Hannover, vor ein paar Wochen. Eine vermummte Gestalt schleicht sich vor den Haupteingang des Niedersächsischen Landtags und stellt dort einen großen leeren Pappkarton ab. "Bombe" steht gut sichtbar darauf. Obwohl etliche Videokameras rund um das Parlament installiert sind, bleibt der vermeintliche Attentäter unbemerkt und unbehelligt.
Der falsche Bombenleger war ein Aktivist des "Arbeitskreises Vorratsdatenspeicherung". Er habe zeigen wollen, wie unsinnig Kameraüberwachung sei.
Da stimmt ihm der Berliner Kulturwissenschaftler und Journalist Dietmar Kammerer zu. Der 37-Jährige geht dabei ebenso gründlich wie originell vor und verknüpft sozialwissenschaftliche mit kulturwissenschaftlichen Fragestellungen. Videoüberwachung - so Kammerer - habe eine lange Vorgeschichte. Sie beginnt im Jahre 1667 im absolutistischen Frankreich. Damals schuf Ludwig XIV. die moderne Polizei und befahl zugleich die Ausleuchtung der Pariser Straßen mit einheitlichen Laternen. Aber:
"Die Leute haben es damals nicht als Wohltat gesehen, die haben ganz klar gesehen, dass es eine Maßnahme des Königs war, die Straße unter seine Kontrolle zu bringen, unter seine Macht zu bringen. Diese Laternen, die Ludwig XIV. aufgehängt hat, wurden immer, wenn es eine Revolution gab oder eine Rebellion oder was auch immer, wurden die zuerst zerstört von den Bürgern. Weil die wollten, dass die Straße weiterhin ihnen gehört."
Die Herstellung von Sichtbarkeit, der Hunger des Staates nach Bildern seiner potenziell aufrührerischen oder straffälligen Bürger, des so genannten "lichtscheuen Gesindels", wird zum bestimmenden Motiv polizeilicher Tätigkeit. In Analogie zum Waffenmonopol erstrebt der Staat ein "Lichtmonopol". Kammerer schildert minutiös, wie die Polizei Mitte des 19. Jahrhunderts die Daguerreotypie in den Dienst der Kriminalistik nimmt, wie Verdächtige zwangsfotografiert werden und die bebilderten "Verbrecherkarteien" immer umfangreicher werden. Freilich: das Fahndungsfoto basiert - wenigstens in demokratischen Staaten - auf einem konkreten Verdacht oder vorausgegangener Delinquenz. Das unterscheidet das herkömmliche Foto von den bewegten Bildern heutiger Videoüberwachung. Die ersten Versuche mit Kameras unternahm die Verkehrspolizei. Stauanfällige Straßen waren wesentlich einfacher aus der Ferne zu überwachen als durch teures Personal.
"Relativ schnell aber hat die Polizei entdeckt, dass sie, dadurch dass die Kameras auf den Straßen waren, auch Demonstrationen, Erster-Mai-Kundgebungen überwachen konnte. Und das hat schon in den 60er-Jahren angefangen, immer so vom Verkehrsbereich auf das Demonstrationsgeschehen überzuwechseln, auf die Überwachung von Versammlungen."
Diese frühe Form der Videoüberwachung war noch an bestimmte Anlässe wie Demonstrationen oder Sportereignisse gebunden. Der Durchbruch zur pausenlosen Rund-um-die-Uhr-Überwachung erfolgt in den 90er-Jahren. Pionier dabei ist Großbritannien. Heute sollen auf der Insel mehr als vier Millionen Kameras installiert sein. Wer einen Tag lang durch das Zentrum Londons spaziert, wird möglicherweise nacheinander von rund 300 Kameralinsen erfasst.
Dass ausgerechnet das als liberal geltende Großbritannien zum Vorreiter staatlicher und privater Videoüberwachung wurde, hängt zusammen mit der langjährigen Vernachlässigung der Innenstädte. Vor allem aber brachte 1993 der Fall des zweijährigen James Bulger den emotionalen Durchbruch. Der kleine James war von Jugendlichen aus einem Einkaufszentrum entführt und getötet worden. Tatsächlich zeigen 16 Kameras den Kleinen, wie er an der Hand seiner Entführer arglos die Shopping Mall verlässt. Im Kontrollraum hatte niemand Verdacht geschöpft. Warum auch?
"Im Grunde ist die Geschichte absurd. Die Geschichte beweist, dass Videoüberwachung nicht gegen Entführung und Tötung kleiner Kinder hilft. Es wurde aber genau gegenteilig gelesen und daraufhin wurde gesagt: Wir brauchen mehr Überwachungskameras."
Videoüberwachung, ist Dietmar Kammerer überzeugt, wird überschätzt. Sie gaukelt Sicherheit nur vor und taugt kaum zur Prävention. Auf dem Weg vom Bild zur Aktion bleibt Videoüberwachung oft stecken.
Dietmar Kammerer belässt es nicht dabei, die Rund-um-die-Uhr-Überwachung öffentlicher und privater Zonen in Frage zu stellen. Er zeigt - und da übergibt der Sozialwissenschaftler an den Kulturwissenschaftler - mit welcher Selbstverständlichkeit "Bilder der Überwachung" inzwischen Einzug in unseren Alltag gehalten haben. Doch während die Untertanen des "Sonnenkönigs" noch die neuen Laternen zerstörten, scheint die Allgegenwart von Videolinsen in der "Kontrollgesellschaft" von heute für viele kein Ärgernis zu sein. Videoüberwachung, so Kammerer, habe ein hohes "Faszinationspotenzial", Big Brother ist nur mehr ein netter Kumpel aus dem RTL-Container.
"Das Kino ist ein Ort, wo man solchen Bildern der Überwachung begegnet. Die Werbung ist ein Ort, wo ich viele Bilder der Überwachung gefunden habe, die die Ästhetik der Videoüberwachung übernimmt oder Videoüberwachungskameras abbildet und die Personen verhalten sich auf irgendeine Weise dazu."
Werbestrategen haben längst den "Glamour des Überwachtwerdens" entdeckt und beuten geschickt die Ambivalenz der Observation aus: Das Kameraauge bedeutet einerseits Kontrolle, andererseits erzeugt es Gefühle von Fürsorglichkeit und Zugehörigkeit. Denn: Wer gefilmt wird, kann nicht ganz unwichtig sein. Auf einem Plakat der US-Bekleidungsfirma Kenneth Cole heißt es frech: "Durchschnittlich zehnmal am Tag filmt dich eine Videokamera. Bist du dafür eigentlich passend angezogen?"
Für Kammerer existiert ein enger Zusammenhang "zwischen Überwachung und Selbstverwirklichung", er zitiert den Soziologen Markus Schröer: "Größer als die Angst, überwacht zu werden, ist die Angst davor, übersehen zu werden."
Günter Beyer über Dietmar Kammerer: Bilder der Überwachung. Das 382 Seiten starke Taschenbuch kommt aus der Edition Suhrkamp und kostet 13 Euro.
Der falsche Bombenleger war ein Aktivist des "Arbeitskreises Vorratsdatenspeicherung". Er habe zeigen wollen, wie unsinnig Kameraüberwachung sei.
Da stimmt ihm der Berliner Kulturwissenschaftler und Journalist Dietmar Kammerer zu. Der 37-Jährige geht dabei ebenso gründlich wie originell vor und verknüpft sozialwissenschaftliche mit kulturwissenschaftlichen Fragestellungen. Videoüberwachung - so Kammerer - habe eine lange Vorgeschichte. Sie beginnt im Jahre 1667 im absolutistischen Frankreich. Damals schuf Ludwig XIV. die moderne Polizei und befahl zugleich die Ausleuchtung der Pariser Straßen mit einheitlichen Laternen. Aber:
"Die Leute haben es damals nicht als Wohltat gesehen, die haben ganz klar gesehen, dass es eine Maßnahme des Königs war, die Straße unter seine Kontrolle zu bringen, unter seine Macht zu bringen. Diese Laternen, die Ludwig XIV. aufgehängt hat, wurden immer, wenn es eine Revolution gab oder eine Rebellion oder was auch immer, wurden die zuerst zerstört von den Bürgern. Weil die wollten, dass die Straße weiterhin ihnen gehört."
Die Herstellung von Sichtbarkeit, der Hunger des Staates nach Bildern seiner potenziell aufrührerischen oder straffälligen Bürger, des so genannten "lichtscheuen Gesindels", wird zum bestimmenden Motiv polizeilicher Tätigkeit. In Analogie zum Waffenmonopol erstrebt der Staat ein "Lichtmonopol". Kammerer schildert minutiös, wie die Polizei Mitte des 19. Jahrhunderts die Daguerreotypie in den Dienst der Kriminalistik nimmt, wie Verdächtige zwangsfotografiert werden und die bebilderten "Verbrecherkarteien" immer umfangreicher werden. Freilich: das Fahndungsfoto basiert - wenigstens in demokratischen Staaten - auf einem konkreten Verdacht oder vorausgegangener Delinquenz. Das unterscheidet das herkömmliche Foto von den bewegten Bildern heutiger Videoüberwachung. Die ersten Versuche mit Kameras unternahm die Verkehrspolizei. Stauanfällige Straßen waren wesentlich einfacher aus der Ferne zu überwachen als durch teures Personal.
"Relativ schnell aber hat die Polizei entdeckt, dass sie, dadurch dass die Kameras auf den Straßen waren, auch Demonstrationen, Erster-Mai-Kundgebungen überwachen konnte. Und das hat schon in den 60er-Jahren angefangen, immer so vom Verkehrsbereich auf das Demonstrationsgeschehen überzuwechseln, auf die Überwachung von Versammlungen."
Diese frühe Form der Videoüberwachung war noch an bestimmte Anlässe wie Demonstrationen oder Sportereignisse gebunden. Der Durchbruch zur pausenlosen Rund-um-die-Uhr-Überwachung erfolgt in den 90er-Jahren. Pionier dabei ist Großbritannien. Heute sollen auf der Insel mehr als vier Millionen Kameras installiert sein. Wer einen Tag lang durch das Zentrum Londons spaziert, wird möglicherweise nacheinander von rund 300 Kameralinsen erfasst.
Dass ausgerechnet das als liberal geltende Großbritannien zum Vorreiter staatlicher und privater Videoüberwachung wurde, hängt zusammen mit der langjährigen Vernachlässigung der Innenstädte. Vor allem aber brachte 1993 der Fall des zweijährigen James Bulger den emotionalen Durchbruch. Der kleine James war von Jugendlichen aus einem Einkaufszentrum entführt und getötet worden. Tatsächlich zeigen 16 Kameras den Kleinen, wie er an der Hand seiner Entführer arglos die Shopping Mall verlässt. Im Kontrollraum hatte niemand Verdacht geschöpft. Warum auch?
"Im Grunde ist die Geschichte absurd. Die Geschichte beweist, dass Videoüberwachung nicht gegen Entführung und Tötung kleiner Kinder hilft. Es wurde aber genau gegenteilig gelesen und daraufhin wurde gesagt: Wir brauchen mehr Überwachungskameras."
Videoüberwachung, ist Dietmar Kammerer überzeugt, wird überschätzt. Sie gaukelt Sicherheit nur vor und taugt kaum zur Prävention. Auf dem Weg vom Bild zur Aktion bleibt Videoüberwachung oft stecken.
Dietmar Kammerer belässt es nicht dabei, die Rund-um-die-Uhr-Überwachung öffentlicher und privater Zonen in Frage zu stellen. Er zeigt - und da übergibt der Sozialwissenschaftler an den Kulturwissenschaftler - mit welcher Selbstverständlichkeit "Bilder der Überwachung" inzwischen Einzug in unseren Alltag gehalten haben. Doch während die Untertanen des "Sonnenkönigs" noch die neuen Laternen zerstörten, scheint die Allgegenwart von Videolinsen in der "Kontrollgesellschaft" von heute für viele kein Ärgernis zu sein. Videoüberwachung, so Kammerer, habe ein hohes "Faszinationspotenzial", Big Brother ist nur mehr ein netter Kumpel aus dem RTL-Container.
"Das Kino ist ein Ort, wo man solchen Bildern der Überwachung begegnet. Die Werbung ist ein Ort, wo ich viele Bilder der Überwachung gefunden habe, die die Ästhetik der Videoüberwachung übernimmt oder Videoüberwachungskameras abbildet und die Personen verhalten sich auf irgendeine Weise dazu."
Werbestrategen haben längst den "Glamour des Überwachtwerdens" entdeckt und beuten geschickt die Ambivalenz der Observation aus: Das Kameraauge bedeutet einerseits Kontrolle, andererseits erzeugt es Gefühle von Fürsorglichkeit und Zugehörigkeit. Denn: Wer gefilmt wird, kann nicht ganz unwichtig sein. Auf einem Plakat der US-Bekleidungsfirma Kenneth Cole heißt es frech: "Durchschnittlich zehnmal am Tag filmt dich eine Videokamera. Bist du dafür eigentlich passend angezogen?"
Für Kammerer existiert ein enger Zusammenhang "zwischen Überwachung und Selbstverwirklichung", er zitiert den Soziologen Markus Schröer: "Größer als die Angst, überwacht zu werden, ist die Angst davor, übersehen zu werden."
Günter Beyer über Dietmar Kammerer: Bilder der Überwachung. Das 382 Seiten starke Taschenbuch kommt aus der Edition Suhrkamp und kostet 13 Euro.