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Vier Generationen unter einem Dach

Chinas Literatur der 80er Jahre ist bei uns weit intensiver zur Kenntnis genommen worden als die experimentelle Republikliteratur der Jahre 1920 bis 1950. In deutscher Sprache ist vor allem das Werk des gegen die Rückständigkeit des Landes anschreibenden Schriftstellers Lu Xun bekannt geworden. Man könnte aber auch behaupten, daß das Werk des Satirikers und Sozialkritikers Lao She sich noch mehr als Lu Xuns Prosa ins westliche kulturelle Gedächtnis eingeprägt hat. Es gibt auf Deutsch den satirischen Roman "Die Stadt der Katzen" (1933) über Opium-Betäubung, blinde Orientierungslosigkeit, ein chaotisches Bildungswesen und die Agression des Auslandes.

Helmut Martin |
    Der jetzt in flüssigem Deutsch vorgelegte Roman "Vier Generationen unter einem Dach", der in Peking in den 80er Jahren auch zu einer weitbeachteten Fernseh-Serie verarbeitet wurde, ist eine Meisterleistung des sozialen Panoramas. Chinas gefeierter Erzähler, der 1966 durch Freitod im Taipingsee ums Leben gekommene Lao She, schrieb einen Gesellschaftsroman, der zu einem vielschichtigen Portrait Pekings unter japanischer Besatzung geworden ist. Er erfaßt symbolhaft das China der späten 30er und frühen 40er Jahre überhaupt. Hier ist Kollaboration mit dem Feind Hauptthema und Prüfstein aller Charaktere des Romans.

    Der Dichter, der aus einer der verachteten Mandschu-Familien stammt, geht erzähltechnisch von folgendem Kernbereich aus. Er schildert eine chinesische Großfamilie, umringt von Nachbarfamilien in einer typischen chinesischen hutong-Gasse. Dieses Leben fügt sich zu einem Kleinbild der Kriegsjahre. Wir finden dazu eine lyrisch-nostalgische Darstellung der Jahreszeiten und der begleitenden Pekinger Feste. Allerdings passen solche Textelemente der Heimatliebe schlecht zum Kriegsthema. Den zentralen Helden, der noch Lao Shes Erfolgsroman "Rikscha-Kuli" bestimmte, opfert der Autor. An die Stelle des Pekinger Protagonisten aus der untersten Schicht treten zwei dutzend Einzelschicksale. Diese Konstruktion ergibt eine lockere, kaum zu bändigende Szenenenfolge der 100 Kapitel als narratives Gliederungsprinzip. Lao She macht für dieses Panorama deutlich Anleihen bei Charles Dickens und Joseph Conrad. Die Übersetzerin Fessen-Henjes hat angesichts solch epischer Breite die Szenenfolgen gestrafft und den Roman um etwa 20 Prozent erleichtert.

    Lao She war Lehrer in London und in Peking. Die Intrigen in einer Mittelschule und in dem vorgesetzten Schulamt der chinesischen Kollaborationsbehörden geben Lao She Anlaß zu kenntnisreichen psychologischen Einblicken. Der nationale Hintergrund, die Eroberung und Erniedrigung des Landes durch das japanische Militär, dazu der Krieg in Europa, das wird ohne kräftige Konturen gezeichnet. Es scheinen ungreifbare schicksalhafte Kräfte der Finsternis zu walten. Vielleicht hat Lao im übrigen den Generationen-Roman etwas zu schnell geschrieben: Aus vielen Figuren spricht zu stark der Autor, als daß sie sich wirklich selbst entwickeln könnten.

    Lao Shes schonungslose Kritik des Opportunismus, der Kollaboration der pragmatischen Pekinger setzt ansonsten frühere Kritik des Autors an den Schwächen des eigenen Volkes fort. Mit der Behandlung der Niederzwingung einer ganzen Stadt und der ganz rücksichtslosen Anpassung der meisten Pekinger geraten Lao Shes sonst gern verwendete Stilmittel oft in Konflikt. Weder der humorvolle Blick auf kleine menschliche Schwächen, noch eine kühle Beobachtung des Satirikers können an vielen Stellen die Szenenfolge des Großgemäldes tragen.

    Lao She hat seinen Roman als Moralist geschrieben. Mit bisweilen predigender Stimme begleitet er in seinem Schwarz-Weiß-Schema die kleinen Triumphe und den mörderischen Untergang aller Kollaborateure. Etwas fragwürdig wirkt heute bei diesem während des Krieges geschriebenen Roman der patriotische Schwung gegen Japan, das China damals in drei Monaten niederwerfen wollte, sich dann aber wie Hitlers Armee in Rußland im Lande verlor und ausblutete. Die jungen Helden des Romans gehen in den Widerstand, reißen Soldatentrupps der Japaner in Verzweiflung mit sich in den Tod. Lao She rechtfertigt scheint’s den Terrorismus. Ein traditioneller Literat sprengt bei einer Theateraufführung japanische Offiziere zusammen mit unbeteiligten chinesischen Zuschauern ohne erkennbaren inneren Konflikt in die Luft.

    "Vier Generationen" ist der letzte Roman Lao Shes vor der Machtübernahme der Kommunisten. Die Entscheidung des Autors, aus den USA nach Peking zurückzukehren, hat Laos künstlerische Entwicklung erheblich beeinträchtigt. Es gibt eine Diskussion über den Grad der sanften Kooperation, in die sich Lao She mit dem Regime der Volksrepublik nach 1950 eingelassen hat. Lao war in der Tat nach der Staatsgründung und der Rückkehr nach China zu Kompromissen bereit gewesen. In seinen neuen Texten und in der dann durchgeführten Redaktion der früher entstandenen eigenen Schriften nahm er Rücksicht auf die Situation und die Propagandabedürfnisse des jungen kommunistischen Regimes. Die Debatte, wie weit sich Lao She in dieser Weise der für einen Intellektuellen unzulässigen Kollaboration und Beugung seines schriftstellerischen Ansatzes habe zuschulden kommen lassen, ist aber aus Pietätsgründen bisher marginal geblieben.

    Der Schriftsteller wurde 1969 ein Opfer der Kulturrevolution. Die Roten Garden hatten ihn zusammen mit anderen Intellektuellen vor brennenden Manuskripten zusammengeschlagen. Nach dieser Erniedrigung ging er in den Tod. Insofern ist die sanitäre Formulierung vom sogenannten Freitod des Dichters auf dem Klappentext des Romans schwer zu akzeptieren.

    Irmtraut Fessen-Henjes hat diese große Übersetzungsleistung von über 1000 Seiten in den 90er Jahren erbracht. Als Hochschullehrerin und Journalistin gehört sie zu der Gruppe der DDR-Sinologen, die trotz hervoragender Leistungen wider alle Vernunft von unserer Wendebürokratie abgewickelt worden sind.

    Der Verlag folgt dem Trend der 90er Jahre, literarische Werke nicht mit Erläuterungen, weder mit Vorwort noch mit Nachwort zu belasten. Wir erfahren nicht einmal das Datum der Niederschrift. Die "Vier Generationen" wurden in der auf der Flucht vor den Japanern ins Landesinnere nach Sichuan verlegten Kriegshauptstadt Chungking begonnen und während des USA-Aufenthaltes des Dichters 1946-49 abgeschlossen. Es müßte dem Leser hier im Westen schon gesagt werden, daß Lao She die vorderen Kapitel des Werks in einer Zeitung der letzten Fluchtburg des Generalissimo Tschiang Kaishek 1944-45 zum Abdruck brachte. Nur so erklärt sich nämlich, daß der Schriftsteller politische Rücksichten üben mußte und auf den Kampf, der zwischen der Kuomintang und der Kommunistischen Partei Chinas tobte, nicht eingehen konnte.

    Literatur-Verlage in Deutschland haben sich, was chinesische Kultur des 20. Jahrhunderts angeht, seit 1989 sehr bedeckt gehalten. Schon die mehrbändige Werkausgabe von Lu Xun, des größten Mahners und polemischen Essayisten in der neuen chinesischen Literatur, war eine besondere Leistung des Kulturaustausches zwischen Ost und West dieses Züricher Verlages. Das gilt auch für den neuen Lao She-Roman. Die Entscheidung zur Veröffentlichung wurde sichtlich gegen den Zeitgeist, gegen starke Marktzwänge und gegen alle political correctness getroffen.