"Gott ist der Allherrliche", singen die Mitglieder der Bahai-Gemeinde in Berlin-Kreuzberg. Treffpunkt ist, wie jeden Mittwoch, das Wohnzimmer der Familie Blom in der Urbanstraße. Etwa 15 Leute sind gekommen, um gemeinsam zu beten, zu singen und sich auszutauschen. Auf dem Tisch verstreut liegen Bücher mit Gebetstexten und religiösen Schriften. Alexander Blom:
"Wir machen eine Andacht, so ähnlich wie es Bahai überall auf der Welt machen, das heißt, wir bieten die Bahai-Schriften an: Das sind geistige, auch sachliche Texte vom Stifter der Bahai-Religion Baha'u'llah, aber auch Gebete, die von ihm als Antwort gekommen sind auf bestimmte Fragen. Jeder ist eingeladen, darin zu lesen, davon etwas zu rezitieren, vielleicht auch einen Anlass zu nennen, an wen man gerade denkt, für wen man gerade ein Gebet sprechen möchte."
Die Geschichte der Bahai-Religion beginnt im 19. Jahrhundert im damaligen Persien, dem heutigen Iran. Ein Mann, der sich "der Bab" nennt, provoziert vor rund 150 Jahren die islamische Obrigkeit, indem er sich für Frauenrechte und gesellschaftliche Gleichheit einsetzt. Er sieht sich als Wegbereiter eines neuen Zeitalters und spricht von einem Boten Gottes, der bald kommen und die Menschheit zum Weltfrieden führen werde. Wegen seines Bruchs mit dem Islam werden er und seine Anhänger schon bald verfolgt und hingerichtet.
Bahai-Glaube akzeptiert alle anderen Religionen
Einer der wichtigsten Wortführer unter den Anhängern des Bab ist Baha'u'llah, der spätere Religionsstifter der Bahai. Auch er wird verfolgt, zunächst eingesperrt und später verbannt. Weil er der Sohn eines adeligen Staatsministers ist, schreckt man davor zurück, ihn ebenfalls zu töten. In den Jahren der Gefangenschaft und der Verbannung, so der Glaube der Bahai, offenbart sich Gott mehrfach dem Baha'u'llah. Der erklärt daraufhin, er sei der vom Bab angekündigte Bote. Im Laufe seines Lebens verfasst der Baha'u'llah rund 100 religiöse Schriften, die den Bahai heute als Grundlage ihres Glaubens dienen.
Eine Besonderheit der Bahai-Religion: Sie akzeptiert alle anderen Religionen, hält sie für wahr und nimmt sie sogar in sich auf. Bahai glauben, dass alle Religionen aufeinander aufbauen. Sie nennen das das Prinzip der fortschreitenden Gottesoffenbarung. Die einzelnen Religionsstifter wie Moses, Buddha, Jesus oder Mohammed sehen sie als jeweilige sogenannte Manifestationen Gottes in der Geschichte. Also als Propheten, die den Menschen in ihrer jeweiligen Zeit und Kultur in einer für sie verständlichen Weise von Gott gepredigt haben. Alexander Blom:
"Wenn Jesus sich den Menschen damals erklärt hat, indem er seine Beziehung zu Gott als Vater und Sohn bezeichnet hat und eben diese Einheit sehr stark betont hat, dann war das das, was für die Menschen damals wahrscheinlich das höchste der Gefühle war, überhaupt anzunehmen. Mohammed hat dann eine Trennung gemacht, hat Jesus zwar akzeptiert, hat aber gesagt, es gibt Gott, den können wir nicht erkennen und ich bin sein Prophet. Und mit der Bahai-Religion wird es noch komplexer: Es wird gesagt, es gibt Gott und es gibt viele Manifestationen, die Gott in einem göttlichen Plan immer wieder als göttliche Lehrer zu den Menschen schickt."
Offene Stadt Berlin
Weltweit gibt es laut eigenen Angaben etwa sieben Millionen Anhänger der Bahai-Religion. In Berlin leben etwa 250 von ihnen. Während die Gruppierung im Iran noch heute verfolgt wird, fühlen sie sich in Berlin willkommen und akzeptiert. Als eine der vielen kleinen Religionsgemeinschaften in der Hauptstadt.
"Berlin ist von der Größe her natürlich die Stadt, die in Deutschland am meisten Religionsgemeinschaften hat. Ich habe bei verschiedenen Untersuchungen 360 namhaft machen können, ich würde aber diese Zahl auch relativieren, weil von denen sind vielleicht 60 bis 80 in der Öffentlichkeit aktiv. Und die anderen waren mir zwar namentlich bekannt, aber viele dieser Gruppen sind sehr kurzlebig und zerfallen dann wieder."
Die größte Gruppe sind mit fast 20 Prozent der Bevölkerung die Protestanten, sagt Hartmut Zinser, Religionswissenschaftler von der Freien Universität Berlin. Eine der kleinsten Gruppierungen dürften beispielsweise die afghanischen Hindus mit etwa 30 Gläubigen sein. Daneben gibt es zahlreiche Zen-Gruppen und neue religiöse oder esoterische Bewegungen. Die Toleranz gegenüber unterschiedlichsten Religionen sei in einer Großstadt wie Berlin verhältnismäßig groß, sagt Zinser.
"Die Menschen selber ordnen sich auch so eindeutig nicht zu, sondern gehen meinetwegen zu Ostern in einen evangelischen Gottesdienst, zu Pfingsten in einen katholischen, dazwischen gehen sie zu einer schamanistischen Seance und am nächsten Wochenende gehen sie zu einer Tarotkarten-Einführung oder auch mal an einem Freitag zu einem Sufi-Gottesdienst. Wir haben nicht nur eine große Vielzahl von Religionen, sondern die Menschen selber sind pluri-religiös."
Dass in Berlin so viele unterschiedliche Gruppierungen existieren können, hat zum einen mit den vielen Zugewanderten zu tun, die ihre jeweiligen Religionen mitgebracht haben. Zum anderen, sagt Zinser, suchen viele Menschen in der Großstadt nach Orientierung.
"Es ist ganz klar, dass die Urbanisierung solche Bedürfnisse verstärkt, denn auf dem Dorf oder in Kleinstädten gibt es ja traditionelle Bahnungen, die Nachbarn erwarten dies und jenes und man wird darin auch bestärkt. Während in der Großstadt haben wir eben Anonymität, wir haben rastlose Änderungen der beruflichen Anforderungen, des Berufsbildes. Insofern entsteht ein größeres Orientierungsbedürfnis und natürlich ist das in der Großstadt verstärkt."
Auf der Suche nach Antworten
Auch in die Bahai-Gemeinde in Kreuzberg kommen Menschen, die nach Antworten für ihr Leben suchen. Willkommen sind alle, egal, ob sie Bahai sind oder nicht. Drei Italiener beispielsweise sind hier, weil ein Freund ihnen die Treffen empfohlen hat.
Luca, 21, ist in Berlin, um Deutsch zu lernen. Er glaubt nicht an Gott, ist aber auf der Suche nach der Wahrheit, wie er sagt, und interessiert sich deshalb immer für neue Sichtweisen. Bis vor einem Jahr war er katholisch, jetzt schaut er sich um, ob er in anderen Religionen, wie der Bahai-Religion Antworten findet.
Andere der Anwesenden kommen aus der Türkei, Nicaragua, Kamerun, den USA, Hamburg oder Berlin. Manche sind schon von ihren Eltern als Bahai erzogen worden, andere sind durch Bekannte auf die Religion gestoßen und konvertiert. Viele von ihnen, weil sie das wichtigste Prinzip der Bahai-Religion - nämlich die Einheit aller Religionen - überzeugt hat und sie es im Alltag leben wollen.
"Ich komme hierher, weil es ein Ort der geistigen Besinnung ist und weil ich hier Menschen kennenlerne verschiedener Religionen, und weil das, was auf dem Papier steht, speziell in der Bahai-Religion, nämlich die Einheit aller Religionen, ich hier im Praktischen ausleben kann."