Am 23. Januar, vor fast acht Monaten, wurde Viktor Juschtschenko als Präsident der Ukraine vereidigt. Als erster Staatschef seines Landes hielt er unmittelbar nach der Zeremonie eine öffentliche Ansprache. Und zwar auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz - dort, wo zuvor wochenlang Millionen von Menschen seinen Namen skandiert hatten.
In den kalten Kiewer Wintertagen hatten sie gegen Versuche demonstriert, die Egebnisse der Präsidentenwahl zu fälschen, die Juschtschenko mit einem Vorsprung von acht Prozent gewonnen hatte. Schließlich lenkte das alte Regime von Ex-Präsident Leonid Kutschma ein. Die "orangefarbene Revolution" in der Ukraine hatte gesiegt. Die Wahl wurde unter fairen Bedingungen wiederholt - Juschtschenko war der strahlende Sieger.
Den Menschen versprach er nicht nur eine bessere Zukunft. Der 54-Jährige prophezeite sogar die Geburt einer neuen, europäischen Nation - ohne den ewigen Zwist zwischen steinreichen Oligarchen und einfachen Bürgern, ohne den Streit zwischen der russischsprachigen Ost- und der ukrainischsprachigen Westukraine:
"Heute sind wir stolz darauf, Ukrainer zu sein. Wir haben gemeinsam einen unumkehrbaren Schritt in Richtung Demokratie gemacht. Nur die Demokratie sichert das, was für den Bürger am wichtigsten ist: Frieden und Wohlstand. Die Werte der Demokratie sind: Menschenwürde, Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. In einer demokratischen Ukraine wird die Vielfalt der Sprachen und der Kulturen zum gemeinsamen Reichtum unseres Landes."
Die Menschen, die Juschtschenkos Rede nach dem Amtseid hörten, waren begeistert. Emotionen überwältigten viele Menschen, so wie die 21-jährige Studentin Jaroslawa Warawa:
"Ich bin so glücklich wie noch nie in meinem Leben. Ich könnte weinen von Glück. Jetzt gibt es die Hoffnung, dass alles besser wird. Unser Lebensstandard wird steigen, wir werden uns der Europäischen Union annähern. Unsere Revolution wird uns voranbringen, in der Wirtschaft, in der Kultur - in allen Bereichen unseres Lebens."
Groß war die Zustimmung unter Juschtschenkos Anhängern, als er wenig später eine andere Ikone der orangefarbenen Revolution zur Regierungschefin machte: die 41-jährige Julia Tymoschenko. Sie war es, die vor den Demonstranten immer wieder aufs Neue erklärte, warum ihr Kampf so wichtig sei.
Auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz wurde sie geliebt, von den Gegnern der Revolution gehasst. Zu Gunsten von Viktor Juschtschenko hatte Julia Tymoschenko bei der Präsidentenwahl auf eine eigene Kandidatur verzichtet. Allerdings: Sie hatte sich den Posten der Ministerpräsidentin zusichern lassen - schriftlich.
Noch zu Beginn des Sommers war die Zustimmung der Ukrainer für das Doppel-Gespann groß - sowohl Juschtschenko als auch Tymoschenko sprachen in Umfragen über die Hälfte der Menschen ihr Vertrauen aus. Die Pensionäre etwa freuten sich darüber, dass ihre Bezüge angehoben wurden - wie der Frührentner Viktor Jaremko:
"Mit Juschtschenko gehen wir nach Europa. Wir nähern uns langsam dem Westen an. Durch die Revolution weiß jetzt die ganze Welt, dass es die Ukraine gibt. Und ich als pensionierter Militär bekomme dreimal so viel Rente wie früher. Schauen Sie, wir waren gerade bei Mc Donald’s! Wir können es uns endlich leisten, ein amerikanisches Restaurant zu besuchen! Eine bessere Zeit haben wir noch nie erlebt. Warum sollten wir bald nicht so leben wie die Europäer - zivilisiert und gesittet?"
Doch diese Hoffnungen erfüllten sich bisher leider nicht. Ihre erste Aufgabe sei, so erklärte Julia Tymoschenko damals: Die Korruption in der Politik zu beenden. Heute, fast acht Monate später, klingt diese Ankündigungen seltsam hohl, Präsident Viktor Juschtschenko steht vor einem politischen Scherbenhaufen.
Vergangene Woche hat er nicht nur Ministerpräsidentin Tymoschenko und mit ihr die gesamte Regierung entlassen. Auch der Leiter seiner Präsidialverwaltung, der Chef des Geheimdienstes und der Vorsitzende des Nationalen Sicherheitsrates mussten ihren Hut nehmen. Juschtschenkos Begründung klingt auf den ersten Blick schwach. Denn nicht die Arbeit der höchsten Regierungsorgane kritisierte er, sondern deren mangelnden Teamgeist:
"Ich wusste, dass es schon immer Missverständnisse gab in meiner Mannschaft. So etwas kann überall vorkommen, vor allem bei solchen großen, eigenwilligen Persönlichkeiten. Ich habe gehofft, dass die Arbeit den einzelnen Politikern keine Zeit lässt - für Intrigen, Kämpfe und gegenseitiges Anschwärzen. Aber diese Hoffnung war vergebens."
Was war geschehen? Zwei Führungsfiguren, die der Präsident in Amt und Würden gehoben hatte, lieferten sich in den vergangenen Wochen ein offenes Hauen und Stechen. Auf der einen Seite der Barrikade stand Regierungschefin Julia Tymoschenko, auf der anderen der Vorsitzende des Nationalen Sicherheitsrates Petro Poroschenko.
Im Kampf um die Macht warfen sich Tymoschenko und Poroschenko gegenseitig korruptes Verhalten vor, also genau das, wogegen sie bei der orangefarbenen Revolution vorgegeben hatten zu kämpfen. Schließlich blieb Juschtschenko nur noch der Ausweg, mindestens eine der beiden Seiten zu entmachten. Doch er entschied sich, beide aus Amt und Funktion zu entlassen.
Eigentlich bekleidete Poroschenko als Vorsitzender des Sicherheitsrates ein eher symbolisches Amt. Doch wohl um ein Gegengewicht zur Ministerpräsidentin zu schaffen, stattete Juschtschenko ihn mit ungewöhnlichen Vollmachten aus. So hatte er das Recht, den Ministern direkte Weisungen zu erteilen.
Schon an dieser Stelle zeigte sich die erste Schwachstelle der neuen Regierungsmannschaft: Vor der Präsidentenwahl einigte die damalige Opposition vor allem der Kampf gegen das Regime unter Leonid Kutschma. Ein gemeinsames positiv-konstruktives Programm war bis auf die Losungen von Freiheit und Gerechtigkeit dagegen kaum auszumachen.
Außerdem vereinigten sich auch hinter den heutigen Akteuren verschiedene wirtschaftliche Interessen, sagt der Politologe Wolodymyr Malynkowytsch, der einst Berater von Kutschma war.
"Sowohl hinter Tymoschenko als auch hinter Poroschenko stehen finanzkräftige Geschäftsleute. Poroschenko kontrolliert sogar selbst Firmen - mit einem Kapital von 350 Millionen Dollar, wie ein polnisches Politmagazin ermittelt hat. Und Tymoschenko hat die Unterstützung eines der reichsten Männer der Ukraine gesucht, für den sie eintrat, als es Streit gab um die Privatisierung eines Unternehmens."
Die ungebrochen enge Verbindung von Politik und Wirtschaft bestätigt Malynkowytschs Kollege Wolodymyr Fessenko:
"Die neue politische Führung wiederholt die Fehler des alten Regimes. Bis heute sind politische Macht und kommerzielle Strukturen nicht voneinander getrennt. Nach wie vor greifen politische Mechanismen, um diejenigen Unternehmer zu unterstützen, die der neuen Machtelite nahe stehen."
Auch auf anderen Gebieten war die Politik der Regierung bislang wenig erfolgreich. Der Kampf gegen die Korruption im Staatsapparat scheint bislang mehr Schein als Wirklichkeit gewesen zu sein, vermutet der Politologe Wolodymyr Fessenko:
"Mir sind viele Beispiele von Korruption in der neuen Regierung bekannt. So werden immer noch kleine Beamte bestochen, nur um in der Präsidentenverwaltung vorsprechen zu dürfen. Und beim Grundstückskauf in Kiew kommt immer noch derjenige zum Zug, der eine große Summe auf den Tisch legt. Das weiß jeder in der Regierung, und trotzdem gibt es kein einziges Strafverfahren. Über das staatliche Komitee für die Landverteilung gibt es zahlreiche Gerüchte, dass diese Institution durch und durch korrupt sei. Aber passiert ist bis heute nichts."
Auch die Wirtschaftsdaten zeigen ein verheerendes Bild: Das Wachstum halbierte sich gegenüber dem Vorjahr, die Preise stiegen allein von Januar bis Juni um 6,7 Prozent. Einer der Gründe dafür war die so genannte Reprivatisierungs-Kampagne.
Fabriken, die unter Ex-Präsident Kutschma privatisiert wurden, sollten in Staatsbesitz zurückgeführt und dann erneut verkauft werden. Das Argument lautete: Viele Betriebe seien zum Schleuderpreis verhökert worden, oft an Freunde und Verwandte des Ex-Präsidenten. Natürlich hielten sich viele Unternehmer deshalb mit Investitionen zurück. Wussten sie doch nicht, ob sie morgen immer noch Herren im eigenen Haus sein würden.
Julia Tymoschenko zog außerdem durch ihre spontanen Eingriffe in die Wirtschaft Kritik auf sich. Im Mai etwa wollte sie den Mineralölkonzernen einen Höchstpreis für Benzin vorschreiben - mit der Folge, dass es in der Hauptstadt Kiew tagelang überhaupt kein Benzin zu kaufen gab. Dennoch gelang es Tymoschenko, ihre Zustimmungsrate bei der Bevölkerung um rund 50 Prozent zu verdoppeln.
Präsident Juschtschenkos Umfragewerte dagegen begaben sich auf Talfahrt. Und dies dürfte ihn wurmen. Auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz erinnern nur noch Schaukästen mit Fotos an die Tage der Revolution. Am Wochenende sind er und die angrenzende Flaniermeile Kreschtschatyk für den Verkehr gesperrt - Straßenmusiker und Werbeveranstaltungen dominieren die Szene.
Wer sich gestern dort umhörte, der konnte erfahren, wie sehr manche an "ihrer Julia" hängen. Die 79-jährige Rentnerin Halina Sacharowa etwa ist entsetzt über den Schritt des Präsidenten:
"Julia ist doch ein guter Mensch, sie hat gut gearbeitet. Warum haben diese Banditen das mit ihr gemacht? Das sind doch alle Banditen, die unsere Jul’ka rausgeekelt haben. Julia ist eine smarte Frau! Warum springt man jetzt so mit ihr um? Sie hat sich so viel Mühe gegeben und sich so um die Menschen gekümmert! Außer Julia kümmert sich von denen da oben keiner um uns. Die arbeiten für sich, nicht für das Volk."
Allerdings gibt es inzwischen auch viele Ukrainer, die von den orangefarbenen Revolutionären insgesamt enttäuscht sind. So die 69-jährige Alla Jarowaja, von Beruf Biochemikerin:
"Unser Lebensstandard sinkt, weil die Preise steigen. Mein Enkel zum Beispiel, ein Student, der kann sich kaum ernähren. Er schuftet Tag und Nacht im Krankenhaus und bekommt dafür gerade mal 50 Euro im Monat. Sagen Sie mir: Kann ein angehender Chirurg, jung und ein Meter fünfundachtzig groß von weniger als zwei Euro im Monat leben?
Manche alten Frauen, meine Nachbarinnen, leben nur von Brot und Tee. Scheinbar hat die Revolutionäre die Kraft verlassen. Wir haben ihnen so sehr geglaubt - und sind jetzt vollkommen enttäuscht."
Ihr Talent, sich selbst inszenieren, das bewies Julia Tymoschenko auch nach ihrer Entlassung. Zwei Tage lang schwieg sie, um dann am Freitag Abend in einer anderthalbstündigen Fernsehsendung aufzutreten. Dabei stilisierte sie sich zum hilflosen Opfer von Juschtschenkos Umgebung - und zur einzigen, die den Revolutions-Idealen treu geblieben sei:
"Die Zeit als Regierungschefin war die schwerste meines Lebens. Täglich wurde ich bei meiner Arbeit behindert, und das hat mich regelrecht fertig gemacht. So war es für mich unmöglich, meine Ziele zu erreichen.
Der Nationale Sicherheitsrat von Petro Poroschenko - der agierte wie eine Parallel-Regierung. Entgegen unserer Verfassung konnte Poroschenko den Ministern direkte Anweisungen geben, über meinen Kopf hinweg. Sie können sich vorstellen, dass auch die Minister sich wie in Fetzen gerissen fühlten."
Die ersten Schritte von Präsident Juschtschenko nach der Regierungsauflösung zeigen, dass er erst mal Ruhe ins Land bringen - und das Ruder in die eigene Hand nehmen will: Mit Jurij Jechanurow ernannte er einen bisher eher profillosen Gefolgsmann zum Interims-Ministerpräsidenten. So sieht es auch der Politologe Dmytro Wydrin, der für Julia Tymoschenko arbeitet.
"Ich kenne Jechanurow sehr, sehr lange - zwar nicht als jemanden, der neue Ideen und Strategien hervorbringt und kreativ ist, aber er kann alles, was man ihm aufträgt, rechtzeitig ausführen. Anscheinend suchte der Präsident genau nach einer solchen Person, nach einer, die blind und zu hundert Prozent das ausführt, was ihr aufgetragen wird."
Jechanurows erste Ankündigung war direkt gegen seine Vorgängerin gerichtet: Mit der Reprivatisierung von Unternehmen sei fürs erste Schluss. Das Ausland, das großen Anteil an der orangefarbene Revolution genommen hatte, hielt sich mit Kommentaren zu den jüngsten Ereignissen in Kiew weitgehend zurück. Der Beauftragte der EU für Außenpolitik, Xavier Solana, der nach den Wahlfälschungen im Winter als Schlichter nach Kiew gekommen war, forderte die Fortsetzung der politischen und wirtschaftlichen Reformen.
Erstaunliche Rückendeckung bekam Viktor Juschtschenko vom großen Nachbarn Russland. Präsident Wladimir Putin hatte sich im Winter noch deutlich und öffentlich gegen Juschtschenko ausgesprochen. Schon am Tag nach der gefälschten Abstimmung gratulierte er damals dessen Gegner Janukowytsch zum Sieg - und wurde dafür international heftig kritisiert. Nun aber, während seines Regierungsbesuches in Berlin, erklärte Putin plötzlich:
"Ich würde die gegenwärtigen Ereignisse in der Ukraine nicht dramatisieren. Dieses Land steckt in einem schwierigen Entwicklungsabschnitt. Die Entlassung der Regierung ist kein ungewöhnlicher Vorgang, wenn man bedenkt, dass in der Ukraine eine Parlamentswahl bevorsteht. Ich bin sicher, dass der Präsident die richtigen Entscheidungen fällt. Russland wird mit allen Kräften für die Stabilisierung der Situation in diesem Land eintreten, mit dem wir so eng verbunden sind."
Tatsächlich bleibt dem Kreml nicht viel übrig, als auf Viktor Juschtschenko zu setzen. Denn die ostukrainischen Oligarchen-Klans, die Putin bei der damaligen Präsidentenwahl unterstützt hatte, haben sich bis heute nicht von ihrer Niederlage erholt.
Selbst Juschtschenkos Amtsvorgänger zollte dem Präsidenten inzwischen Tribut. Dabei hatte Leonid Kutschma die Wahlfälschung vom vergangenen Spätherbst zumindest gebilligt und die orangefarbene Revolution scharf verurteilt. Jetzt aber stellte er sich demonstrativ an Juschtschenkos Seite:
"Ministerpräsidentin Tymoschenko hat eine Situation herbeigeführt, die den Präsidenten zu seinem Schritt zwang. Sie hat genau verstanden: Im Herbst und erst recht im Winter wird es immer schwieriger im Land, wenn die schlechten Beziehungen zu Russland sich auf die Energiepreise auswirken werden. Sie denkt wohl: lieber trete ich jetzt ab - und kann dann die neue Regierung für die Folgen meiner Politik kritisieren."
Kutschmas Hinweis stimmt, dass die Ukraine schon im kommenden Winter Weltmarktpreise für russisches Gas wird bezahlen müssen. Aber ob bessere Beziehungen zu Moskau dies verhindert hätten, ist fraglich. Schließlich musste schon Kutschma vor einigen Jahren hinnehmen, dass die russischen Energielieferanten beim Ölpreis keine Ausnahme mehr für die Ukraine machten.
Im kommenden März werden die Karten in der Ukraine neu gemischt. Die Parlamentswahl steht bevor, die so wichtig werden könnte wie noch keine Parlamentswahl zuvor in der Ukraine. Denn vom kommenden Jahr an tritt eine Verfassungsreform in Kraft: Zentrale Vollmachten werden vom Präsidenten auf die Volksvertretung übertragen.
Wichtigstes Element: Der Ministerpräsident wird in Zukunft ausschließlich von den Abgeordneten bestimmt. Diese Reform war der Preis, den Juschtschenko in den Tagen der Revolution an seinen Amtsvorgänger zahlen musste. Nun könnte diese Konstruktion aber gerade nicht Kutschmas ehemaligen Weggefährten - den Oligarchen der Ostukraine - nutzen, sondern ausgerechnet Julia Tymoschenko.
Mit ihrer Partei, dem "Block Julia Tymoschenko", will sie die Mehrheit im Parlament gewinnen und dann als starke, unabhängige Ministerpräsidentin auf ihren Posten zurückkehren. Der Politologe Wolodymyr Malynkowytsch gibt ihr dafür gute Chancen:
"Juschtschenko hat im Grunde einen Fehler gemacht. Er hätte Tymoschenko nicht absetzen dürfen. Damit wird seine Partei die Wahl nächstes Jahr verlieren. Denn wen auch immer er zum Spitzenkandidaten kürt - die Popularität von Tymoschenko wird sein Kandidat nie erreichen. Ihr vertrauen sehr viele Menschen. Die Westukraine wird für Juschtschenkos Partei stimmen, keine Frage. Aber Tymoschenko wird ihre Stimmen im Osten suchen - und sie wird sie bekommen."
Denn auch dort hat Tymoschenko die besseren Karten. Und das aus drei Gründen: Sie ist selbst russischsprachig. Sie stammt aus der östlichen Industriemetropole Dnipropetrowsk. Und sie verkörpert mit ihrer demonstrativ-auftrumpfenden Art einen phasenweise sowjetisch anmuten Politik-Stil. Deshalb könnten ihr sogar die Stimmen derer zufallen, die vor allem im Osten und im Süden des Landes bis vor kurzem noch die Kommunistische Partei wählten.
Die Ostukraine lehnte die orangefarbene Revolution insgesamt ab. Dennoch begann Julia Tymoschenko schon zur Jahreswende, die Menschen dort von sich zu überzeugen. In einer Fernsehsendung stellte sie sich in Donezk den wütenden Attacken der Zuschauer - und erntete damit viel Sympathie.
Am Ende ihres jüngsten Auftritts holte sie ein orangefarbenes Plastik-Bändchen aus der Tasche, ihr Talisman, wie sie sagte. Die Botschaft: Sie sei die Einzige, die an den Idealen der Revolution festhält. Aber dabei blieb es nicht: Tymoschenko zauberte auch ein blaues Bändchen hervor, wie es die Gegner von Juschtschenko getragen hatten. Damit gelang ihr ein einzigartiger Effekt: Sie präsentierte sich als Anwalt der einfachen Menschen in Ost und West, derjenigen, die für - und derjenigen, die gegen die Revolution eintraten.
Zwei wichtige Errungenschaften des Winters aber sind geblieben: Zum einen die von der Zensur befreite Presse, die jeden politischen Skandal von allen Seiten beleuchtet. Und zum anderen das geschärfte Bewusstsein der Wähler, die ihre Politiker heute an den hohen moralischen Standards messen, die sie sich selbst vorgegeben haben. Der Bruch in der "Revolutions"-Koalition werde die ukrainische Demokratie sogar weiter bringen, ist der Politologe Malynkowytsch überzeugt:
"Das Bewusstsein der Menschen als Bürger wird sich dadurch weiterentwickeln. In der Zeit der Revolution haben sie vor allem gegen Kutschma demonstriert, ohne zu wissen, für welche Politik sie eigentlich eintreten. Nun sind viele bestürzt, weil zwei ihrer Lieblinge - Juschtschenko und Tymoschenko - getrennte Wege gehen. Aber gerade das zwingt sie nachzudenken.
Sie können nicht mehr nur den wählen, der ihnen besser gefällt. Die Menschen müssen sich jetzt damit auseinandersetzen, was in der ukrainischen Politik wirklich passiert."
In den kalten Kiewer Wintertagen hatten sie gegen Versuche demonstriert, die Egebnisse der Präsidentenwahl zu fälschen, die Juschtschenko mit einem Vorsprung von acht Prozent gewonnen hatte. Schließlich lenkte das alte Regime von Ex-Präsident Leonid Kutschma ein. Die "orangefarbene Revolution" in der Ukraine hatte gesiegt. Die Wahl wurde unter fairen Bedingungen wiederholt - Juschtschenko war der strahlende Sieger.
Den Menschen versprach er nicht nur eine bessere Zukunft. Der 54-Jährige prophezeite sogar die Geburt einer neuen, europäischen Nation - ohne den ewigen Zwist zwischen steinreichen Oligarchen und einfachen Bürgern, ohne den Streit zwischen der russischsprachigen Ost- und der ukrainischsprachigen Westukraine:
"Heute sind wir stolz darauf, Ukrainer zu sein. Wir haben gemeinsam einen unumkehrbaren Schritt in Richtung Demokratie gemacht. Nur die Demokratie sichert das, was für den Bürger am wichtigsten ist: Frieden und Wohlstand. Die Werte der Demokratie sind: Menschenwürde, Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. In einer demokratischen Ukraine wird die Vielfalt der Sprachen und der Kulturen zum gemeinsamen Reichtum unseres Landes."
Die Menschen, die Juschtschenkos Rede nach dem Amtseid hörten, waren begeistert. Emotionen überwältigten viele Menschen, so wie die 21-jährige Studentin Jaroslawa Warawa:
"Ich bin so glücklich wie noch nie in meinem Leben. Ich könnte weinen von Glück. Jetzt gibt es die Hoffnung, dass alles besser wird. Unser Lebensstandard wird steigen, wir werden uns der Europäischen Union annähern. Unsere Revolution wird uns voranbringen, in der Wirtschaft, in der Kultur - in allen Bereichen unseres Lebens."
Groß war die Zustimmung unter Juschtschenkos Anhängern, als er wenig später eine andere Ikone der orangefarbenen Revolution zur Regierungschefin machte: die 41-jährige Julia Tymoschenko. Sie war es, die vor den Demonstranten immer wieder aufs Neue erklärte, warum ihr Kampf so wichtig sei.
Auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz wurde sie geliebt, von den Gegnern der Revolution gehasst. Zu Gunsten von Viktor Juschtschenko hatte Julia Tymoschenko bei der Präsidentenwahl auf eine eigene Kandidatur verzichtet. Allerdings: Sie hatte sich den Posten der Ministerpräsidentin zusichern lassen - schriftlich.
Noch zu Beginn des Sommers war die Zustimmung der Ukrainer für das Doppel-Gespann groß - sowohl Juschtschenko als auch Tymoschenko sprachen in Umfragen über die Hälfte der Menschen ihr Vertrauen aus. Die Pensionäre etwa freuten sich darüber, dass ihre Bezüge angehoben wurden - wie der Frührentner Viktor Jaremko:
"Mit Juschtschenko gehen wir nach Europa. Wir nähern uns langsam dem Westen an. Durch die Revolution weiß jetzt die ganze Welt, dass es die Ukraine gibt. Und ich als pensionierter Militär bekomme dreimal so viel Rente wie früher. Schauen Sie, wir waren gerade bei Mc Donald’s! Wir können es uns endlich leisten, ein amerikanisches Restaurant zu besuchen! Eine bessere Zeit haben wir noch nie erlebt. Warum sollten wir bald nicht so leben wie die Europäer - zivilisiert und gesittet?"
Doch diese Hoffnungen erfüllten sich bisher leider nicht. Ihre erste Aufgabe sei, so erklärte Julia Tymoschenko damals: Die Korruption in der Politik zu beenden. Heute, fast acht Monate später, klingt diese Ankündigungen seltsam hohl, Präsident Viktor Juschtschenko steht vor einem politischen Scherbenhaufen.
Vergangene Woche hat er nicht nur Ministerpräsidentin Tymoschenko und mit ihr die gesamte Regierung entlassen. Auch der Leiter seiner Präsidialverwaltung, der Chef des Geheimdienstes und der Vorsitzende des Nationalen Sicherheitsrates mussten ihren Hut nehmen. Juschtschenkos Begründung klingt auf den ersten Blick schwach. Denn nicht die Arbeit der höchsten Regierungsorgane kritisierte er, sondern deren mangelnden Teamgeist:
"Ich wusste, dass es schon immer Missverständnisse gab in meiner Mannschaft. So etwas kann überall vorkommen, vor allem bei solchen großen, eigenwilligen Persönlichkeiten. Ich habe gehofft, dass die Arbeit den einzelnen Politikern keine Zeit lässt - für Intrigen, Kämpfe und gegenseitiges Anschwärzen. Aber diese Hoffnung war vergebens."
Was war geschehen? Zwei Führungsfiguren, die der Präsident in Amt und Würden gehoben hatte, lieferten sich in den vergangenen Wochen ein offenes Hauen und Stechen. Auf der einen Seite der Barrikade stand Regierungschefin Julia Tymoschenko, auf der anderen der Vorsitzende des Nationalen Sicherheitsrates Petro Poroschenko.
Im Kampf um die Macht warfen sich Tymoschenko und Poroschenko gegenseitig korruptes Verhalten vor, also genau das, wogegen sie bei der orangefarbenen Revolution vorgegeben hatten zu kämpfen. Schließlich blieb Juschtschenko nur noch der Ausweg, mindestens eine der beiden Seiten zu entmachten. Doch er entschied sich, beide aus Amt und Funktion zu entlassen.
Eigentlich bekleidete Poroschenko als Vorsitzender des Sicherheitsrates ein eher symbolisches Amt. Doch wohl um ein Gegengewicht zur Ministerpräsidentin zu schaffen, stattete Juschtschenko ihn mit ungewöhnlichen Vollmachten aus. So hatte er das Recht, den Ministern direkte Weisungen zu erteilen.
Schon an dieser Stelle zeigte sich die erste Schwachstelle der neuen Regierungsmannschaft: Vor der Präsidentenwahl einigte die damalige Opposition vor allem der Kampf gegen das Regime unter Leonid Kutschma. Ein gemeinsames positiv-konstruktives Programm war bis auf die Losungen von Freiheit und Gerechtigkeit dagegen kaum auszumachen.
Außerdem vereinigten sich auch hinter den heutigen Akteuren verschiedene wirtschaftliche Interessen, sagt der Politologe Wolodymyr Malynkowytsch, der einst Berater von Kutschma war.
"Sowohl hinter Tymoschenko als auch hinter Poroschenko stehen finanzkräftige Geschäftsleute. Poroschenko kontrolliert sogar selbst Firmen - mit einem Kapital von 350 Millionen Dollar, wie ein polnisches Politmagazin ermittelt hat. Und Tymoschenko hat die Unterstützung eines der reichsten Männer der Ukraine gesucht, für den sie eintrat, als es Streit gab um die Privatisierung eines Unternehmens."
Die ungebrochen enge Verbindung von Politik und Wirtschaft bestätigt Malynkowytschs Kollege Wolodymyr Fessenko:
"Die neue politische Führung wiederholt die Fehler des alten Regimes. Bis heute sind politische Macht und kommerzielle Strukturen nicht voneinander getrennt. Nach wie vor greifen politische Mechanismen, um diejenigen Unternehmer zu unterstützen, die der neuen Machtelite nahe stehen."
Auch auf anderen Gebieten war die Politik der Regierung bislang wenig erfolgreich. Der Kampf gegen die Korruption im Staatsapparat scheint bislang mehr Schein als Wirklichkeit gewesen zu sein, vermutet der Politologe Wolodymyr Fessenko:
"Mir sind viele Beispiele von Korruption in der neuen Regierung bekannt. So werden immer noch kleine Beamte bestochen, nur um in der Präsidentenverwaltung vorsprechen zu dürfen. Und beim Grundstückskauf in Kiew kommt immer noch derjenige zum Zug, der eine große Summe auf den Tisch legt. Das weiß jeder in der Regierung, und trotzdem gibt es kein einziges Strafverfahren. Über das staatliche Komitee für die Landverteilung gibt es zahlreiche Gerüchte, dass diese Institution durch und durch korrupt sei. Aber passiert ist bis heute nichts."
Auch die Wirtschaftsdaten zeigen ein verheerendes Bild: Das Wachstum halbierte sich gegenüber dem Vorjahr, die Preise stiegen allein von Januar bis Juni um 6,7 Prozent. Einer der Gründe dafür war die so genannte Reprivatisierungs-Kampagne.
Fabriken, die unter Ex-Präsident Kutschma privatisiert wurden, sollten in Staatsbesitz zurückgeführt und dann erneut verkauft werden. Das Argument lautete: Viele Betriebe seien zum Schleuderpreis verhökert worden, oft an Freunde und Verwandte des Ex-Präsidenten. Natürlich hielten sich viele Unternehmer deshalb mit Investitionen zurück. Wussten sie doch nicht, ob sie morgen immer noch Herren im eigenen Haus sein würden.
Julia Tymoschenko zog außerdem durch ihre spontanen Eingriffe in die Wirtschaft Kritik auf sich. Im Mai etwa wollte sie den Mineralölkonzernen einen Höchstpreis für Benzin vorschreiben - mit der Folge, dass es in der Hauptstadt Kiew tagelang überhaupt kein Benzin zu kaufen gab. Dennoch gelang es Tymoschenko, ihre Zustimmungsrate bei der Bevölkerung um rund 50 Prozent zu verdoppeln.
Präsident Juschtschenkos Umfragewerte dagegen begaben sich auf Talfahrt. Und dies dürfte ihn wurmen. Auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz erinnern nur noch Schaukästen mit Fotos an die Tage der Revolution. Am Wochenende sind er und die angrenzende Flaniermeile Kreschtschatyk für den Verkehr gesperrt - Straßenmusiker und Werbeveranstaltungen dominieren die Szene.
Wer sich gestern dort umhörte, der konnte erfahren, wie sehr manche an "ihrer Julia" hängen. Die 79-jährige Rentnerin Halina Sacharowa etwa ist entsetzt über den Schritt des Präsidenten:
"Julia ist doch ein guter Mensch, sie hat gut gearbeitet. Warum haben diese Banditen das mit ihr gemacht? Das sind doch alle Banditen, die unsere Jul’ka rausgeekelt haben. Julia ist eine smarte Frau! Warum springt man jetzt so mit ihr um? Sie hat sich so viel Mühe gegeben und sich so um die Menschen gekümmert! Außer Julia kümmert sich von denen da oben keiner um uns. Die arbeiten für sich, nicht für das Volk."
Allerdings gibt es inzwischen auch viele Ukrainer, die von den orangefarbenen Revolutionären insgesamt enttäuscht sind. So die 69-jährige Alla Jarowaja, von Beruf Biochemikerin:
"Unser Lebensstandard sinkt, weil die Preise steigen. Mein Enkel zum Beispiel, ein Student, der kann sich kaum ernähren. Er schuftet Tag und Nacht im Krankenhaus und bekommt dafür gerade mal 50 Euro im Monat. Sagen Sie mir: Kann ein angehender Chirurg, jung und ein Meter fünfundachtzig groß von weniger als zwei Euro im Monat leben?
Manche alten Frauen, meine Nachbarinnen, leben nur von Brot und Tee. Scheinbar hat die Revolutionäre die Kraft verlassen. Wir haben ihnen so sehr geglaubt - und sind jetzt vollkommen enttäuscht."
Ihr Talent, sich selbst inszenieren, das bewies Julia Tymoschenko auch nach ihrer Entlassung. Zwei Tage lang schwieg sie, um dann am Freitag Abend in einer anderthalbstündigen Fernsehsendung aufzutreten. Dabei stilisierte sie sich zum hilflosen Opfer von Juschtschenkos Umgebung - und zur einzigen, die den Revolutions-Idealen treu geblieben sei:
"Die Zeit als Regierungschefin war die schwerste meines Lebens. Täglich wurde ich bei meiner Arbeit behindert, und das hat mich regelrecht fertig gemacht. So war es für mich unmöglich, meine Ziele zu erreichen.
Der Nationale Sicherheitsrat von Petro Poroschenko - der agierte wie eine Parallel-Regierung. Entgegen unserer Verfassung konnte Poroschenko den Ministern direkte Anweisungen geben, über meinen Kopf hinweg. Sie können sich vorstellen, dass auch die Minister sich wie in Fetzen gerissen fühlten."
Die ersten Schritte von Präsident Juschtschenko nach der Regierungsauflösung zeigen, dass er erst mal Ruhe ins Land bringen - und das Ruder in die eigene Hand nehmen will: Mit Jurij Jechanurow ernannte er einen bisher eher profillosen Gefolgsmann zum Interims-Ministerpräsidenten. So sieht es auch der Politologe Dmytro Wydrin, der für Julia Tymoschenko arbeitet.
"Ich kenne Jechanurow sehr, sehr lange - zwar nicht als jemanden, der neue Ideen und Strategien hervorbringt und kreativ ist, aber er kann alles, was man ihm aufträgt, rechtzeitig ausführen. Anscheinend suchte der Präsident genau nach einer solchen Person, nach einer, die blind und zu hundert Prozent das ausführt, was ihr aufgetragen wird."
Jechanurows erste Ankündigung war direkt gegen seine Vorgängerin gerichtet: Mit der Reprivatisierung von Unternehmen sei fürs erste Schluss. Das Ausland, das großen Anteil an der orangefarbene Revolution genommen hatte, hielt sich mit Kommentaren zu den jüngsten Ereignissen in Kiew weitgehend zurück. Der Beauftragte der EU für Außenpolitik, Xavier Solana, der nach den Wahlfälschungen im Winter als Schlichter nach Kiew gekommen war, forderte die Fortsetzung der politischen und wirtschaftlichen Reformen.
Erstaunliche Rückendeckung bekam Viktor Juschtschenko vom großen Nachbarn Russland. Präsident Wladimir Putin hatte sich im Winter noch deutlich und öffentlich gegen Juschtschenko ausgesprochen. Schon am Tag nach der gefälschten Abstimmung gratulierte er damals dessen Gegner Janukowytsch zum Sieg - und wurde dafür international heftig kritisiert. Nun aber, während seines Regierungsbesuches in Berlin, erklärte Putin plötzlich:
"Ich würde die gegenwärtigen Ereignisse in der Ukraine nicht dramatisieren. Dieses Land steckt in einem schwierigen Entwicklungsabschnitt. Die Entlassung der Regierung ist kein ungewöhnlicher Vorgang, wenn man bedenkt, dass in der Ukraine eine Parlamentswahl bevorsteht. Ich bin sicher, dass der Präsident die richtigen Entscheidungen fällt. Russland wird mit allen Kräften für die Stabilisierung der Situation in diesem Land eintreten, mit dem wir so eng verbunden sind."
Tatsächlich bleibt dem Kreml nicht viel übrig, als auf Viktor Juschtschenko zu setzen. Denn die ostukrainischen Oligarchen-Klans, die Putin bei der damaligen Präsidentenwahl unterstützt hatte, haben sich bis heute nicht von ihrer Niederlage erholt.
Selbst Juschtschenkos Amtsvorgänger zollte dem Präsidenten inzwischen Tribut. Dabei hatte Leonid Kutschma die Wahlfälschung vom vergangenen Spätherbst zumindest gebilligt und die orangefarbene Revolution scharf verurteilt. Jetzt aber stellte er sich demonstrativ an Juschtschenkos Seite:
"Ministerpräsidentin Tymoschenko hat eine Situation herbeigeführt, die den Präsidenten zu seinem Schritt zwang. Sie hat genau verstanden: Im Herbst und erst recht im Winter wird es immer schwieriger im Land, wenn die schlechten Beziehungen zu Russland sich auf die Energiepreise auswirken werden. Sie denkt wohl: lieber trete ich jetzt ab - und kann dann die neue Regierung für die Folgen meiner Politik kritisieren."
Kutschmas Hinweis stimmt, dass die Ukraine schon im kommenden Winter Weltmarktpreise für russisches Gas wird bezahlen müssen. Aber ob bessere Beziehungen zu Moskau dies verhindert hätten, ist fraglich. Schließlich musste schon Kutschma vor einigen Jahren hinnehmen, dass die russischen Energielieferanten beim Ölpreis keine Ausnahme mehr für die Ukraine machten.
Im kommenden März werden die Karten in der Ukraine neu gemischt. Die Parlamentswahl steht bevor, die so wichtig werden könnte wie noch keine Parlamentswahl zuvor in der Ukraine. Denn vom kommenden Jahr an tritt eine Verfassungsreform in Kraft: Zentrale Vollmachten werden vom Präsidenten auf die Volksvertretung übertragen.
Wichtigstes Element: Der Ministerpräsident wird in Zukunft ausschließlich von den Abgeordneten bestimmt. Diese Reform war der Preis, den Juschtschenko in den Tagen der Revolution an seinen Amtsvorgänger zahlen musste. Nun könnte diese Konstruktion aber gerade nicht Kutschmas ehemaligen Weggefährten - den Oligarchen der Ostukraine - nutzen, sondern ausgerechnet Julia Tymoschenko.
Mit ihrer Partei, dem "Block Julia Tymoschenko", will sie die Mehrheit im Parlament gewinnen und dann als starke, unabhängige Ministerpräsidentin auf ihren Posten zurückkehren. Der Politologe Wolodymyr Malynkowytsch gibt ihr dafür gute Chancen:
"Juschtschenko hat im Grunde einen Fehler gemacht. Er hätte Tymoschenko nicht absetzen dürfen. Damit wird seine Partei die Wahl nächstes Jahr verlieren. Denn wen auch immer er zum Spitzenkandidaten kürt - die Popularität von Tymoschenko wird sein Kandidat nie erreichen. Ihr vertrauen sehr viele Menschen. Die Westukraine wird für Juschtschenkos Partei stimmen, keine Frage. Aber Tymoschenko wird ihre Stimmen im Osten suchen - und sie wird sie bekommen."
Denn auch dort hat Tymoschenko die besseren Karten. Und das aus drei Gründen: Sie ist selbst russischsprachig. Sie stammt aus der östlichen Industriemetropole Dnipropetrowsk. Und sie verkörpert mit ihrer demonstrativ-auftrumpfenden Art einen phasenweise sowjetisch anmuten Politik-Stil. Deshalb könnten ihr sogar die Stimmen derer zufallen, die vor allem im Osten und im Süden des Landes bis vor kurzem noch die Kommunistische Partei wählten.
Die Ostukraine lehnte die orangefarbene Revolution insgesamt ab. Dennoch begann Julia Tymoschenko schon zur Jahreswende, die Menschen dort von sich zu überzeugen. In einer Fernsehsendung stellte sie sich in Donezk den wütenden Attacken der Zuschauer - und erntete damit viel Sympathie.
Am Ende ihres jüngsten Auftritts holte sie ein orangefarbenes Plastik-Bändchen aus der Tasche, ihr Talisman, wie sie sagte. Die Botschaft: Sie sei die Einzige, die an den Idealen der Revolution festhält. Aber dabei blieb es nicht: Tymoschenko zauberte auch ein blaues Bändchen hervor, wie es die Gegner von Juschtschenko getragen hatten. Damit gelang ihr ein einzigartiger Effekt: Sie präsentierte sich als Anwalt der einfachen Menschen in Ost und West, derjenigen, die für - und derjenigen, die gegen die Revolution eintraten.
Zwei wichtige Errungenschaften des Winters aber sind geblieben: Zum einen die von der Zensur befreite Presse, die jeden politischen Skandal von allen Seiten beleuchtet. Und zum anderen das geschärfte Bewusstsein der Wähler, die ihre Politiker heute an den hohen moralischen Standards messen, die sie sich selbst vorgegeben haben. Der Bruch in der "Revolutions"-Koalition werde die ukrainische Demokratie sogar weiter bringen, ist der Politologe Malynkowytsch überzeugt:
"Das Bewusstsein der Menschen als Bürger wird sich dadurch weiterentwickeln. In der Zeit der Revolution haben sie vor allem gegen Kutschma demonstriert, ohne zu wissen, für welche Politik sie eigentlich eintreten. Nun sind viele bestürzt, weil zwei ihrer Lieblinge - Juschtschenko und Tymoschenko - getrennte Wege gehen. Aber gerade das zwingt sie nachzudenken.
Sie können nicht mehr nur den wählen, der ihnen besser gefällt. Die Menschen müssen sich jetzt damit auseinandersetzen, was in der ukrainischen Politik wirklich passiert."