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Verwandlung zum großen Ungeziefer

Für Franz Kafka stand der 17. November 1912 zunächst unter keinem guten Stern. Denn der Prager Versicherungsangestellte lag mit seiner Familie im Streit. In dieser Situation kam ihm die Idee zu einer Erzählung "Die Verwandlung".

Von Vera Schneider |
    ""Liebste, Allerliebste! Ich werde Dir heute wohl noch schreiben, wenn ich auch noch heute viel herumlaufen muss und eine kleine Geschichte niederschreiben werde, die mir in dem Jammer im Bett eingefallen ist und mich innerlichst bedrängt."

    Diese Zeilen schreibt Franz Kafka am 17. November 1912 seiner späteren Verlobten Felice Bauer. Fast den ganzen Tag hat er grübelnd im Bett gelegen. Doch nun macht er sich an die Arbeit. Was er zu Papier bringt, beginnt mit einem der populärsten "ersten Sätze" der Weltliteratur.

    "Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt. Er lag auf seinem panzerartig harten Rücken und sah, wenn er den Kopf ein wenig hob, seinen gewölbten, braunen, von bogenförmigen Versteifungen geteilten Bauch, auf dessen Höhe sich die Bettdecke, zum gänzlichen Niedergleiten bereit, kaum noch erhalten konnte."

    Kurz vorher hatte Kafka in nur einer Nacht seine Erzählung "Das Urteil" geschrieben. Seitdem wusste er um seine Berufung als Schriftsteller. Und ausgerechnet jetzt verlangten seine Eltern von ihm, dass er in der Asbestfabrik seines Schwagers aushalf - neben seiner Tätigkeit in einer Prager Versicherungsanstalt. Niemand verstand, dass er Zeit zum Schreiben brauchte.

    Der Kafka-Biograf Reiner Stach hat rekonstruiert, was den Autor an jenem Herbsttag "innerlichst bedrängte".

    "Das, was der Gregor Samsa in der Verwandlung erlebt, dass er im Ansehen der Familie ins Bodenlose fällt, das ist Kafka eigentlich ein paar Wochen vorher auch passiert. Und was vor allem für ihn ganz schlimm war, und das kommt auch in der Verwandlung vor: Dass sogar die Schwester, nämlich die Ottla, seine Lieblingsschwester, sich jetzt in diesem Punkt mal ausnahmsweise auf die Seite der Eltern gestellt hat und gesagt hat: Also, Franz, das kannst du doch nun wirklich mal ein paar Wochen machen."

    Der verwandelte Gregor kann nicht mehr seiner Tätigkeit als Vertreter nachgehen, mit der er bisher die Familie ernährt hat. Seine Eltern und seine Schwester müssen arbeiten, Gregor bleibt in seinem Zimmer versteckt und wird zunehmend vernachlässigt. Schließlich kommt es zum Eklat: Vom Geigenspiel der Schwester angezogen, verlässt Gregor das Zimmer und vertreibt damit die drei Untermieter, auf deren Zahlungen die Familie angewiesen ist.

    "'Liebe Eltern', sagte die Schwester und schlug zur Einleitung mit der Hand auf den Tisch, 'so geht es nicht weiter. Wenn ihr das vielleicht nicht einsehet, ich sehe es ein. Ich will vor diesem Untier nicht den Namen meines Bruders aussprechen. Und sage daher bloß: wir müssen versuchen, es loszuwerden.'"

    In der Nacht nach diesem Urteil stirbt Gregor. Befreit fährt die Familie ins Grüne und beschließt, nun bald einen "braven Mann" für die Schwester zu suchen.

    Als "Die Verwandlung" 1915 erschien, konnte man mit dem extremen Sujet wenig anfangen. Das Publikum musste für diesen Text erst reif werden, meint Reiner Stach.

    "Diese Mischung von Grauenhaftem, sogar Horror, wie es ja bei der Verwandlung ist, mit dem Komischen, dazu haben heute junge Leute wahrscheinlich eher einen Zugang, als das zu Kafkas Zeit selber war. Damals war diese Mischung noch höchst ungewöhnlich."

    Im Herbst 2012 drängt sich in der Theaterkapelle Berlin-Friedrichshain ein Publikum, das so jung und bunt ist wie der Szenekiez rundum. Gebannt verfolgt es den Monolog von Merten Schroedter.

    "Gregors Beinchen schwirrten, als es jetzt ans Essen ging. Rasch hintereinander und mit vor Befriedigung tränenden Augen verzehrte er den Käse, die Sauce, das Gemüse; die frischen Speisen dagegen schmeckten ihm nicht, ja er konnte nicht einmal ihren Geruch vertragen und schleppte sogar die Sachen, die er essen wollte, ein Stückchen weiter weg."

    Dass Kafkas Erzählung durch die Generationen wirkt, liegt auch an ihrer Grundstruktur: Ein Durchschnittsmensch wird von einem Schicksal getroffen, das er weder begreifen noch meistern kann.

    Reiner Stach: "Da werden einfach nacheinander verschiedene Abgründe sichtbar, aber sie werden nur dem Leser sichtbar. Der Betroffene, der steht da blind davor. Diese existenzielle Blindheit vor dem eigenen Leben sozusagen ist etwas absolut Modernes."

    Wer dem Geheimnis der Verwandlung auf die Spur kommen will, kann sich heute aus einer Flut von Deutungen bedienen. Oder er hält es mit dem amerikanischen Schriftsteller Vladimir Nabokov. Dem ging es in seinem Kommentar um den Käfer – und nicht um die "Grillen in den Köpfen der Interpreten".