Um mehr über die Rolle der Viren in dieser tiefen Biosphäre der Ozeanböden zu erfahren, untersuchten Geomikrobiologen Bohrkerne aus unterschiedlichsten Meeresgebieten. Jens Kallmeyer vom Geoforschungszentrum Potsdam:
"Es ging los von Wattenmeersedimenten aus der Nordsee über Beringsee und dann auch Sedimente aus dem südpazifischen Wirbel. Der südpazifische Wirbel ist besonders interessant, weil: Es ist das nährstoffärmste Meeresgebiet, es ist eigentlich nichts zu fressen mehr da, und dementsprechend ist auch die Anzahl der Mikroben in diesen Sedimenten enorm gering."
Das Wattenmeer hingegen ist reich an Nährstoffen. Die Forscher interessierte, wie sich im Meeresboden - je nach Umgebung - mit zunehmender Tiefe das Verhältnis von Viren zu Mikroorganismen verändert:
"Normalerweise findet man in Küstensedimenten oder in nährstoffreicheren Sedimenten ungefähr zehn Viren pro Mikrobenzelle. Und dieses Verhältnis änderte sich mit zunehmender Tiefe und zunehmendem Nährstoffmangel immer weiter in Richtung Viren."
Mikroben und Viren im Wettstreit
Das Ergebnis der Analysen: Es gibt große Unterschiede zwischen den einzelnen Untersuchungsgebieten:
"Während sie im Wattenmeer ungefähr ein Verhältnis von 10 zu 1 haben, stieg das Verhältnis in anderen Meeresgebieten dann ungefähr auf 50 zu 1, 70 zu 1 und dann im Südpazifik auf 150 bis 225 zu 1."
Je älter und nährstoffärmer die Sedimente, umso seltener werden Mikroben und Viren insgesamt - und umso mehr verschiebt sich das Verhältnis zwischen beiden: Die Zahl der Mikroorganismen sinkt um den Faktor eine Million, die der Viren um den Faktor zehn bis 15. Bei dieser Verschiebung spielen offenbar "Exoenzyme" eine Rolle: Das sind Enzyme, die einzelligen Mikroorganismen in die Umwelt abgeben, um organische Substanz zu Nährstoffen zu zersetzen. Diese Enzyme regulieren dabei auch das Virenaufkommen. Kallmeyer:
"Eine Zelle produziert, wenn sie infiziert ist, Viren. Aber sie produziert halt auch Enzyme, die diese Viren wiederum im Sediment zerstören. Nur jetzt sind so wenig Zellen da, dass diese produzierten Enzyme einfach nicht ausreichen, um diese Viren zu zersetzen, und damit reichern sich über die Zeit diese Viren langsam an."
Viren und Enzyme könnten entscheidend sein für den Nährstoff-Kreislauf in der Tiefe: Platzt am Ende einer Infektion eine Mikrobe, machen sich die anderen über die virenbeladene "Mahlzeit" her. Und zersetzen die freigesetzten Exoenzyme ein Virus, wird auch das zum Nährstoff, erklärt Jens Kallmeyer:
"Diese Viren sind äußerst nahrhaft. Diese Viren enthalten natürlich auch DNA, sie enthalten Kohlenstoff, sie enthalten Stickstoff, sie enthalten Phosphor, und sie sind daher auch sehr, sehr nährstoffreich."
Viren als Nährstoffspeicher
Vielleicht fungierten die Viren in der tiefen Biosphäre damit als stille und bislang übersehene Nährstoffspeicher, beschreibt Jens Kallmeyer. Sie könnten erklären, warum dieses tiefe, bizarre Ökosystem in den Meeresböden überhaupt funktioniert: Schließlich scheinen sich die Bakterien oder Archaeen dort unten nur alle paar Hundert oder Tausend Jahre teilen zu können - aus Nährstoffmangel.
"Wenn man bedenkt, dass Viren wesentlich kleiner sind als Mikroben und auch viel, viel weniger Kohlenstoff enthalten, ungefähr ein Siebzigstel, ist es trotzdem so, dass, wenn wir 225-fach mehr Viren als Mikroben haben, dass dort unten mehr organischer Kohlenstoff gebunden ist in Viren als in Mikroben."
Derzeit identifizieren die Forscher die unterschiedlichen Viren im Meeresboden. Bislang habe man noch keine Viren ohne nahe Verwandte an der Oberfläche gefunden. So ganz aus der Welt scheint das Ökosystem in der tiefen Biosphäre also nicht zu sein.