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Viele 15-Jährige lesen "auf dem Niveau von Grundschülern"

Der Deutsche Lehrerverband fordert mehr "Faktenwissen" für Schüler, um deren schlechten Bildungsstand zu verbessern. Ein wilhelminischer Gedanke aus einer Zeit, die zu Ende ist, kontert "TAZ"-Bildungsredakteur Christian Füller, und macht selbst Vorschläge.

    Jasper Barenberg: Zu viele Schüler in einer Klasse, Unterrichtsausfall, Turbo-Abi, Bildungsverlierer, Einheitsschule kontra Gemeinschaftsschule, keine Frage: Im Bildungswesen ist einiges in Bewegung geraten. Um allerlei Reformen aber wird weiter und anhaltend heftig gestritten. Gestern Morgen haben wir an dieser Stelle den Präsidenten des Deutschen Lehrerverbandes nach dem richtigen Weg gefragt; hier die Antwort von Josef Kraus im Deutschlandfunk:

    O-Ton Josef Kraus: Unsere jungen Leute brauchen mehr konkretes Faktenwissen, dann erst können sie kreativ sein, dann erst sind sie wettbewerbsfähig. Ich kann nicht im luftleeren Raum Kompetenzen vermitteln wollen ohne konkrete Inhalte. Das ist wie Stricken ohne Wolle, das ist wie Kochen ohne Zutaten. Ich würde mir wünschen, dass wir weg wieder von diesem allgemeinen und seichten Kompetenzen- und Schlüsselqualifikationengerede zu inhaltlichen Debatten kommen und uns ernsthaft überlegen, was müssen unsere jungen Leute konkret wissen in den Naturwissenschaften, in Deutsch, in Literaturgeschichte, in Musikgeschichte. Die inhaltliche Debatte kostet nichts und sie wäre unglaublich wertvoll.

    Barenberg: Josef Kraus, der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, gestern im Deutschlandfunk. – Am Telefon ist jetzt Christian Füller, seit Jahren leitet er das Bildungsressort der "Tageszeitung", der "TAZ". Gerade erschienen ist sein Buch "Die gute Schule – wo unsere Kinder gerne lernen". Schönen guten Morgen, Herr Füller.

    Christian Füller: Hallo zum Deutschlandfunk.

    Barenberg: Herr Füller, mehr Fakten, mehr Leistungsgedanken, das war so ein wenig der Tenor von Josef Kraus gerade in dem O-Ton. Sind das die richtigen Antworten auf die Probleme in unserem Bildungswesen nach Ihrer Einschätzung?

    Füller: Nach meiner Einschätzung spielt Herr Kraus einfach Wilhelm II., der schon 1890 genau dieselben Sachen gefordert hat: Mehr Geschichte, mehr Deutsch und weniger Latein war das damals und heute sagt Kraus, mehr Geschichte, mehr Deutsch und ein bisschen weniger Pisa-Studien. Ich finde, dass das immer eloquent ist, was Herr Kraus sagt, aber Herr Kraus ist eben Vertreter eines Systems, was eigentlich zu Ende ist. Ich glaube, es geht heute darum, dass wir uns überlegen müssen, wie wir das ganze Schulsystem verändern - Hamburg, Schleswig-Holstein, Berlin fangen ja bereits damit an – und dass wir uns auf die Kernfrage konzentrieren, nämlich dass wir als Land, einfach als Industrieland es uns nicht leisten können, dass 20 Prozent – das muss man sich mal vorstellen – unserer 15-jährigen, die getestet werden, kaum lesen können, sie können nicht sinnentnehmend lesen, sie lesen auf dem Niveau von Grundschülern. Das ist die Kernfrage, um die wir uns kümmern müssen.

    Barenberg: Ist das auch der Grund, warum Sie sagen, dass die Schule, wie sie Herr Kraus skizziert, eine Schule von gestern ist?

    Füller: Das ist genau der Grund, weil Herr Kraus predigt das seit 30 Jahren in seinen verschiedenen Funktionen, als Philologenverbandschef und jetzt inzwischen Chef des Deutschen Lehrerverbandes. Dieses Schulsystem, was Herr Kraus propagiert, hat uns eben in diese Probleme geführt und die heile Welt von Herrn Kraus, die ist ja noch nicht mal mehr in Bayern heil. In Bayern kracht das Schulsystem unten und oben. Es mussten in den letzten Jahren 700 Hauptschulen schließen in Bayern, weil es einfach nicht mehr genug Schüler dafür gibt und nicht, weil irgendwelche verrückten Linken oder GEWler oder Ideologen unbedingt eine Schule für alle wollten. Auch das Gymnasium, wenn wir uns das genau anschauen, das haben wir doch mitbekommen, funktioniert kaum mehr. Die Verkürzung des Gymnasiums auf acht Jahre, die so brachial durchgeführt wird, hat einfach dieses Gymnasium zu seinem Kern, zu dessen, was es eigentlich ist, gebracht: eine Druck- und Pressschule, die einfach alle die absondert und rauswirft, die nicht mitkommen. Wir kommen mit diesem Ausleseprinzip nicht weiter, wir müssen alle Kinder fördern, wir können uns kein Kind leisten zurückzulassen, und auch schon wegen der Kinder, weil jedes Kind ein Recht auf Bildung hat.

    Barenberg: Union und FDP verteidigen ja verbissen das gegliederte Schulwesen, SPD und Grüne auf der anderen Seite machen sich für längeres gemeinsames Lernen stark. Sie haben einige Länder angesprochen, in denen begonnen wurde, dort Strukturen zu verändern. Aber wie wichtig ist diese quälende Debatte über Strukturen? Brauchen wir unbedingt Strukturreformen, oder sind andere Dinge nicht vielleicht noch wichtiger?

    Füller: Herr Barenberg, ich halte das für eine Fiktion zu sagen, dass es eine so klare Trennlinie gebe zwischen rot-grün und schwarz-gelb. Schauen Sie sich zum Beispiel mal an in Nordrhein-Westfalen, wie viele Kommunen mit CDU-Bürgermeistern längst Gemeinschaftsschulen, Schule für alle, Profilschulen, wie Sie sie auch immer nennen wollen, haben wollen, weil sie einfach sonst ihre Schule nicht im Dorf behalten können. Das ist für CDU-Bürgermeister viel wichtiger, die Schule in ihrem Ort zu belassen, weil der nämlich sonst, sage ich mal, kulturell stirbt, als irgendwelche Ideologen, die die dreigliedrige Schule aufrecht erhalten wollen.

    Barenberg: Das heißt, Herr Füller, ja immer noch nicht, dass diese Politiker, auch wenn es CDU-Politiker sind, überzeugt sind, dass längeres gemeinsames Lernen, gute, bessere und schlechtere Schüler in einer Klasse, inhaltlich auch der Weg ist, den wir gehen müssen.

    Füller: Herr Barenberg, ich will gar nicht verhehlen, das muss man sich angucken, das muss man auch lernen. Aber ich sage Ihnen, wie viele von diesen CDU-Leuten schon längst auf dem Trip sind zu sagen, wir lassen die Kinder zusammen und trennen sie nicht und lesen sie nicht aus in drei verschiedene Formen.
    Auch die FDP, die Sie erwähnt haben. Die FDP ist natürlich noch nicht für die Gemeinschaftsschule, die alte Gesamtschule, die allerdings mit neuem Programm erst gemacht werden muss, aber die FDP in Nordrhein-Westfalen drückt ganz stark dahin, mindestens die Haupt- und Realschulen zusammenzuführen. Das ganze Land ist in Bewegung. Können Sie mir mal die Länder nennen, wo es eigentlich noch Hauptschulen gibt? Es sind nicht mehr viele. Es sind noch vier oder fünf. Die ganzen Ostbundesländer haben die Hauptschulen bereits rasiert und haben damit hervorragende Ergebnisse erzielt. Schauen Sie sich das Bundesland Sachsen an. Sachsen hat bei Pisa 2006 zum ersten Mal etwas geschafft, was keines unserer Bundesländer schafft – das muss man sich vorstellen -, nämlich mehr gute Schüler zu produzieren als Risikoschüler, und Sachsen ist damit der Vorreiter, die haben nur noch zwei Schulformen. Und man kann auch noch weiter gehen.

    Barenberg: "Die gute Schule" heißt der Titel Ihres Buches. Wie sieht sie denn aus, wenn Sie sich auf die Suche gemacht haben? Haben Sie die gute Schule gefunden?

    Füller: Ja. Das ist nämlich das Spannende, dass es neben dieser wirklich bitteren und traurigen Debatte über die Schulsysteme, die von der einen Seite geführt wird, längst die gute einzelne Schule gibt. Ich habe mir in fünf Bundesländern fünf verschiedene Schulformen angeguckt und ich habe mir meistens die Schulpreisträger rausgenommen von dem jungen deutschen Schulpreis und es ist einfach toll zu sehen, wie dort der Spaß am Lernen vorherrscht, wie dort nicht Auslese betrieben wird, und dass es Gemeinsamkeiten gibt. Die wichtigste Gemeinsamkeit ist, dass diese Schulen alle sagen, wir haben den Respekt vor dem Kind – das wird durch eine andere Beziehungskultur gemacht – und wir gehen auf das einzelne Kind beim Lernen ein. Das Spannende ist: was machen diese Schulen? Die brechen kultusministerielle Regeln, um zu sagen, wir machen unsere Schule so, wie wir wollen, nämlich nicht in 45 Minuten Faktenwissen, wie Herr Kraus sich das wünscht, in die Kinder hineinzugießen, sondern die machen Projekte.
    Ich gebe Ihnen mal ein Beispiel. Ich war letzte Woche an der Jena Planschule in Jena, eine dieser hervorragenden Schulen. Dort wird die industrielle Revolution eben nicht in einer 45-minütigen Paukstunde gemacht, sondern dieser Lehrer fährt mit seinen Kindern in das Industriemuseum nach Chemnitz und zeigt denen, wie die Webstühle sind, und zeigt denen, wie die ersten industriellen Maschinen sind, wo die befreiten Bauern hingerannt sind. In einem Zusammenhang versteht ein Kind natürlich viel mehr und dann braucht es natürlich und kriegt es die Fakten und hat sie von ganz alleine.

    Barenberg: Wenn wir Schulen überall in Deutschland nach diesem Vorbild haben wollten, ist dann mehr Geld nötig, oder haben die Politiker recht, die immer wieder einwenden, Geld sei nicht alles, es ginge auch um andere Dinge?

    Füller: Ich glaube, dass das der einzige Punkt ist, wo ich dem Präsidenten des gegliederten Schulsystems, Herrn Kraus, recht geben würde: Wir brauchen mehr Geld. Wenn man die Differenz unseres Bruttosozialprodukts – wir wenden da etwa 5,3 Prozent auf – zu anderen Ländern nimmt, die 7 Prozent aufwenden; das bedeutet bei uns 40 bis 50 Milliarden Euro mehr pro Jahr. Das ist eine Menge. Aber ich glaube, die wesentlichen Fragen, die wir uns stellen müssen, sind erstens: Wie kriegen wir die Schulleiter, die uns wirklich ausgehen, als die Manager der Schule vor Ort fit. Dazu brauchen wir eine Führungsakademie für Schulleiter. Das wird in vielen Zirkeln längst diskutiert. Wir müssen, da gebe ich Ihnen recht, die Lehrer darauf vorbereiten, dass sie nicht mehr vor diesen fiktionalen homogenen Lerngruppen stehen, sondern dass sie mit dem einzelnen Schüler in einer heterogenen Gruppe umgehen können. Und wir brauchen, finde ich, viel mehr Freiheit für die Schulen. Die einzelnen Schulleiter heute und die Lehrer in den Schulen haben doch gar nicht die Freiheit, wirklich den Unterricht, ihr Lehrprogramm so zu gestalten, wie sie das brauchen. Natürlich braucht man noch Rahmensetzungen von den Bundesländern und von der KMK, aber die müssen viel, viel dünner sein. Ich glaube, wenn wir dieses Programm, was in der Szene im Grunde genommen völlig unbestritten ist, von Roland Koch bis hinüber zur GEW sind das eigentlich gemeinsame Punkte, wenn wir das machen, dann kommen wir, glaube ich, wirklich weiter.

    Barenberg: Letzte Frage, Herr Füller. Haben Sie den Eindruck, dass all dem im derzeitigen Wahlkampf genug Aufmerksamkeit gewidmet wird?

    Füller: Wissen Sie, das, was Herr Kraus vorhin oder gestern gesagt hat, dass man mit Bildung sozusagen Wahlen verlieren kann und gewinnen kann, das stimmt ja, aber das sind immer nur so Randaspekte. Ich meine, im Wahlkampf ist die Bildung immer ganz oben für ein paar Wochen und dann wird irgendein Mensch zum Kultusminister benannt und kaum jemand erinnert sich mehr daran. Ich glaube, dass wir inzwischen eine Änderung haben, weil wir haben nicht mehr so wahnsinnig viel Zeit, unser Schulsystem zu verändern. Wenn Sie sich einige Regionen anschauen, dort ist die Industrie und das Handwerk jetzt bereits händeringend auf der Suche nach guten Qualifizierten und die sagen, die können wir nicht mehr aus den Hauptschulen rausholen. Das heißt, wir stehen jetzt in der Situation, dass der demografische Druck so stark wird, dass wir jetzt wirklich anfangen müssen, die Schulen zu verändern, und ich sage Ihnen, es gibt dafür hervorragende Beispiele bereits, man muss sie sich nur anschauen.

    Barenberg: Heute Morgen im Deutschlandfunk der Bildungsjournalist und Buchautor Christian Füller. Vielen Dank für das Gespräch, Herr Füller.

    Füller: Vielen Dank!