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Vier Millionen Syrer brauchen humanitäre Hilfe

22 Monate Kämpfe zwischen Aufständischen und der Regierung haben die Lage für die Bevölkerung Syriens dramatisch verschlechtert. Das berichtet Alfredo Melgarejo, der für das Deutsche Rote Kreuz in der Hauptstadt Damaskus tätig ist. Vier Millionen Menschen benötigten direkte humanitäre Hilfe.

Alfredo Melgarejo im Gespräch mit Doris Simon | 28.12.2012
    Doris Simon: Seit 22 Monaten bekämpfen sich nun Armee, regimetreue Milizen und unterschiedliche Verbände von Aufständischen in Syrien. 44.000 Menschen sollen bei den Kämpfen bisher ums Leben gekommen sein. Viele Zehntausende im Land hungern und frieren und Hunderttausende Syrer haben sich vor den Auseinandersetzungen ins Ausland geflüchtet. Alfredo Melgarejo arbeitet für das Deutsche Rote Kreuz in der syrischen Hauptstadt Damaskus. Dort bin ich jetzt mit ihm verbunden. Guten Tag!

    Alfredo Melgarejo: Guten Morgen!

    Simon: Herr Melgarejo, haben Ihre Gesprächspartner in Damaskus in Syrien eigentlich noch Hoffnung auf ein Ende dieses Bürgerkriegs?

    Melgarejo: Ja, also man muss sagen, wenn man mit den Menschen hier vor Ort spricht, es ist an und für sich das Einzige, was die Leute im Moment aufrechterhält: die Hoffnung, dass das in irgendeiner Form irgendwann auch mal wieder zu Ende gehen muss. Gleichzeitig ist immer wieder dieses Unverständnis unter den normalen Bürgern hier, zu sehen, wie es denn eigentlich dazu kommen konnte, wie es möglich ist, dass hier in Syrien plötzlich, innerhalb relativ kurzer Zeit, es zu einer solchen Spaltung der Gesellschaft auch gekommen ist, dass eben - sie sagen immer wieder: Wie ist es möglich, dass wir untereinander in dieser Form, mit dieser Brutalität auf uns losgehen, dass es zu einer solchen blutigen Situation gekommen ist, in der Syrer auf Syrer einschießen und wir uns gegenseitig umbringen. Und wie kommen wir eigentlich wieder dazu, dass wir normal miteinander umgehen werden können und normal miteinander leben werden können. Wird sich diese Situation irgendwann denn wieder normalisieren? Das ist etwas, das für die Leute immer noch eigentlich unfassbar ist, immer wieder. Darüber hinaus ...

    Simon: Herr Melgarejo, Sie - ja Entschuldigung, darüber hinaus?

    Melgarejo: Darüber hinaus versucht man natürlich, im täglichen Überlebenskampf, in der täglichen Suche nach den notwendigen Lebensmitteln, Nahrungsmitteln, nach den grundlegenden Dingen des täglichen Bedarfs, darüber hinaus irgendwie, sagen wir, den Anschein der Normalität in irgendeiner Form aufrechtzuerhalten, was sehr schwierig ist für die meisten Menschen. Aber in irgendeiner Weise versuchen sie es eben, um doch in irgendeiner Form weiterzukommen.

    Simon: Herr Melgarejo, die syrische Wirtschaft - wenn wir jetzt gar nicht mal in die Kriegsgebiete gehen, sondern zum Beispiel nach Damaskus selber - ist ja schwer getroffen vom Bürgerkrieg. Wie überleben die Menschen, die jetzt nicht gerade beim Staat beschäftigt sind?

    Melgarejo: Absolut. Also, das ist auch das tägliche Problem, das die Menschen an und für sich andauernd haben. Sie haben jetzt Arbeitslosenraten von über 25 Prozent landesweit, was natürlich in den direkt vom Konflikt betroffenen Gebieten wesentlich höher liegt. Das heißt, die Menschen haben in diesen Monaten an und für sich ihre Ersparnisse weitgehend aufgebraucht. Dazu kommt, dass die Wirtschaft immer mehr über den Schwarzmarkt läuft. In erster Linie ist natürlich die gesamte Wirtschaft davon betroffen, dass der Treibstoff, Brennstoff absolute Mangelware ist. Also vor allem, was jetzt natürlich in der Wintersaison dazukommt, Brennstoff für Heizungen, was hauptsächlich über Diesel und so weiter läuft, ist entweder überhaupt nicht mehr zu erhalten oder nur über horrende Schwarzmarktpreise, wenn überhaupt. Also da reden wir von Preisen, die das Zehnfache des normalen Preises ausmachen, was für die Menschen eigentlich absolut unerschwinglich ist.

    Dazu kommt, dass die lokale Produktion in vielen Bereichen entweder auch gerade durch den Treibstoffmangel zusammengebrochen ist, dazwischen auch gerade in Gegenden - man muss ja daran denken, dass ja Aleppo eines der Hauptindustriegebiete war -, dass dort praktisch die gesamte nationale Produktion zusammengebrochen ist in allem, was Nahrungsmittelproduktion, medizinische Produktion und Ähnliches anlangt. Das heißt, es kommt zu einem eklatanten Mangel im Land an all diesen Gebrauchs- und Gütern des täglichen Bedarfs. Was die Menschen benötigen, muss in irgendeiner Form entweder eingeführt werden, solange das überhaupt noch möglich ist, oder eben über Schwarzmarktkanäle irgendwo noch herkommen. Und das bedeutet natürlich für die Leute erst einmal noch höhere Kosten, größere Schwierigkeiten, dazu zu kommen. Zusätzlich macht die erschwerte Sicherheitslage es den Leuten weiter schwerer, überhaupt zu Quellen zu kommen, wo die Dinge eigentlich im Moment noch verfügbar sind.

    Simon: Herr Melgarejo, wie können Sie denn in der Situation, wie können Sie, wie kann das Rote Kreuz und andere Hilfsorganisationen da überhaupt helfen? Haben Sie überhaupt die Möglichkeit, sich im ganzen Land zu bewegen?

    Melgarejo: Also wir, in erster Linie jetzt mal bei den wenigen Ausländern, die wir hier sind - und das Deutsche Rote Kreuz, eine der ganz wenigen Organisationen, die die Möglichkeit haben, noch hier vor Ort mit den Kollegen vom syrischen Roten Halbmond hier auch zusammenzuarbeiten - sind sehr, sehr eingeschränkt. Wir, abgesehen von der Sicherheitslage, die uns natürlich in unserer Bewegungsfreiheit extrem limitiert und einschränkt, benötigen für jede Bewegung auch hier zusätzliche Bewilligungen, die langfristige Verfahren an und für sich benötigen. Ein konkretes Beispiel: Es war an und für sich vorgesehen, dass gestern, von gestern bis morgen an und für sich, eine Delegation des syrischen Roten Halbmondes Idlib und Tartus besucht hat, um die Lage vor Ort dort noch einmal zu evaluieren und mit den Freiwilligen und den Kollegen der Filiale des Roten Halbmonds dort in Kontakt zu treten. Ich hätte da an und für sich dabei sein sollen. Es war unmöglich. Ich bekam keine Genehmigung, um hier mitzukommen. Die Freiwilligen hier des syrischen Roten Halbmonds, muss man sagen, leisten Unglaubliches. Sie versuchen immer wieder, trotz der absolut misslichen und wirklich in vielen Bereichen höchst gefährlichen Situation doch zumindest ein Mindestmaß an humanitären Hilfsleistungen aufrechtzuerhalten. Der syrische Rote Halbmond ist ja praktisch der Hauptverantwortliche und die einzige Organisation an und für sich, die weitreichenden Zugang zu allen Konfliktgebieten in den verschiedenen Bereichen, von beiden Konfliktparteien besetzten Bereichen auch haben und sind als solche an und für sich als einzige in der Lage hier, weitreichende Hilfsgüter, die von den verschiedenen Organisationen, sei es eben jetzt von uns als Partnerorganisationen, vom Deutschen Roten Kreuz, von den verschiedenen Rot-Kreuz- und Rot-Halbmond-Gesellschaften, aber auch von den Vereinten Nationen und anderen Hilfsorganisationen dann wirklich auch zu den Menschen zu bringen. Und das ist natürlich eine ganz gewaltige Aufgabe. Also es benötigen im Moment vier Millionen hier im Land direkte humanitäre Hilfe.

    Simon: Man merkt es, wie sehr Ihnen das Thema auf den Nägeln brennt. Das war Alfredo Melgarejo, Mitarbeiter des Roten Kreuzes in Damaskus. Vielen Dank, Herr Melgarejo, für diese Eindrücke aus Syrien. Auf Wiederhören.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.