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"Viele Menschen haben Angst vor einer grundsätzlichen Änderung des Landes"

Die Islamisierung des Landes treibe viele Demonstranten in der Türkei auf die Straße, meint der stellvertretende Vorsitzende der Deutsch-Türkischen Parlamentariergruppe Johannes Kahrs. Der türkische Premierminister Erdogan habe diesen Weg eingeschlagen, nachdem er festgestellt habe, dass ihm der EU-Beitritt verschlossen ist.

Johannes Kahrs im Gespräch mit Christiane Kaess |
    Christiane Kaess: Es sind Szenen, die an den arabischen Frühling erinnern, aber sie spielen sich dieses Mal in türkischen Metropolen ab. Zehntausende Menschen wehren sich, zunächst gegen den Abriss eines Parks, aber längst schon richten sich die Demonstrationen gegen die zunehmend autoritäre Politik von Ministerpräsident Erdogan. Sie haben sich längst ausgeweitet über Istanbul hinaus auf andere Städte und die Lage scheint, sich zuzuspitzen. Es gibt mittlerweile einen weiteren Toten.
    Mitgehört am Telefon hat Johannes Kahrs, er ist für die SPD im Bundestag und Vorsitzender der Deutsch-Türkischen Parlamentariergruppe. Guten Morgen, Herr Kahrs!

    Johannes Kahrs: Moin!

    Kaess: Herr Kahrs, die Bilder erinnern an den arabischen Frühling. Ist das jetzt der türkische Frühling?

    Kahrs: Ich glaube, so weit ist das noch nicht. Ich glaube, dass es sehr viel Frust gibt, eben auch über die schon angesprochene Selbstherrlichkeit. Ich höre von vielen auch aus der Türkei, dass die wegen anderer Maßnahmen dieser Regierung empört sind, und im Ergebnis stellt sich das für mich so dar, dass auch alle diejenigen, die in der Vergangenheit mit vielem unzufrieden waren, was in der Türkei passiert ist, aber den Mund gehalten haben ob dieser Wahlerfolge von Erdogan, sich jetzt sammeln und dass das eben mehr ist, als nur der Frust über diese Baumaßnahme oder über eine Moschee, sondern viele Menschen haben Angst vor einer grundsätzlichen Änderung des Landes, vor einer Kursänderung.

    Kaess: Sie sagen, wir sind noch nicht so weit, dass man von einem türkischen Frühling sprechen könnte. Rechnen Sie denn damit, dass sich das Ganze noch ausweitet, oder dass es eher abebben wird?

    Kahrs: Ich glaube, das ist noch offen. Es gibt ja auch in Deutschland diese Welle der Empörung und das ist nicht so, dass das morgen vorbei ist. Auf der anderen Seite hat das viel damit zu tun, wie der Premier Erdogan reagiert, wie er mit den Menschen redet. Ich glaube, der Präsident Gül hat da die richtigen Worte gefunden, und wenn das die neue Richtung der türkischen Regierung ist, dann kann man da auch konstruktiv zu Gesprächen kommen. Wenn man aber noch immer einen draufsetzt, wie das Premier Erdogan zurzeit macht, dann kann das schwierig werden und dann kann es auch eskalieren.

    Kaess: Erdogan behauptet ja, die Proteste seien organisiert und spekuliert auf eventuell von außen. Für welche politische Linie steht er denn da beim Lösen dieses Konflikts? Heißt das, er wird das weiterhin vom Tisch wischen und einfach nicht wahr haben wollen, was sich da auf der Straße abspielt?

    Kahrs: Man darf den Premier Erdogan nicht unterschätzen. Er ist seit langen Jahren an der Macht, er hat einen großen Rückhalt in der Bevölkerung, er hat auch in der Kurden-Frage sehr geschickt agiert, er hat in der letzten Zeit auch aufgrund des Frustes, dass die EU in ihren Beitrittsverhandlungen die Türkei nicht weiterkommen lässt, auch viele ungeschickte Äußerungen gebracht. Aber im Kern hat er auch einen großen Rückhalt im Volk. Und jetzt hoffe ich, …

    Kaess: Aber wie passt das zusammen mit diesen wirklich eskalierenden Demonstrationen?

    Kahrs: Ja, er ist eben in den letzten Jahren auch selbstherrlicher geworden, und das passt nicht zusammen. Widerstand hat er auch in der Vergangenheit auflaufen lassen und jetzt entlädt sich das alles auf einmal. Deswegen ist das gefährlich, deswegen heißt das nicht, das glaube ich zumindest nicht, dass man glauben kann, das ist morgen vorbei, sondern hier entlädt sich der Frust der westlich geprägten Mittelschicht, von vielen Menschen, denen die Richtung nicht passt, und wenn man hier nicht die richtigen Worte findet, wenn man die nicht einbindet, wenn man nicht zeigt, dass es eben kein autokratisches Regime ist, dann kann es allerdings auch in der Türkei sehr kritisch werden.

    Kaess: Könnte diese einbindende Rolle von Staatspräsident Abdullah Gül eingenommen werden, so wie er sich im Moment präsentiert?

    Kahrs: Ich glaube, dass er das sehr geschickt macht. Er hat auch einen großen Rückhalt in der Bevölkerung. Er ist auch in der AKP sehr stark. Aber am Ende hängt es davon ab, wie Erdogan sich verhält, und wenn er auf diesen Kurs einschwenkt, wenn er nachgibt, dann kann das positiv laufen. Im Moment spricht aber wenig dafür.

    Kaess: Herr Kahrs, sind die Städte in der Türkei mit der modernen Bevölkerung hier eine Ausnahme? Sehen wir hier auch einen Konflikt Stadt gegen Land und den Konflikt einer polarisierten Gesellschaft?

    Kahrs: Ich glaube, das ist nach meiner Erfahrung weniger das Gefühl oder der Unterschied zwischen Stadt und Land, sondern der Unterschied zwischen denen, die ein bisschen auch im Sinne Atatürks den Weg der Türkei in die westliche Gesellschaft Richtung Europa wollen, und denjenigen, die eine leichte Islamisierung wollen und auch betreiben. Das ist so eine Grundströmung, die es eigentlich überall gibt. Am deutlichsten natürlich ist das eine ausgeprägt in den Städten und das andere dann auf dem Land. Aber das zieht sich durch die ganze türkische Gesellschaft, sogar durch Familien durch und braucht eigentlich jemanden, der dieses Land zusammenhält, und das hat Erdogan in den ersten Jahren sehr geschickt getan. Er hat die Türkei modernisiert, daher hat er auch diesen Rückhalt von über 50 Prozent in der Bevölkerung. Das hat schon begonnen, vor anderthalb, zwei Jahren zu erodieren, und die Frage, die sich stellt, ob er es schafft, im nächsten Jahr die Wahlen zu gewinnen, wenn er selber als Präsident kandidieren will, und dafür braucht er diesen Rückhalt in der Bevölkerung. Das würde eher dafür sprechen, dass er sich besinnt und dass er Präsident Gül folgt.

    Kaess: Aber wenn ich Sie richtig verstehe, Herr Kahrs, dann sehen Sie durchaus in diesen Protesten auch eine Möglichkeit zu einem Demokratiefortschritt.

    Kahrs: Ich glaube, dass viele von denen, die einfach gesagt haben – so sind jedenfalls viele Gespräche, die ich führe -, na ja, die AKP hat eine Mehrheit, da wird sich nichts ändern, das lohnt sich nicht, die merken jetzt, dass das eben nicht so ist, dass es große Teile der Bevölkerung gibt, die mit einigen Teilen unzufrieden sind, und die AKP hat in der Vergangenheit darauf immer sehr geschickt reagiert. Und vielleicht ist das jetzt auch die Chance für die CHP, als größte Oppositionspartei sich weiter zu reformieren und auch mehr Zustimmung in der Bevölkerung wiederzugewinnen, die sie in der Vergangenheit verloren hat, damit man dann auch diese beiden großen Parteien hat, die miteinander auch Chancen haben, damit es dann diesen demokratischen Wettstreit gibt und dass der wieder funktioniert, damit die Türken dann wieder eine Alternative haben.

    Kaess: Sie sind mit der SPD einem möglichen EU-Beitritt positiv immer gegenübergestanden. Ändern diese Ereignisse das?

    Kahrs: Ich glaube, dass der EU-Beitritt in den letzten Jahren immer das war, was den Fortschritt in der Türkei nach vorne geführt hat. Keiner will die jetzige Türkei …

    Kaess: Aber wie kommt es dann zu solchen Ereignissen wie im Moment?

    Kahrs: Ich glaube, dass das daran liegt, dass der Premier Erdogan einfach abgekommen ist von diesem Weg, weil der EU-Beitritt ihm verschlossen schien, weil ja gesagt worden ist, wir sind ein Christenklub, wir wollen die Türkei nicht. Da hat ja Sarkozy und Frau Merkel klare Ansagen zu gemacht. Das hat dazu geführt, dass in der Türkei die Zustimmung zum EU-Beitritt auch gesunken ist. Man wurde trotzig, man sah sich als Mittelmacht, um es mal holsteinartig zu sagen, und viel von dem Einfluss, den wir auch hatten, ist dadurch verloren gegangen. Ein EU-Beitritt führt dazu, dass ein Land sich ändert. Keiner wie gesagt will die jetzige Türkei in der Europäischen Union haben, aber eine Türkei …

    Kaess: Aber es sind doch ganz konkrete Schritte in Aussicht gestellt worden. Noch mal die Frage: Wieso kommt es gerade dann vor diesem Hintergrund jetzt zu so einer Eskalation?

    Kahrs: Ich glaube, man soll es ja nicht auf eine Person beziehen, aber das liegt auch an der Art, wie Premier Erdogan damit umgeht, wie er nicht so geschickt, wie er früher war, mit den Menschen redet und auch die Emotionen aufnimmt, sondern wie er stur probiert, eine Agenda durchzuziehen, wo immer mehr Türken auch misstrauischer werden, weil es sich ändert, weil ihre Türkei, die sie eigentlich anders sehen, sogar in Richtung Islamismus in einigen Teilen geht, und das wollen viele nicht.

    Kaess: Die Meinung von Johannes Kahrs, für die SPD im Bundestag und Vorsitzender der Deutsch-Türkischen Parlamentariergruppe. Danke für das Gespräch heute Morgen.

    Kahrs: Danke!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.