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Viel Herdentrieb beim Abgesang an den Börsen

Aufgrund guter Unternehmenszahlen hält Rudolf Hickel, Wirtschaftswissenschaftler an der Universität Bremen, die Talfahrt an den Börsen für irrational. Allerdings gebe es berechtigte Zweifel daran, ob die Politik mit der Schuldenkrise richtig umgeht.

Rudolf Hickel im Gespräch mit Tobias Armbrüster |
    Tobias Armbrüster: Es ist also weltweit das gleiche Bild, Talfahrt an den internationalen Börsen. Am Telefon bin ich nun mit Professor Rudolf Hickel verbunden. Er ist Wirtschaftswissenschaftler an der Universität Bremen. Schönen guten Tag, Herr Hickel!

    Rudolf Hickel: Schönen guten Tag!

    Armbrüster: Herr Hickel, was reitet die Börsen heute?

    Hickel: Na ja, ich bin ganz sicher, dass die Börsen vor allem sehr stark irrational angetrieben sind durch Herdentriebverhalten. Ich will mal deutlich machen, warum: Es gibt eigentlich ökonomisch von der Substanz der Unternehmen beispielsweise in Deutschland überhaupt keinen Grund, warum der DAX gestern um vier Prozent und heute noch mal um 2,5 Prozent nach der Eröffnung gesunken ist. Wir haben eine hervorragende Performance in der Wertschöpfung der Automobilindustrie, wir haben es auch gleichzeitig natürlich auch im Anlagenbau, das ist das eine. Und das Zweite ist, was jetzt immer genannt wird, ist ja die Tatsache der Schuldenkrise. Ich meine, die Schuldenkrise ist ja nicht gerade gestern wie Manna vom Himmel gefallen, sondern wir wissen es schon lange. Es gibt jetzt offensichtlich, das ist neu hinzugekommen und das Argument muss man ernst nehmen, dass es erhebliche Zweifel gibt an der Managementfähigkeit, am Krisenmanagement der Politik, mit den Schulden umzugehen. Und da muss ich sagen, Irrationalität auf der einen Seite, aber auch auf der anderen Seite ist die gestern auch unglaublich geschürt worden durch den wirklich nicht gut platzierten Brief von Barroso, der im Grunde genommen zwei Wochen nach dem 21. Juli erklärt, das Rettungspaket sei zu eng, sei zu wenig Geld, es sei schlecht kommuniziert, es sei viel zu komplex. Das hat natürlich wie ein Paukenschlag gewirkt bei den Börsen und macht wohl deutlich, dass wir offensichtlich ein Comeback solcher Krisenverhandlungen wieder im Herbst haben werden. Und das hat natürlich die Börse dann aufgenommen und das wird dann umgesetzt in Kursabstürze.

    Armbrüster: Das heißt nun, was ist das, was wir da heute sehen, ist das rational oder irrational?

    Hickel: Nein, es ist eigentlich beides. Es ist einerseits irrational, irrational deshalb, weil, wenn, man sich die Werte anschaut – ich kann mich nur wiederholen, beispielsweise die Allianz ist ja heute Morgen auch abgestürzt, die Allianz-Versicherung –, wenn man sich die Werte anschaut, dann ist der Absturz, die Abstrafung an den Börsen ist viel zu groß gemessen an der Wertschöpfungsfähigkeit der jeweiligen Unternehmen auf der einen Seite. Auf der anderen Seite ist natürlich – das zeigt uns der Volatilitätsindex –, die Volatilität ist unglaublich hoch. Übersetzt sind einfach die Ängste, die Sorgen, dass man das nicht in den Griff bekommt. Und dazu kommt natürlich – ist ja auch schon gesagt worden –, wir haben es weltweit, auch in den Schwellenländern, mit einer Wachstumsabschwächung zu tun. In den USA diskutieren die Kollegen der Wirtschaftswissenschaft, ob es nicht sozusagen zum Double Dip kommt, also zu einer zweiten Rezession. Die würde dann natürlich es völlig unmöglich machen, die Schuldensituation einigermaßen zu bewältigen. Deshalb schauen wir ja auch alle gespannt jetzt um 14:30 Uhr auf die Daten zum Arbeitsmarkt aus den USA. Aber ich will mal sagen, ich bin relativ sicher in meiner Prognose – kann ja nächste Woche dann überprüft werden –, dass dieses, sozusagen diese Panik, die ja jetzt ausgebrochen ist, dass die schnell überwunden wird. Zumal – ist ja auch schon gesagt worden – in dem Absturz kalkulieren natürlich jetzt auch mehrere auf Kauf und man darf nicht vergessen die Spekulanten. An diesem Absturz profitieren natürlich Spekulanten, die in gewisser Weise den auch vorantreiben, um damit die Geschäfte zu machen.

    Armbrüster: Sie haben schon in einer Antwort angesprochen das Schuldenmanagement der Politiker in Europa und auch in den USA. Was könnten die besser machen?

    Hickel: Wir sind in einem Riesendilemma. Das ist ja diskutiert worden in den USA, das zeigt sich aber auch beispielsweise in Krisenländern wie Griechenland. Auf der einen Seite verlangen alle, auch die Finanzmärkte – da sieht man, wie irrational die sind –, verlangen jetzt den massiven Abbau der Defizite, vor allem natürlich durch Staatsausgabenkürzungen. Auf der anderen Seite haben wir gerade eine neue Studie vom Internationalen Währungsfonds und wissen, dass diese Art von Kürzungsprogrammen Schrumpfprogramme der Wirtschaft sind. Das heißt also die Wirtschaft in die Rezession zwingen. Und da ist, glaube ich, jetzt etwas, die Wahrheit liegt eigentlich in der Mitte, zu sagen, wir brauchen eine mittelfristige Konsolidierungsstrategie der öffentlichen Haushalte. Wir dürfen sie jetzt aber kurzfristig nicht erzwingen durch massive Sparmaßnahmen, weil die im Grunde genommen die Konjunktur belasten. Es gibt eine Studie, die 117 Länder verglichen hat, die zeigen, dass gerade solche restriktiven Maßnahmen Gift sind kurzfristig für die Konjunktur. Was wir brauchen – da müssen die Finanzmärkte ja auch aufgeklärt werden über ihr irrationales Verhalten –, was wir brauchen, ist die Einsicht sowohl in der Politik, als auch auf den Finanzmärkten in eine mittelfristige Sanierungsstrategie, die heute, in ihren heutigen Maßnahmen die gesamtwirtschaftlichen Wirkungen ihres Handelns berücksichtigt.

    Armbrüster: Aber Herr Professor Hickel, sind die Schulden in USA und auch hier bei uns in Europa in vielen Ländern nicht so massiv hoch, dass man jetzt etwas dagegen tun muss? Wir hören täglich diese Zahlen von Billionen Dollar, von Billionen Euro! Wir müssen versuchen, von diesen Schulden runterzukommen, ist es da nicht verständlich, dass sich die Länder, auch die USA und auch die Euro-Länder dazu verpflichten, jetzt ordentlich den Gürtel enger zu schnallen?

    Hickel: Es kann überhaupt keinen Zweifel geben, dass die Schulden abgebaut werden müssen, aber das ist eine Frage der Strategie. Und die strategische Größe ist zum Schuldenabbau das Wirtschaftswachstum. Wir haben ja die doppelte Wirkung. Wir haben auf der einen Seite Ausgabenzuwächse gehabt, auf der anderen Seite eine wirtschaftlich schwache Entwicklung. Und deshalb plädiere ich in der Tat für eine mittelfristige Konsolidierungsstrategie, damit wir von den Schulden, vor allem mal von den Zinslasten runterkommen. Aber das muss man sozusagen mit gesamtwirtschaftlichem Augenmaß machen. Es wird ja in den USA heute Morgen und beziehungsweise gestern intensiv diskutiert, ob nicht wirklich diese Sparmaßnahmen, die jetzt unmittelbar vorgesehen sind, ob die nicht die Konjunktur am Ende in eine Double Dip, also in eine zweite Rezession zwingen. Und eins ist doch klar: Die Voraussetzung für Sanierung öffentlicher Haushalte ist natürlich – da gebe ich Ihnen völlig recht –, ist eine ordentliche solide Ausgabenpolitik, da müssen auch Kürzungen vorgenommen werden. Aber auf der anderen Seite ist eine Politik der Stärkung des Wirtschaftswachstums, die dann über zunehmende Steuereinnahmen die Refinanzierung sozusagen des Staates verbessert. Das ist das Problem, dass wir da durch müssen, und wir haben heute und gestern beziehungsweise in Deutschland beim DAX jetzt seit acht Tagen so eine relativ irrationale kurzfristige Reaktion: Um Gottes Willen, kriegen die das eigentlich hin mit dem Schuldenabbau? Und gleichzeitig schwebt übrigens auch bei den Analysten ja das Problem mit, dass sie sagen, ja, aber wenn man das jetzt so scharf macht, dann kriegt man ja auch Einbrüche. Das heißt also, wir brauchen eine mittelfristige Sanierungsstrategie mit Wirtschaftswachstum. Und innerhalb dieser Strategie, beispielsweise Griechenland, muss dann auch in den Sanierungen der öffentlichen Haushalte eingebettet werden. Das heißt vor allem, Abbau von überflüssigen Ausgaben und vor allem aber auch Stärkung der steuerlichen Einnahmenquellen.

    Armbrüster: Herr Hickel, Sie haben es schon angedeutet: Alle Welt, alle Anleger blicken heute Nachmittag vor allem auf die aktuellen Arbeitsmarktzahlen, die in den USA veröffentlicht werden. Was würde es für die deutsche Wirtschaft bedeuten, wenn die USA erneut in die Rezession geraten?

    Hickel: Ja, unmittelbar wären wir natürlich dadurch betroffen, dass wir zwar nicht mehr so hoch – die Exportquote in die USA ist ja zurückgegangen, die liegt ungefähr jetzt bei acht, neun Prozent –, wir wären also unmittelbar betroffen, bei einer Rezession in den USA wären wir natürlich betroffen durch den Einbruch der Exporte. Aber insgesamt – und das sehen wir jetzt an der, das Ganze ist ja überhöht durch die Aktienentwicklung –, und insgesamt wirkt eben – es ist vorher schon gesagt worden – USA immer noch als stärkste Wirtschaftsmacht, wirkt im Grunde genommen sich auf die Weltwirtschaft aus. Und es gibt hier ganz viele indirekte Effekte. Meine Sorge ist jetzt unmittelbar für Deutschland, dass aufgrund dieses Einbruchs der Kurse, dass es jetzt vielleicht zu einer Kreditverknappung bei Banken kommen könnte, dann hätten wir auch unmittelbaren Transport sozusagen in die deutsche Wirtschaft im Sinne der Schwächung der Wirtschaft. Aber ich glaube, dass es insgesamt handelbar ist, noch mal ...

    Armbrüster: ... das wäre dann wieder so etwas wie, was wir nach der Lehman-Pleite erlebt haben, dass niemand Geld leihen will?

    Hickel: Ganz genau, ganz genau. Und entscheidend ist ja doch ... Und deshalb bin ich heute im Gegensatz zu vielen etwas optimistischer, weil ich einfach mir die ökonomischen Werte der deutschen Unternehmen anschaue, auch der exportierenden Unternehmen, die natürlich auch spüren Rückgänge der Exporte durch sozusagen Probleme importierender Länder. Aber insgesamt steht die Wirtschaft gut da, wenn man sich die Dividenden der 30 DAX-Unternehmen anschaut, dann muss man wirklich sagen, wir sind in einer Phase, es kommt oft vor auf den Finanzmärkten, wo die Bewertung im Rahmen der Aktienkurse sich wirklich massiv trennt von dem, was eigentlich den ökonomischen Wertschöpfungsfaktor ausmacht. Und das gehört dazu, das ist Spekulation, das ist Herdentrieb, das ist Panik, das ist Sorge, aber es wird sich auch wieder im Grunde genommen auflösen.

    Armbrüster: Talfahrt an den internationalen Börsen, Talfahrt auch an den deutschen Börsen. Wir haben darüber gesprochen mit dem Bremer Wirtschaftswissenschaftler Professor Rudolf Hickel. Besten Dank, Herr Hickel, für das Gespräch!

    Hickel: Schönen Dank!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.