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Via Baltica
Pilgern in den vorpommerschen Weiten

Die Via Baltica ist Teil eines Pilgerwegenetzes, das bis ins spanische Santiago de Compostela reicht. Von Swinemünde an der deutsch-polnischen Grenze führt die jahrhundertealte Route über Rostock, Lübeck und Bremen bis ins westfälische Münster. Wer hier pilgert, läuft nicht auf ausgetretenen Wegen.

Von Katja Bülow |
    Einsame Wälder auf der Via Baltica.
    Einsame Wälder auf der Via Baltica (Deutschlandradio/K. Bülow)
    Gisela Schwichtenberg kennt sich aus mit dem Pilgern. Die alte Dame ist zwar selber gar nicht mehr so gut zu Fuß, aber als Herbergsmutter im vorpommerschen Dörfchen Zirchow sieht sie sofort, wenn ein Wanderer etwas falsch macht.
    "Meistens sind es Frauen, die alles mitschleppen. Kosmetiktasche und wat se alles mittragen. Und dann sage ich: 'Wissen Sie was, morgen gehen Sie mal hier zur Poststelle, dann holen sie sich ein kleines Päckchen, da packen Sie ihr überschüssigen Kram rein und schicken den nach Hause'. 'Das mache ich', sagen sie dann. (Lacht) Solche Sachen sach ick ihnen dann. (Lacht.)"
    Als sie die Tür zur ehemaligen Pfarrscheune aufschließt, die heute als Herberge dient, betrachtet sie auch uns über die Gläser ihrer Brille hinweg mit prüfendem Blick. Kerstin, Merle und Katja, drei Frauen um die 50, verschwitzt, staubig, abgekämpft. Pilgerausweise? Wir legen die Dokumente auf den Tisch, die wir vom Freundeskreis der Jakobswege in Norddeutschland bekommen haben, und Gisela Schwichtenberg stempelt sie ordnungsgemäß ab.
    3.503 Kilometer von Swinemünde bis Santiago de Compostela
    "Ich mach das seit 2008, da war das hier völlig fremd. Wir sind hier ja nicht sehr christlich geprägt. Und als die ersten Leute ankamen mit ihren riesigen Rucksäcken, da habe ich gedacht: 'Oh Gott, was is dat?' Ja und wir hatten zur Zeit keinen Pastor und dann standen die hier immer und waren fix und alle. Und da hab ich gedacht, du musst dich denen annehmen. Ja und nun ist dat schon so lange her."
    Für uns ist dies die erste Station auf unserer Wanderung, die wir heute Morgen in Swinemünde begonnen haben. 3.503 Kilometer sind es von dort noch bis Santiago de Compostela, so steht es auf einem Hinweisschild. Gleich daneben prangt die erste wegweisende Jakobsmuschel. Wir haben gerade mal sechs Tage Zeit und wollen bloß ins gut hundert Kilometer entfernte Greifswald. Von früh bis spät draußen sein, die Natur zu atmen und den eigenen Körper mal wieder ein bisschen fordern, das sind die Dinge, die uns zur Wanderung motiviert haben. Krankenschwester Kerstin lässt ihren Blick nachdenklich über die weiten Felder bis ans glitzernde Blau des Stettiner Haffs schweifen.
    "Außerdem war ich von der Arbeit her an so einem Punkt, wo ich das Gefühl hatte, jetzt dauert es nicht mehr lange, dann bist Du ausgebrannt und das willst Du nicht, Du musst mal innehalten. Und es ist tatsächlich so, wenn man geht, das macht was mit einem, finde ich."
    Im Laufe eines Tages macht es vor allem müde. Obwohl die erste Etappe nicht besonders lang war, sind wir froh, in Gisela Schwichtenbergs Herberge die Rucksäcke abstellen und die Stiefel ausziehen zu können. Schon immer hat sich die Frau dafür interessiert, warum ihre Gäste nicht einfach gemütlich im Auto anreisen, was sie persönlich bevorzugen würde.
    "Meistens frag ich nicht, aber wenn man dann mal so nachhakt, sind das meistens Leute, die absolut nicht mehr abschalten können. Die das brauchen, dieses Gehen, mit sich zu laufen und nur auf ihre Schritte zu hören, die Natur zu genießen und gar nichts mehr denken, weil sie so kaputt sind von dem Laufen, dass irgendwann das Gehirn mal frei ist."
    Wer hier pilgert, der läuft nicht auf ausgetretenen Wegen
    Seit dem 13. Jahrhundert sind Pilger auf der Via Baltica unterwegs. Einige der Dorfkirchen entlang des Weges sind dem Heiligen Jakob geweiht, dessen Grab in Santiago de Compostela schon damals das erklärte Ziel der Reisenden war. Heute spült es Jahr für Jahr mehr als 200.000 Wanderer dorthin. Wir indessen sind froh, dass hier auf der Insel Usedom, im vorpommerschen Hinterland, eigentlich gar nichts an den auf Menschenmassen eingerichteten spanischen Pilgerbetrieb erinnert. Während sich etwas weiter nördlich, in den ehemaligen Kaiserbädern Heringsdorf und Ahlbeck, die Touristen am Strand tummeln, sind das Binnenland und auch die Haffseite nahezu menschenleer. Wer hier pilgert, der läuft nicht auf ausgetretenen Wegen. Hier herrscht die entspannte Ruhe ländlicher Abgeschiedenheit.
    Gemächlich Trotten, im immer gleichen Schritt durch die weite, dünn besiedelte, Landschaft wandern. Hügelige Getreidefelder, von Mohn und Kornblumen in farbenprächtige Gemälde verwandelt, würzig duftende Waldwege, Räucherfisch am Hafenimbiss. Es fühlt sich gut an, im Schneckentempo unterwegs zu sein. Merle schreitet immer beschwingter voran.
    "Es fühlt sich grad so toll an, weil der Kopf so leer ist, dass man die Natur und die Ruhe um sich viel besser genießen kann als irgendwo anders. Und schön erleichternd ist auch grade, dass ich den Rucksack gar nicht mehr spüre, sondern dass alles so weit weg ist und, ja, dass man einfach so leer ist."
    Die Dörfer, durch die die Via Baltica führt, sind allesamt winzig klein. Ab und an gibt es mal einen kleinen Laden, wo wir Proviant kaufen. Und gelegentlich bietet sich auch die Möglichkeit, irgendwo einzukehren. Im Straußenimbiss in Stolpe zum Beispiel. Der Duft von Kaffee und frische gebackenen Waffeln, der über dem kleinen Biergarten liegt, macht es unmöglich, einfach weiter zu gehen. Und Betreiberin Manuela Wilberg freut sich, dass gerade die Zahl der Pilger unter ihren Gästen beständig steigt.
    "Ich hab vor drei Jahren angefangen, da waren es das erste Jahr vielleicht 10-15, das, was jetzt die Woche so lang kommt. Die kehren nicht alle ein, aber ich sehe ja, was lang kommt."
    Eine spezielle Sorte Gäste, sind die Pilger, so ihre Erfahrung. Nicht etwa, weil sie hungriger sind als andere...
    "Hungriger nicht, aber geduldiger. Ja, so, so...sie strahlen Ruhe aus."
    Ihr weißer Imbisswagen steht auf dem Gelände eines Gehöfts. Auf den Wiesen gleich nebenan strecken ein paar Strauße ihre ohnehin schon langen Hälse und beäugen neugierig die Gäste. Nur Paul, der Hahn, hat gerade anderweitig zu tun.
    "Der sitzt hinten im Feld und brütet auf der großen Wiese."
    "Und die Frauen brüten nicht?"
    "Die brüten auch, die wechseln sich ab. Und der Hahn meist nachts oder wenn es regnet, dann ist der Hahn dran. Ich finde es auch lustig, müsste beim Menschen auch ab und zu mal so sein. (lacht)"
    So wie sie empfinden es viele Menschen in dieser einsamen Region als eine Bereicherung, wenn Wanderer und Radfahrer durch ihre Dörfer kommen. Gilbert Giebel, der in der Stadt Usedom das Café und Bistro "Alter Hof" betreibt, mag gerade diejenigen, die ein bisschen aus dem Rahmen fallen, ganz gleich, ob Pilger oder nicht.
    Gekennzeichnete Findlinge? Wir können nichts dergleichen entdecken
    "Also mit das Interessanteste und Schärfste, was wir im letzten Jahr gehabt haben an Menschen, das war ein – wie soll man den nennen – sah aus wie ein Waldschrat, wilde Haare, wilder Bart, dünn und wollte essen. Hat einen Riesenteller Nudeln gegessen und sagte, dass wäre das beste Essen, was er in den letzten Monaten gegessen hat. Gut, sagt er so und geht einem runter wie Öl. Und dann bin ich nach draußen gegangen, weil ich noch Holz holen musste für den Ofen. Hab sein Fahrrad gesehen und sag dann nur beim Reingehen zum Spaß: Das ist auch nicht so ein normales Fahrrad, bist schon ein bisschen länger unterwegs. Ja, sagt er, ich komm gerade aus Wladiwostok und jetzt bin ich gleich zu Hause. Ich sach wo wohnst Du denn? Ja in der Schweiz."
    Der Wirt, der selber ursprünglich aus dem Ruhrgebiet kommt und einen ehemaligen Bauernhof nach und nach saniert und zum Restaurant umgebaut hat, liebt solche Momente.
    "Also wir haben schon manchmal solche Vögel – ist jetzt nicht böse gemeint – das ist sehr schön. Und das ist das, was uns hilft, hier weiterzumachen. Die Bezahlung für eine Arbeit besteht ja nicht nur aus Geld. Sie besteht auch aus Anerkennung, aus Gesprächen, aus miteinander da sein, das ist viel wichtiger als Geld."
    Wir treffen auf unserem Weg nur selten mal auf ein paar Ausflügler. Aber: In einer Pilgerherberge begegnen wir tatsächlich anderen Pilgern, zwei Freundinnen aus Berlin, die es tatsächlich geschafft haben, nur ganz wenig Gepäck in ihre Rucksäcke zu stopfen. Martina, eine der beiden, listet auf:
    "Ich hab gestern Abend, war ich ganz stolz als ich meinen Rucksack hochgehoben hab mit auf die Waage, und da hatte er 7,4 Kilo - mit zwei Wasserflaschen schon intus! Und ich habe aber auch drei, vier T-Shirts, sogar einen kürzeren Rock, wenn es warm wird... alles in Klein, kleines Mini-Shampoo, Mini-Zahnpasta."
    Während die beiden profimäßig ausgestattet sogar Schrittzähler-App und GPS dabei haben, halten wir uns ganz altmodisch an Karte und Wanderführer. Das Ergebnis ist in beiden Fällen gleich.
    "Einen links abzweigenden Weg am Waldrand ignorieren Sie, auch in der Folge verlassen Sie den Hauptweg nicht. An Abzweigen liegen jeweils große Findlinge mit richtungsweisenden Angaben nach Zemitz."
    Gekennzeichnete Findlinge? Wir können nichts dergleichen entdecken und kommen – genau wie die Berlinerinnen – immer mal wieder ein bisschen vom Weg ab.
    Früher, als das Zufußgehen noch ganz normal war, da hat es hier in der Gegend sogenannte Elendsherbergen gegeben. Wobei das Wort "Elend" vom althochdeutschen "elilenti" abgeleitet soviel wie "im fremden Land" bedeutet, fremd und fern der Heimat auf Hilfe angewiesen. Wir übernachten in Pilgerherbergen, wo es sie gibt, aber auch mal in einem Gasthof oder bei Privatleuten, die Pilgern gegen eine kleine Spende eine Schlafstatt bieten. Unsere Füße schmerzen von Tag zu Tag mehr. Kerstin stellt selbst nach einer längeren Pause am Nachmittag fest:
    "Meine Füße tun immer noch wahnsinnig weh und wenn ich aufstehe und laufe, dann schäme ich mich fast, weil ich so humple. Aber der Tag war einfach wunderschön."
    Aus Spargelschalen, Blättern, unterschiedlichsten Materialien aus Papier
    Elendig, also in der Fremde auf Hilfe angewiesen zu sein, das kommt im geregelten westeuropäischen Alltagsleben selten vor. Wer dann aber auch noch zu Fuß geht, der braucht mehr Beistand als andere. Und es ist schön zu erleben, wie selbstverständlich er ihn auch heute noch bekommt - wenn die Wasserflaschen leer sind, wenn die Wegbeschreibung im Pilgerführer unklar ist, wenn im Wald plötzlich alle Pfade gleich aussehen.
    "Der Schlüssel zum Schlafraum liegt unter dem Blumentopf" - in vielen Herbergen kommen wir uns vor, wie zu Besuch bei Freunden. Unsere heutige Gastgeberin, Dietlinde Schmidt, bietet uns einen Platz in der Winterkirche an – auf dem Fußboden, direkt unterm Kreuz. Schon mehr als einmal hat sie eintreffenden Pilgern auch seelischen Beistand geleistet.
    "Dieses junge Mädchen kam hier an, sagte: Ich hab nur geweint. Kam an und sagt: Ich hab die ganze Strecke nur geweint. Ich weiß nicht, ich gebe auf. 'Tun Sie's nicht! Ich hätte nicht alleine gehen sollen. Doch sag ich, Sie haben sich dafür entschieden und diese Tränen mussten wahrscheinlich raus.' Ja, sagt sie, das kann natürlich auch sein."
    Kurz nach der deutschen Wiedervereinigung musste sie gemeinsam mit den anderen Dorfbewohnern lange dafür kämpfen, dass die kleine, marode Kirche der Gemeinde nicht abgerissen wurde. Heute drückt sie uns einen großen, schweren Eisenschlüssel in die Hand – "falls ihr nachher noch mal in die Kirche wollt."
    Wanderer, Pilger? So ganz genau wissen wir selber nicht, wie wir uns nennen sollen. Wir stehen morgens früh auf, trotten durch die Ruhe des Tages, treffen auf Füchse und Rehe – und schlafen abends hundemüde ein. Inmitten eines großen Waldgebietes stoßen wir einmal auf ein altes Schloss mit einer daneben gelegenen Papiermanufaktur. Kaum dass wir eingetreten sind, bricht draußen ein Unwetter los. Drei alte Damen in der Manufaktur sehen uns gelassen an und beschließen, erstmal Kaffee zu kochen. Zeit, sich von Chefin Kristine Kautz ihre Geschichte erzählen zu lassen.
    "Hier gab es eine alte Papiermühle, die wir wieder nutzen wollten. Das ging aber leider nicht, weil sie verkauft wurde. Deswegen habe ich mich bemüht, dieses Haus, was eigentlich eine Ruine war, wieder aufzubauen."
    Aus Spargelschalen, Blättern, unterschiedlichsten Materialien schöpft sie seitdem Papier.
    "Wir wollen erreichen, dass die Leute sehen, dass man nicht nur Bäume fällen muss, um Papier herzustellen, sondern dass man auch Pflanzen nutzen kann, die viel Zellulose enthalten."
    Anderthalb Stunden lang plaudern wir mit den Frauen im Wald. Als sich Blitz und Donner verzogen haben, schlagen wir uns durch das Unterholz weiter, denn die Wege sind unpassierbar geworden. Ein bisschen kommen wir uns dabei vor wie Kinder, die im Matsch spielen dürfen. Ungeduld? Missmut? Wir haben in den vorpommerschen Weiten so viel Ballast abgeworfen, dass wir davon verschont bleiben. Kerstin schüttelt fröhlich den Regen von ihrer Kaputze und beteuert:
    "Ich bedauere keine Minute, auch die nicht, wo ich mich gequält habe. Ich möchte diese Erfahrungen, die wir gemacht haben, nicht missen – diese Natur, diese wunderbaren Eindrücke, diese traumhafte Landschaft und keinen einzigen netten Menschen."
    Eine Leichtigkeit, die auch später noch eine ganze Weile nachwirkt.