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"Viel zu wenig vertiefend"

Die Rede von Bundespräsident Christian Wulff zur deutschen Einheit habe mit dem Blick nach vorne wichtige Akzente gesetzt, sagt der Theologe und frühere DDR-Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer. Vermisst habe er allerdings ein paar Sätze über den weiteren Umgang mit den DDR-Altlasten und der Demokratiemüdigkeit vieler Menschen.

Friedrich Schorlemmer im Gespräch mit Jasper Barenberg |
    Jasper Barenberg: 20 Jahre deutsche Einheit, ein besonderes Jubiläum – keine Frage. Die Fassade des Reichstagsgebäudes, gestern Abend ist sie erst in Schwarz-Rot-Gold, dann in das blaue Licht der Europafahne gehüllt, zu den Klängen der Ode an die Freude beginnt das Feuerwerk.

    Eine Feststunde, zu der Bundestagspräsident Norbert Lammert nach Berlin eingeladen hatte, damit endeten die Feierlichkeiten, die am Vormittag mit der zentralen Einheitsfeier in Bremen begonnen hatten. Dort hielt auch Bundespräsident Christian Wulff seine Rede und eilte wie viele andere der Ehrengäste dann am Abend zurück nach Berlin auf die Tribüne vor dem Parlament. Mancher empfindet das als eine Feier zu viel, andere wiederum haben Zweifel, ob der 3. Oktober eigentlich der richtige Tag ist, um an die Wiedervereinigung zu erinnern.

    Am Telefon ist jetzt der Theologe, der Publizist und der frühere DDR-Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer. Einen schönen guten Morgen, Herr Schorlemmer!

    Friedrich Schorlemmer: Guten Morgen!

    Barenberg: Zwei große Feiern am 3. Oktober, gestern, eine in Bremen, die andere in Berlin. War das in Ihren Augen angemessen, oder des Guten ein wenig zu viel?

    Schorlemmer: Also: Bremen hätte ausgereicht. 700.000 Euro sind woanders besser aufgehoben. Wir sind ein föderales Land. Berlin ist großartig, aber muss nicht immer im Mittelpunkt stehen. Bremen hätte gut ausgereicht, finde ich, und ich hätte mir auch gedacht, dass das Volk mehr feiern würde im ganzen Land. Es gab viele offizielle Feierlichkeiten, aber wenig Volksfeststimmung, und das hat Gründe.

    Barenberg: Das hat Gründe. Welche?

    Schorlemmer: Dass der 3. Oktober nicht ein Tag ist, an den sich emotional viel bindet. Das wäre viel besser gewesen, wenn wir den 9. Oktober genommen hätten, den Tag des friedlichen Umbruchs in Leipzig, wo Zivilcourage und Besonnenheit der Massen da war, wo wir den drohenden Bürgerkrieg einen Tag vorher in Dresden haben vermeiden können und den Weg in die selbstbestimmte Demokratie gegangen sind, der dann schließlich in die Einheit führte. Das wäre ein Tag der Würdigung gewesen. Schließlich die Franzosen feiern auch nicht am 9. Juli ihren Nationalfeiertag, sondern am 14. Juli, dem Tag der Erstürmung der Bastille, und die Amerikaner am 4. Juli, dem Tag der Unabhängigkeitserklärung, und nicht irgendwas Formales. Das ist einfach schade.

    Barenberg: Der 3. Oktober, meinen Sie, er kann noch mal in die Diskussion geraten? Sehen Sie Anzeichen dafür, dass es da vielleicht noch Änderungen geben könnte?

    Schorlemmer: Nein. Ich glaube, das ist vorüber. Aber vielleicht könnten wir wenigstens etwas noch einbringen in die deutsche Einheit, indem wir überlegen, ob wir nicht Brechts Kinderhymne zur Nationalhymne machen könnten, "Anmut sparet nicht noch Mühe, Leidenschaft nicht noch Verstand, dass ein gutes Deutschland blühe, wie ein anderes gutes Land", und da hinein passt auch das, was Christian Wulff im Blick auf Integration der auf Dauer bei uns lebenden Muslime gesagt hat.

    Barenberg: Er hat ja den Akzent sehr auf diesen Punkt gelegt, auf die Integration und die Herausforderungen, die uns da noch bevorstehen. Ist ihm das gut gelungen, da eine Akzentverschiebung weg von den Trennungen zwischen Ost und West hin zu den neuen Trennungen, die es in diesem Land gibt?

    Schorlemmer: Das finde ich im Prinzip gut, dass wir nach vorne schauen, aber ein paar Sätze über den weiteren Umgang mit den DDR-Altlasten oder der DDR-Vergangenheit hätten auch gut getan, und vor allen Dingen auch ein Satz zur Demokratiemüdigkeit vieler Menschen, in Ost und West übrigens, und einer Distanz zu unserem demokratischen System. Das wird er sicher noch andere Male aufgreifen und aufgreifen müssen. Und die Debatte über die Integration der Muslime war, denke ich, hilfreich, damit die Diskussion nicht aus dem Ruder läuft. Aber es war mir viel zu wenig vertiefend: Also welche mentalen und sozialpolitischen Probleme sind da drin, welche Ängste und Projektionen stehen dahinter. Das hatte Johannes Rau 1999 übrigens in seiner ersten Rede im Haus der Kulturen schon alles aufgegriffen.

    Barenberg: Da ist also noch Luft nach oben, wenn ich das mal so sagen darf?

    Schorlemmer: Ja.

    Barenberg: Rückt denn 20 Jahre nach dem Fall der Mauer, gut 20 Jahre nach dem Fall der Mauer, muss man ja sagen, dieser Gegensatz zwischen Ost und West und das, was vielleicht noch trennt, zurecht in den Hintergrund zu Gunsten anderer Themen, der zunehmenden Kluft zwischen Armen und Reichen zum Beispiel?

    Schorlemmer: Ich denke, dass beides wichtig bleibt. Wenn 48 Prozent der Deutschen der Meinung sind, dass die Einheit gelungen ist, aber 47 Prozent das verneinen, dann ist da noch ein Problem drin. Aber es ist richtig, dass wir nach diesem politischen Wechsel, diesem großartigen politischen Wechsel, bei dem wir Deutschen so viel Glück hatten und Deutsche das das erste Mal errungen haben, aus einer Diktatur friedlich in eine Demokratie und Deutschland im Frieden in Einheit gekommen ist, dass wir das würdigen und gleichzeitig uns klar machen, dass wir in der globalisierten Welt vor ganz neuen Herausforderungen gemeinsam stehen in Ost und West. Und wichtig bleibt wohl auch, dass wir benennen, was in diesen 20 Jahren Großartiges passiert ist und wie anders etwa der Osten jetzt aussieht, wie viel Glück wir haben, wie viel Farbe ins Land gekommen ist und wie viel Entfaltung viele Einzelne haben. Aber wir dürfen die nicht außer Acht lassen, die das Gefühl haben, Freiheit nützt mir nichts, wenn ich nichts habe, zum Beispiel nicht mehr gewürdigt bin zu arbeiten.

    Barenberg: Und um solche Themen anzusprechen wird es auch in Zukunft wichtig und richtig sein, eine große Feier, ein großes Fest zu begehen an diesem Tag?

    Schorlemmer: Ja! Ein Fest, das die Nachdenklichkeit einschließt, aber auch klar macht, was für ein Glück wir Deutschen hatten nach dieser schrecklichen Vorgeschichte und nach diesen 40 Jahren Teilung. Also wir sollten in jedem Jahr feiern und gleichzeitig bedenken, was vor uns liegt.

    Barenberg: Sie haben im letzten Jahr in einer Rede das Fazit gezogen, nach 40 Jahren, die die DDR existiert hat, werden noch 40 Jahre vergehen, bis die Vereinigung von Ost und West wirklich stattgefunden hat. Ist das nach wie vor die Perspektive?

    Schorlemmer: Ja, es ist so, aber das ist doch nicht schlimm, wenn wir die Unterschiede auch als Bereicherung und die Fragestellungen auch aufgreifen, die Ostdeutsche stellen, die ein stärkeres Gerechtigkeitsempfinden haben, oder eine größere Wut über Ungerechtigkeit.

    Willy Brandt – daran möchte ich erinnern – hat am 4. Oktober, also heute vor 20 Jahren, vor dem Bundestag und der damaligen Volkskammer gesagt, dass die Überbrückung geistig-kultureller Hemmschwellen und seelischer Barrieren schwieriger sein mag als die wirtschaftliche Aufforstung, aber, führt er fort, mit Achtung und Respekt vor dem Selbstgefühl der bisher von uns getrennten Landsleute wird es möglich sein, dass ohne entstellende Narben zusammenwächst, was zusammen gehört. Darum geht es. Es werden Narben bleiben, wir werden auch an Verwundungen erinnern, aber es soll ohne entstellende Narben zusammenwachsen, was zusammen gehört, und das wird noch 20 Jahre brauchen. Das ist nicht schlimm, aber wir sollten das ganz ruhig angehen und vertiefend auch über die Zeit der Teilung und den Kalten Krieg sprechen, statt einen neuen Kalten Krieg der Erinnerungen zu führen.

    Barenberg: Ich habe gerade mit Erhard Eppler, dem SPD-Politiker, über "Stuttgart 21" gesprochen und manche nehmen das ja als Beispiel für eine abermals registrierte wachsende Entfremdung zwischen der Bevölkerung und der Politik. Sie haben es auch eben anklingen lassen. Mehr Distanz, mehr Gleichgültigkeit, zum Teil schon Zynismus gegenüber dem Berliner Politikbetrieb, wird das auch ein Thema sein, das man bei solchen Gelegenheiten stärker noch in den Fokus nehmen muss?

    Schorlemmer: Na, viel stärker, wie weit wir die unmittelbare Demokratie mit der repräsentativen glückend verbinden. Aber wie sich gegenwärtig die politische Klasse verhält gegenüber der Empörung der Stuttgarter, das ist demokratiegefährdend. Gleichzeitig müssen die Demonstranten wissen, dass demokratische Entscheidungen nicht einfach so ausgehebelt werden können, aber der Tonfall, der dort etwa von Herrn Grube, aber auch vom Oberbürgermeister in Stuttgart gewählt wird, läuft auf eine Konfrontation hinaus. Das sollten wir in Demokratie nicht tun und noch mal neu fragen, ob dieses Projekt wirklich sinnvoll ist, aber das ohne Gewalt. Immer wieder sage ich: ohne Gewalt, aber die Stimme der Menschen auf der Straße hören. Das ist nicht der Plebs, das sind besorgte Menschen.

    Barenberg: Hören, aber nicht nach dem Munde reden – das wäre die Formel?

    Schorlemmer: Ja, dem Volk wirklich aufs Maul schauen und das, was daran auch bedenkenswert ist, auch aufgreifen. Das ist die Aufgabe der Politik, die eben nicht nur alle vier Jahre das Volk fragen soll, sondern in einem beständigen, sagen wir, seismographischen Verhältnis zu dem stehen muss, was im Volk dran ist. Also zum Beispiel: Was steckt hinter der Sarrazin-Debatte? Da sind wir noch gar nicht bei dem richtigen Punkt. Hoffentlich driftet uns das nicht nach rechts ab und wir kommen in neue Ausländerfeindlichkeit.

    Barenberg: ... , sagt der Theologe und der Publizist, der frühere DDR-Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer. Danke, Herr Schorlemmer, für das Gespräch heute Morgen.

    Schorlemmer: Guten Morgen!