zu sehen.
Jüngstes Beispiel: der Eklat um einen Facebook-Kommentar des Tübinger Oberbürgermeisters Boris Palmer. Auf die süffisante Bemerkung der Leserin einer Lokalzeitung hin, die sich mokierte über die nachgerade hysterischen Reaktionen vieler Mitbürger, wann immer es um faktische oder vermeintliche Untaten von Asylbewerbern geht, postete er umgehend:
"Sehr angemessene Reaktion. Hab Dich nicht so, wenn Dich ein Araber fickt. Gibt Schlimmeres. Echt jetzt, Frau D."
Wir wollen hier nicht die mehr als fragwürdige Wortwahl und den rassistischen Oberton dieser Aussage bewerten. Sie spricht für sich. Umso aufschlussreicher scheint deshalb Palmers Begründung für sein Fehlverhalten. Auf journalistische Nachfrage, ob er diese Art der "Überspitzung" für die Rolle eines OB als angemessen erachte, argumentierte er, nicht ein Oberbürgermeister hätte sich hier mit einer Bürgerin unterhalten - vielmehr handle es sich um einem Streit zwischen "zwei Privatpersonen auf Facebook".
Karneval der Gesinnungen
Facebook mithin als rechtsfreier Raum, als eine Art auf Dauer gestellter Karneval der Gesinnungen, in dem jeder ungeschminkt die Sau rauslassen kann? Genau das will die eingangs geschmähte EU-Verordnung verhindern - und wenn man dies amtierenden Kommunalpolitikern mit bundesweitem Geltungsanspruch noch erklären muss, scheint die Einführung dieses Codes dringlicher denn je geboten zu sein.
Der Vorfall zeigt einmal mehr, dass das Versprechen der Anonymität im Netz gefährlich ist. Nicht nur für Jugendliche und notorische Hassbürger und Querulanten, sondern auch für Vertreter der Eliten. Oder setzen solche Gefährder der Sprache den kalkulierten Tabubruch gezielt ein, um in dieser Welt wahrgenommen zu werden und ihre wahren follower undercover zu erreichen? Das Schlimmste: Die Strategie geht auf - dem ersten shitstorm folgt in der Regel der Protest der Sympathisanten für den verfolgten Märtyrer der Wahrheit und schon landet man in der nächsten Runde einer Talkshow.
Genau diesen fatalen Mechanismus will der EU-Erlass an der Entstehungsstelle blockieren. An Kriterien für die Legalität dieses Eingriffs im Namen der Fairness und europäischer Werte fehlt es nicht. Im Zweifel muss man die Öffentlichkeit auch vor einem Oberbürgermeister schützen. Einen öffentlichen Kontrollverlust dieser Art (und Facebook ist ein öffentlicher Kommunikationsraum) kann sich eine Republik, die auf ihre Standards achtet, einfach nicht leisten.