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Victor Hugos "Der Mann mit dem lachen"
Außenseiter wie Quasimodo und Esmeralda

40 Jahre nach dem "Glöckner von Notre Dame" schuf Victor Hugo abermals einen Roman, in dem es um ein Außenseiterpaar geht. "Der Mann mit dem Lachen" ist nun nach 145 Jahren erstmals wieder neu ins Deutsche übertragen worden. Das Unterfangen hat sich gelohnt, findet unser Rezensent.

Von Peter Urban-Halle |
    Victor Hugo in einer zeitgenössischen Darstellung
    Victor Hugo - Andre Gide nannte ihn "Frankreichs größten Dichter, leider." (picture-alliance / dpa)
    Einen "Anwalt aller Außenseiter" hat der Kritiker Rolf Vollmann den französischen Dichter Victor Hugo genannt, aber diese Außenseiter "müssen ans Herz gehen", fügte Vollmann hinzu. Schon 1831 in seinem berühmten "Glöckner von Notre Dame" hatte Hugo ein Außenseiterpaar erschaffen, das ans Herz ging: den buckligen Quasimodo und die schöne Zigeunerin Esmeralda. Vierzig Jahre später schildert Hugo in seinem Riesenroman "L'homme qui rit", "Der Mann mit dem Lachen", wieder so ein Außenseiterpaar, das ans Herz geht und zudem seine Idee von der "harmonie des contraires", der Harmonie der Gegensätze, in zugespitzter Form wiedergibt.
    Die erste deutsche Übersetzung erschien bereits im selben Jahr wie das Original, 1869, angefertigt von Georg Büchmann, der Jahre zuvor die berühmten "Geflügelten Worte" herausgegeben hatte. Es war bislang auch die einzig vollständige Übertragung, denn alle weiteren waren radikal beschnitten. Die jetzt vorliegende Version ist also die erste ungekürzte Übersetzung seit 145 Jahren. Der Übersetzer Rainer G. Schmidt:
    "Es scheint mir doch angezeigt, jetzt noch mal eine neue Fassung herauszubringen, zumal dieses Werk in Deutschland nicht besonders stark rezipiert wird. Anders sieht es zum Beispiel in Italien aus. Gerade hat Umberto Eco einen Essay über dieses Buch geschrieben, der Essay ist inzwischen auch in der Zeitschrift Akzente veröffentlicht, und ich denke, daß man auch neue Bezüge aus der Moderne zu diesem Werk schaffen kann."
    Schauplatz: das England des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts
    Der Roman spielt im England des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts. Schon die Einleitung ist unkonventionell, es gibt nämlich zwei. Vorgestellt wird erstens ein philosophierender Gaukler namens Ursus, ein nach außen hin mürrischer und scheuer Misanthrop. Zweitens lernen wir die sogenannten Comprachicos kennen, die wie Ursus durchs Land ziehen und Kinder kaufen oder rauben, um sie dann zur Belustigung anderer grausig zu verstümmeln und zu entstellen.
    Im Januar 1690 nun nimmt Ursus einen verwahrlosten zehnjährigen Jungen auf, er heißt Gwynplaine. Er hält ein kleines Mädchen im Arm, das knapp ein Jahr alt ist. Der Junge war von den Comprachicos, die aus England flohen, an der Küste zurückgelassen worden; das Mädchen hatte er auf seinem Marsch durch Schnee und Sturm auf der Leiche seiner erfrorenen Mutter gefunden.
    Ursus zieht mit den beiden von Jahrmarkt zu Jahrmarkt, Gwynplaine ist die schreckenerregende Sensation. Die Comprachicos haben ihm nämlich ein Lachen ins Gesicht geschnitten, er ist „mit seinem eigenen Fleisch maskiert". Aus dem kleinen Mädchen wird eine wunderschöne junge Frau, Dea genannt. Doch sie ist blind, weshalb sie den ewig grinsenden Gwynplaine nicht sehen, aber gerade deshalb lieben kann. Der bucklige Glöckner von Notre Dame, der verwachsene Hofnarr Triboulet in dem Stück "Der König amüsiert sich", und nun der grotesk entstellte Gwynplaine und die blinde Dea – was bedeutet Hugos Faszination für die Missgestalt?
    Die Verschärfung der Gegensätze
    Es geht ja Hugo nicht in erster Linie um die Missgestalt, sondern um die Verschärfung der Gegensätze, mit dem entstellten Menschen geht ja immer die Schönheit oder die Anmut einher, im Fall von Gwynplaine ist es die liebliche Dea, die blind ist, sie daher die Entstellung gar nicht sehen kann, die sein Herz sieht und ihn deswegen umso mehr lieben kann. Die Entstellung von Gwynplaine, die ja an ihm verübt wurde, als er noch ein kleines Kind war – die bringt ihn also in eine gespaltene Situation, nach außen hin hat er ein Dauergrinsen aufgesetzt, was unter Umständen auch mit dem Keep smiling des Totenschädels korrespondiert, und zur Innenseite hin ist er ein ganz verletzlicher, empfindsamer Mensch, und diese beiden Seiten bringt er eigentlich nicht mehr zusammen.
    Das genau macht Gwynplaines Tragödie aus, er steht sich gewissermaßen selbst im Weg – auch dann noch, oder vielleicht gerade dann, als er durch einen Zufall als Sprössling einer Adelsfamilie erkannt wird. Er kann dieser Zwickmühle nicht entkommen. Manche Abläufe und Rituale spielen in diesem Roman eine so bestimmende Rolle, dass die Personen kaum mehr selbst agieren können, „die Handlungen vollziehen sich an ihnen", wie der Übersetzer in seinem profunden Nachwort schreibt.
    Romanmonstrum und doch atemberaubende Literatur
    Victor Hugo war nie ein Mann der leisen Töne, er war immer Dionysos und nie Apollo. Er ist wortmächtig, farbig, dramatisch, erfindungsreich wie kaum ein zweiter, wir verdanken ihm unvergessliche Bilder.Wer ist der größte Poet Frankreichs? Seufzend antwortete André Gide: "Hugo. Leider." In Hugos ausuferndem und regellosem Romanmonstrum kann man studieren, was romantischer Exzess heißt, inhaltlich und stilistisch. Es gibt pathetische Schilderungen sentimentaler Beziehungen oder seitenlange Aufzählungen des englischen Adels, die man vielleicht überspringen kann. Seine Figuren bewegen sich fast am Rande der Karikatur. Aber wenn er richtig loslegt, wenn peitschende Meerestürme, aufreibende Schneewanderungen, grausame Folterungen beschrieben werden, dann ist die Lektüre im wahrsten Sinne atemberaubend.
    Victor Hugo: "Der Mann mit dem Lachen"
    Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Rainer G. Schmidt
    Achilla Presse, Butjadingen/Hamburg o.J. [2013]
    Zwei Bände im Schuber, 897 Seiten, 48 Euro