Viktor Orbán sieht einen Wettbewerb der Kulturen heraufziehen, der am Ende dazu führe, "dass die Christen diesen Wettbewerb verlieren werden, wenn man viele Muslime nach Europa lässt". So sagte es Ungarns Ministerpräsident in einem Radiointerview. In einem Interview mit der Schweizer Weltwoche ergänzte er: "Existentielle Bedrohung heißt, dass wir Europäer es verlernt haben, für uns zu kämpfen." Und er fügte hinzu: "Wann immer ich im Europäischen Rat vom christlichen Europa spreche, schauen mich die anderen an, als ob ich aus dem Mittelalter stammen würde." Dahinter verbirgt sich nicht nur der Populismus orbánscher Prägung, der ihn 2010 wieder zurück an die Macht in Ungarn führte, sondern auch ein Stück tiefer religiöser Überzeugung.
In seiner ersten Amtszeit als Ministerpräsident von 1998-2002 hatte er den Kirchen ihre Besitztümer wieder zurückerstattet, Vermögen und Ländereien, die in Zeiten des Kommunismus enteignet worden waren. Orbán war es, der den Religionsunterricht wieder einführte, den die Vorgängerregierung unter dem Sozialisten Gyula Horn abgeschafft hatte. Nachdem Jozef Antall , der erste Ministerpräsident des freien Ungarns nach der Wende bereits 1993 verstarb, fehlte auf Ungarns politischer Bühne ein Politiker, in dem sich die Christen wiederfinden konnten. Diese Lücke erkannte Viktor Orbán, ursprünglich ein Liberaler, und wandelte sich und seine Partei Fidesz in Richtung Christentum.
Einige Bischöfe sagen, Orbán sei der Erlöser der ungarischen Kirche
So erzählt es zumindest die Theologin Rita Perintfalvi aus Budapest. Und sie ergänzt: "Ich höre manchmal von einigen Bischöfen, sie formulieren das so: Orbán Viktor ist der Erlöser der ungarischen Kirche, er ist der Erretter der christlichen Kirchen, also mit dieser Begrifflichkeit wird das ausgesprochen, das ist etwas Besonderes. Sie glauben daran."
Orbán hat sich vor Jahren dem calvinistischen Bekenntnis angeschlossen. Seine Ehefrau ist katholisch. Bereits im Alter von 26 Jahren machte sich der damals noch revolutionäre liberale Politiker Viktor Orbán einen Namen, als er bei der Umbettung der sterblichen Überreste des kommunistischen Begleiters der Ungarnaufstände 1956 Imre Nagy, forderte, die sowjetischen Truppen sollten das Land verlassen. Früh machte er sich auch Gedanken um den Zusammenhang von Politik und Religion. In einem Vortrag "Die Ungarn und der Kalvinismus im 21. Jahrhundert" breitete er 2002, kurz nach seiner Wahlniederlage, seine Sicht der Dinge aus. Er bemängelte darin das Fehlen des Gottesbezuges im Vertrag von Lissabon der Europäischen Union. Und er unterstrich, er wolle Ungarn auf der Basis des Christentums auf- und ausbauen.
Was er damals im Vortrag nicht sagte: Der Calvinismus in Ungarn konnte Fuß fassen und die Gegenreformation aussitzen, weil er in jenen Landesteilen stark war, die unter Osmanischer Herrschaft standen. Später erwies sich der Calvinismus Ungarns traditionell als eine Kraft, die sich vor allem gegen das Ungarn beherrschende Haus Habsburg wendete. So zumindest fasst es Anton Pelinka, Professor an der Central European University in Budapest zusammen. Pelinka will nicht die persönliche Motivation Orbáns kommentieren, aber zum Calvinismusübertritt Orbans sagt er: "Es ist schon eine Weichenstellung oder ein Signal: in Richtung auf Abgrenzung zum Westen. Der Westen in der ungarischen Tradition hat mit Habsburg und damit mit der westlichen Nachbarschaft Ungarns zu tun."
Distanzierung vom Westen
Und aktuell könne man die Entscheidung Orbáns, sich dem Calvinismus zuzuwenden auch so interpretieren, ergänzt Anton Pelinka "zunächst einmal als eine Distanzierung vom katholisch-lutherischen Mainstream, der ja die EU von der Gründungsphase an geprägt hat. Das heißt auch eine gewisse Distanzierung von Westeuropa und damit vom Westen. Der ungarische Calvinismus ist unbeschadet von der westeuropäischen Verankerung dieser Spielart des Protestantismus primär aus seiner Ungarischen Wurzel erklärbar und das erleichtert Orbán hier an eine Tradition anzuknüpfen, die in Ungarn vor ihm da war und immer eine Rolle gespielt hat im Ungarischen Nationalismus: nämlich die Distanzierung vom kosmopolitischen Katholizismus."
Orbán sieht sich in der Tradition des calvinistischen Erwählungsgedankens. Orbán also der Retter des christlichen Abendlandes? Zumindest die Mehrheit der Christen in Ungarn scheint dem Ministerpräsidenten des Landes das abzunehmen. Seine Mitgliedschaft in der calvinistischen Kirche hat zu seinem politischen Erfolg beigetragen.