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Virologe Christian Drosten
Impflücke wird Deutschland wirtschaftliche Nachteile bringen

Unter den Industrieländern in Europa gebe es kein anderes Land mit einer so großen Impflücke wie Deutschland, sagte der Virologe Christian Drosten im Dlf. Das sei ein zunehmend gesellschaftliches Problem und werde einen extremen wirtschaftlichen Nachteil gegenüber anderen Ländern bringen. Werde die Lücke nicht geschlossen, habe man zum nächsten Winter wieder ein ähnliches Problem.

Christian Drosten im Gespräch mit Philipp May |
Prof. Dr. Christian Drosten, Leiter des Instituts fuer Virologie der Charite Berlin, am 29.01.2020 in einem der Labore im Institut für Virologie.
Prof. Christian Drosten sieht trotz eines möglichweise milder als befürchten Krankheitsverlaufs bei der Omikron-Variante dennoch eine große Gefahr für Ungeimpfte. Werde zudem die Impflücke nicht geschlossen, stehe Deutschland im nächsten Winter wieder vor denselben Problemen. (laif / Andreas Pein)
In den USA sei zu sehen, wie eine Mutation aufkomme - ein sogenannter „zweiter Serotyp“ [*]. Das führe dazu, dass nachgeimpft werden müsse, um breit geschützt zu sein, sagte Drosten.

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Eine Boosterimpfung sei „gut effizient“ gegen Omikron, „die zweifache Vakzinierung leider nicht“. Leute, die sich bisher nicht haben impfen lassen, trügen ein hohes Risiko: „Wir haben zu viele ungeimpfte Leute in Deutschland, gerade auch über 60. Und die sind natürlich richtig in Gefahr“. Damit befände sich Deutschland in einer Art Sonderzustand:
„Und das ist ein zunehmendes gesellschaftliches Problem. Und das wird in Konsequenz auch verhindern, dass wir in Deutschland in die endemische Phase eintreten können. Das wird uns in einen extremen gesellschaftlichen, auch wirtschaftlichen Nachteil bringen gegenüber anderen Ländern, wenn wir das nicht hinbekommen und das holt uns auch zum nächsten Winter wieder ein.“

Die Gefahr von Unkenntnis und Halbwissen

Neben der von der Politik diskutierten Impfpflicht, hoffe er auch auf andere Wege, Menschen zu einer Impfung zu motivieren. Denn: "Was mir auffällt, ist weiterhin Unkenntnis, Halbwissen und das in großem Selbstbewusstsein vorgetragen."
Auch Aussagen wie 'Ich will mich mit diesem Virus infizieren, das stärkt das Immunsystem' oder 'Naja, jetzt stärken wir doch mal unser Immunsystem, dann wird das schon alles nicht so schlimm sein' habe er ansprechen müssen, sagte Drosten. Dass man sein Immunsystem gegen solche schweren Infektionen wie SARS ganz allgemein stärken könne, sei offenbar eine so verbreitete Fehlauffassung, dass sie auch einen Teil der Impfunwilligkeit erkläre „und einen Teil unseres gesellschaftlichen Problems“. Verunsichernde Botschaften würden zum gesellschaftlichen Problem.
Christian Drosten: Die Pandemie wird nur für die Geimpften vorbei sein
Dabei kritisierte der Virologe die Medien. Hörer und Leser hätten in großem Maße verunsichernde Botschaften erhalten, so Drosten: „Es wurde ja über Monate sicher, über ein Jahr auch einer ganz breiten Bevölkerungsschicht immer wieder in großen Lettern suggeriert: 'Das ist ja alles nicht so schlimm. Das ist doch alles nur eine Panik und Chaos. Und die Modellierer, das ist doch alles falsch.‘ Also, ich glaube, es gibt eine große Gesellschaftssparte, die einfach gar nicht mehr genau weiß, was sie denken soll. Das ist tatsächlich ein richtig ernstes gesellschaftliches Problem. Es ist auch ein wirtschaftliches Problem.“

Omikron auf dem Vormarsch

Drosten sagte im Deutschlandfunk, er rechne Mitte Januar mit einer klaren Zahlenbasis mit sehr hohen Infektionszahlen. Wegen der Kontakteinschränkung komme Omikron mit Verzögerung in Deutschland an. Bislang sei das Virus im Land noch ungleich verteilt.
In Berlin hätten ungefähr 50 Prozent der Neuinfizierten die Omikron-Variante, in anderen Teilen Deutschlands gibt es noch sehr wenige Infektionen, aber auch Regionen mit „sehr, sehr viel deutlich mehr als wir“, sagte der Virologe. Das Bild sei derzeit noch unklar, aber Fallzahlen aus England und Frankreich zeigten Bereiche von 200.000 Neuinfektionen am Tag, die man in Deutschland nie gehabt habe und die erschreckend seien.
Der sehr schnellen Verbreitung stehe jedoch eine vielleicht abgemilderte Krankheitsschwere entgegen. Nicht Geimpfte mit einer Omikron-Variante hätten „nur ungefähr drei Viertel des Krankenhaus-Einweisungsrisikos“. Wäre jedoch die mit Omikron infizierte Person geboostert, sinke das Risiko auf 20 Prozent oder darunter.
Zwei Krankenpfleger arbeiten in Schutzkleidung in einem Krankenzimmer auf der Intensivstation des Uniklinikums Essen, in dem ein Corona-Patient aus Frankreich behandelt wird.
Zwei Krankenpfleger arbeiten in Schutzkleidung in einem Krankenzimmer auf der Intensivstation des Uniklinikums Essen, in dem ein Corona-Patient aus Frankreich behandelt wird. (picture alliance / dpa / Marcel Kusch)

Möglicherweise mildere Krankheitsverläufe

Bei einer milderen Krankheitsschwere der Omikron-Variante könnten die Intensivstationen weniger belastet werden. Zwar gäbe es weiterhin hohe Patientenzahlen in den Krankenhäusern, allerdings wären dann eher Normalstationen und Notaufnahmen betroffen. Er verwies dabei auf Beobachtungen von englischen Wissenschaftlern.
Christian Drosten führte weiter aus, bei tatsächlich milderen Krankheitsverläufen werde man zwangsläufig politisch, gesellschaftlich und juristisch höhere Inzidenzen zulassen wollen und müssen. Er äußerte die Hoffnung, dass sich die Bürgerinnen und Bürger angesichts dieser neuen Situation vorsichtiger verhielten.
Der Virologe zeigte sich offen für eine Verkürzung der Quarantäne. Wenn Omikron wirklich eine verringerte Krankheitsschwere habe, dann fände er es sinnvoll, in diese Richtung zu gehen, meinte Drosten.
Grafik zeigt die neutralisierenden Antikörper bei Delta, Omikron und Omikron geboostert
Omikron fliegt unter dem Radar der meisten Antikörper, die durch die Impfung entstanden sind. Nur noch ein Bruchteil der Antikörper kann die Viren erkennen und "neutralisieren"'. Ein Booster kann die Zahl der neutralisierenden Antikörper kurzzeitig wieder signifikant erhöhen. (Deutschlandradio / Andrea Kampmann)

Lesen Sie hier das vollständige Interview:

Philipp May: Frankreich, Dänemark, Großbritannien - in vielen Ländern werden gerade täglich neue Rekordwerte bei den Neuinfektionen gemeldet. In Deutschland wissen wir es nicht so genau wegen der Meldelücken über die Weihnachtsfeiertage. Das RKI rechnet mit validen Zahlen erst wieder in zwei Wochen. Muss das eigentlich noch sein im zweiten Pandemiejahr?
Christian Drosten: Also andere Länder haben schon auch eine Datenlücke über Weihnachten, also das ist jetzt keine deutsche Spezialität. Wir haben einfach wenig von diesem Omikron-Virus vor Weihnachten noch gehabt. Wir haben wahrscheinlich auch eine etwas langsamere Wachstumsrate von diesem Omikron-Virus im Vergleich beispielsweise zu England. Also es gibt da vielleicht so größenordnungsmäßig in England alle zwei Tage eine Verdoppelung und bei uns vielleicht alle vier Tage, so ganz grob eingeschätzt. Und darum haben wir es vor Weihnachten noch nicht so gesehen. Ich kann sagen, in unserem eigenen Labor, das ist jetzt sicherlich nicht repräsentativ, das ist ein großes Labor, das niedergelassene Häuser vor allem in Berlin aber auch ein paar andere versorgt, da haben wir ungefähr 50 Prozent Omikron im Moment. Und Kolleginnen und Kollegen in ganz Deutschland schreiben mir immer mal, und da gibt es welche, die haben schon sehr, sehr viel, deutlich mehr als wir sogar noch, und andere haben noch wenig. Das ist also im Moment noch so ein bisschen ungleich verteilt. Aber wir haben schon einen Eindruck darüber, dass wir da jetzt nicht ganz stark nachstehen. Wir haben aber eben, wie gesagt, auch das Gefühl, dass vielleicht die Wachstumsrate ein bisschen geringer ist im Moment.

Kontaktbeschränkungen haben Omikron-Ausbreitung verzögert

Philipp May: Also, im Prinzip ist das die positive Sichtweise. Wir sind im Blindflug, weil tatsächlich der Eintrag durch Omikron möglicherweise noch gar nicht so groß ist in Deutschland?
Drosten: Der Eintrag ja. Also sicherlich ist ein Land wie England noch stärker belastet gewesen mit eingetragenen Fällen, weil das einfach eine noch kosmopolitischere Bevölkerung ist als in Deutschland. Aber ich denke, der größte Unterschied ist, dass beispielsweise in England, wo wir immer die beste Datenbasis haben, zu der Zeit eigentlich gar keine Kontaktmaßnahmen mehr aktiv waren. Also die Leute waren ja wirklich in den Pubs und die haben in der Öffentlichkeit keine Maske mehr getragen und so weiter, sodass das unbemerkt relativ schnell dann auch zugewachsen ist. Und das ist bei uns nicht so gewesen. Wir haben in Deutschland ja zu kämpfen gehabt mit der Delta-Welle. Also wir erinnern uns vielleicht, Ende November, Bayern und auch andere Bundesländer, die eben tatsächlich jetzt schon mal vorwärtsgehen mussten mit im Prinzip Lockdown-Maßnahmen, um ihre überbordenden Intensivbelastungen, ja, zu kontrollieren. Und letztendlich hat man in ganz Deutschland irgendwo auf eine gewisse Art Kontaktmaßnahmen gehabt, 2G-Regel und so weiter, und das hat uns natürlich genützt mit der Verzögerung von Omikron.

Höhere Dunkelziffer und sehr hohe Zahlen Mitte Januar

May: Und trotzdem geht der neue Gesundheitsminister Karl Lauterbach von einer Inzidenz aus, zwei bis drei Mal höher als die offizielle. Also wir müssen damit rechnen: Eigentlich sind wir nicht bei knapp über 200, sondern eher so um 600 rum?
Drosten: Hm, ja, das weiß ich jetzt nicht so genau, ob man jetzt von einer 600er-Wocheninzidenz schon sprechen kann. Ich würde das nicht ausschließen. Aber diese Weihnachtsdatenlücke, die führt einfach dazu, dass wir ein bisschen höhere Dunkelziffer schon oben drauf rechnen müssen. Ich würde mich da jetzt zahlenmäßig nicht festlegen wollen, sondern ich muss einfach sagen, das wird so sein: Wir werden Mitte Januar plötzlich wieder eine klare Zahlenbasis haben und die wird dann auch sehr hoch sein.
Ein Krankenpfleger betreut auf der Intensivstation im Katholischen Krankenhaus St. Johann Nepomuk in Erfurt einen Patienten, während auf einem Kontrollschirm dessen Vitalfunktionen angezeigt werden.
Ein Krankenpfleger betreut auf der Intensivstation im Katholischen Krankenhaus St. Johann Nepomuk in Erfurt einen Patienten, während auf einem Kontrollschirm dessen Vitalfunktionen angezeigt werden. (AP)

Krankheitsschwere bei Omikron möglicherweise abgemildert

May: Worauf müssen wir uns denn genau einstellen nach allem, was man jetzt weiß beziehungsweise was man herausgefunden hat über diese neue Virusvariante Omikron?
Drosten: Also es ist im Moment ein ziemlich unklares Bild immer noch. Also wir hatten vor Weihnachten einfach einen totalen Informationsmangel, und jetzt haben wir Informationen, aber die gehen so ein bisschen in zwei verschiedene Richtungen. Einerseits ist es so, es gibt diese sehr schnelle Wachstumsgeschwindigkeit in den Ländern, in denen wir vergleichen, es gibt auch sehr große Fallzahlen, die ja jetzt gemeldet werden aus England und Frankreich, wo man irgendwo im Bereich von 200.000 Nachweisen am Tag ist. Das ist ja richtig viel. Das sind ja Länder, deren Bevölkerung irgendwo in der gleichen Größenordnung wie unsere liegt. Und das sind ja Zahlen, die wir in Deutschland noch nie gehabt haben und gar nicht gewohnt sind. Das ist erschreckend. Auf der anderen Seite mehren sich die Daten sowohl aus experimentalvirologischer Ecke wie auch aus der epidemiologischen Berichterstattung, dass die Krankheitsschwere vielleicht abgemildert ist oder sehr wahrscheinlich sogar abgemildert ist. Also da kommt immer mehr Evidenz zusammen. Also man sieht, in verschiedenen tierexperimentellen Studien zum Beispiel ist die Lunge nicht so stark befallen bei den Tieren wie die oberen Atemwege. Das deutet natürlich auf eine verringerte Krankheitsschwere hin, wenn es auch jetzt nicht der Mensch ist, sondern nur ein Tiermodell. Und wir sehen eben in den Daten der Epidemiologen, dass die Krankenhauseinweisungsquote geringer wird, das heißt, pro nachgewiesenem Fall gehen weniger Leute ins Krankenhaus. Man kann da sich vielleicht ganz kurz das so vorstellen, wenn wir uns vorstellen, jemand hätte eine Delta-Infektion und ist nicht geimpft, dann kann man sagen, dieser selbe Nicht-Geimpfte, wenn er stattdessen Omikron hat, dann hat er nur ungefähr drei Viertel des Krankenhauseinweisungsrisikos. Und wenn diese Person jetzt mit Omikron-Infektion auch noch geboostert geimpft ist, dann ist dieses Krankenhauseinweisungsrisiko bei 20 Prozent oder sogar noch ein bisschen geringer.

Dennoch hohe Krankenhausaufnahmen

May: Heißt das, selbst wenn wir jetzt diesen hohen Anstieg bekommen, den Sie und viele andere Experten, eigentlich alle Experten befürchten, könnte es trotzdem sein, dass wir zumindest über eine Überlastung der Krankenhäuser, ja, hinwegkommen, beziehungsweise dass das nicht eintrifft, wenn wir diese Maßnahmen, die jetzt ja noch mal ein bisschen verschärft worden sind, wenn wir die beibehalten?
Drosten: Ja. Also wir haben dadurch in Deutschland sicherlich einen Vorteil, dass wir diese Maßnahmen schon von Anfang an drin hatten, um eben Delta zu bekämpfen in unseren Problemgebieten, wo wir ja wirklich viel Delta-Inzidenz hatten. Und das wird uns in den Januar hinein auch immer noch nützen. Also darum geht es wahrscheinlich ein bisschen langsamer. Aber trotzdem ist eine Verdoppelung von vier Tagen doch auch sehr, sehr schnell, und man muss einfach deshalb bei allen Überlegungen und auch bei allen vielleicht Fantasien, die man jetzt entwickeln kann, was das bedeutet, wenn das so abgemildert ist, muss man sich immer klarmachen: Eine halbierte Krankenhausaufnahmerate, die ist innerhalb von einer Verdoppelungszeit wieder wettgemacht, also von jetzt, sagen wir mal hypothetisch, von vier Tagen. Das heißt, damit hätten wir jetzt erst mal gar nichts gewonnen, sondern man muss da schon ein bisschen weiterdenken, was das eigentlich alles bedeutet. Also wenn wir uns jetzt mal vorstellen, diese Krankenhausaufnahmen, die sind tatsächlich stark reduziert, dann wird es eben dennoch so sein, dass wir hohe Zahlen in den Krankenhäusern haben von Patienten. Die Frage ist: Sind die anders gewichtet? Und da kommt man relativ schnell zu dem Schluss: Die werden eher im Bereich der Normalstationen und Notaufnahmen sein und dann vielleicht nicht so stark weitergehen in die Intensivstationen. Das ist also beispielsweise ein Eindruck, den englische Kollegen im Moment kommunizieren im National Health Service, da ist das jetzt so das generelle Bild. Die Krankenhausaufnahmeraten gehen mit diesen exorbitanten Fallzahlen eben jetzt auch hoch, das schleppt nach und das passiert. Aber es scheint so zu sein, dass diese Patienten nicht so schnell Sauerstoff brauchen, nicht so schnell auf die Intensivstation müssen. Das heißt, der Bereich im Krankenhaus, der belastet ist, ist ein anderer. Es sind die Normalstationen, die normalen Prozeduren.
Eine Frau in Schutzkleidung schaut direkt in die Kamera.
Eine Krankenpflegerin in der Intensivstation im Universitätsklinikum Dresden (dpa / Sebastian Kahnert)

Höhere Krankenstände werden zu Versorgungslücken führen

May: Und dementsprechend könnte dann die Überlastung zumindest kurzzeitig dann an anderer Stelle dann auch auftauchen.
Drosten: Ja, also an anderer Stelle ist da ein gutes Stichwort. Also wir müssen uns klarmachen, die Belastung geht jetzt auch aus dem Krankenhaus heraus, denn was ja passieren wird, ist: Wenn wir geringere Krankheitsschwere haben, wenn die Verläufe im Durchschnitt milder werden, dann wird man zwangsläufig politisch, gesellschaftlich, juristisch höhere Inzidenzen zulassen wollen und müssen, und das bedeutet dann, dass in der normalen Gesellschaft, also beispielsweise in Belegschaften, immer mehr Krankheitsfälle auftreten. Und das führt zu zwei Effekten. Der eine Effekt ist: Es gibt hohe Krankenstände und man muss sich über die Versorgung Sorgen machen. Also was ist mit dem Transport von Waren in den Supermarkt beispielsweise, wenn die Lkw-Fahrer krank sind? Das ist so die eine Sache, und darin liegt eine große Bedrohung und Sorge. Und die andere Sache ist, und das ist eine große Hoffnung, dass, wenn jetzt im normalen Wahrnehmungsfeld jedes Bürgers, jeder Bürgerin die Einschläge näherkommen, also jeder hat in seinem Bekanntenkreis oder im erweiterten Familienkreis, im Arbeitskollegenkreis schon Fälle, dann werden die Leute natürlich ganz von selbst sehr viel vorsichtiger sein, wie sie sich bewegen, denn man will sich ja normalerweise nicht infizieren. Es gibt nur wenige Leute, die da eher ignorant sind. Ich glaube, der normale Bürger will sich erst mal nicht infizieren. Und diese Vorsicht, die sich dann von selbst einstellt, die könnte gerade bei diesem Virus, und das hat so ein bisschen infektionsmathematische Gründe bei Leuten, auf die wir jetzt hier wahrscheinlich nicht einsteigen können in dem Interview, aber gerade bei diesem Virus könnten solche Selbststeuerungseffekte ganz besonders durchschlagend sein.
Kritische Infrastruktur
Der Expertenrat der Regierung hat angesichts der erwarteten vielen Corona-Infektionen und des damit verbundenen befürchteten Ausfalls vieler Beschäftigter auch vor Problemen bei der kritischen Infrastruktur gewarnt. (picture alliance/dpa)

Ein Fuß in der Tür zur endemischen Situation

May: Das heißt, wenn wir bei den Sorgen bleiben, macht es dann eventuell Sinn, die Quarantäne auf fünf Tage wirklich zu verkürzen, einfach, dass man, ja, den Betrieb aufrecht erhalten kann, den Betrieb Deutschlands letztendlich?
Drosten: Ja, ich denke, das ist sinnvoll. Also eine Verkürzung der Selbstisolationszeit, das ist jetzt, glaube ich, gemeint, …
May: Ja.
Drosten: … nach einer Infektion. Das ist ja etwas sehr Konkretes: Wir haben eine Person, die ist infiziert, hat aber keine schweren Symptome und möchte jetzt wieder zur Arbeit. Da könnte man sagen, mit einer Freitestung am Ende könnte man zeigen, mit einem Antigentest beispielsweise, der ist nicht mehr positiv, da kann man jetzt dann auch wieder diese Person als nicht-infektiös betrachten. Bei der eigentlichen Quarantäne zum Durchbruch von Infektionsketten ist das natürlich auch so bei einem Virus, das etwas weniger Krankheitsschwere macht, das also so den ersten Fuß in der Tür hat zur endemischen Situation, dass man gesamtgesellschaftlich auch einfach nicht mehr alle Übertragungen verhindern können will und muss. Und da wird es dann auch so sein, dass man natürlich Quarantänezeiten verkürzt, wohlwissend, dass man so am Schwanz dieser Wahrscheinlichkeitsverteilung wahrscheinlich einige wenige Fälle übersieht. Aber diese Diskussion haben wir schon viel früher geführt, die führen wir schon seit anderthalb Jahren. Bis jetzt hat man sich nie dazu entschlossen. Wenn aber jetzt Omikron wirklich, und da muss ich eben immer noch ein „wenn“ vorausschicken, weil das noch nicht gesichert ist, aber wenn Omikron wirklich eine verringerte Krankheitsschwere im Großen und Ganzen hat, dann finde ich es sehr sinnvoll, in diese Richtung zu gehen.

Vordenken über Umsetzung und Kontrolle von Kontaktmaßnahmen

May: Karl Lauterbach hat gesagt, Sie als Expertenrat, Sie gehören ja auch zum neu geschaffenen Expertenrat der Bundesregierung, bereiten schon neue Empfehlungen vor. Er selbst hat schon gesagt, es wird wahrscheinlich noch einmal Nachschärfungen geben müssen, um diese Welle beherrschbar zu machen. Auf was werden wir uns einstellen müssen?
Drosten: Also ich kann da jetzt nicht so den Bezug auf den Expertenrat nehmen, weil das eben ein Gremium von einer ganzen Reihe von Personen ist und da bin ich auch nur eine Stimme. Ich kann Ihnen aber einfach meine ganz persönliche Einschätzung dazu sagen. Also ich denke schon, dass wir Kontrollmaßnahmen brauchen. Ich finde es gut, dass wir schon Kontrollmaßnahmen haben. Und wir haben im Moment nicht die Datenlage, die werden wir aber sehr bald haben, um vielleicht an diesen Kontrollmaßnahmen jetzt unmittelbar etwas zu verändern, sodass eigentlich die logische Konsequenz ist, dass man jetzt eher diese Veränderungen schon mal vordenkt und vorbereitet. Das ist, glaube ich, das, was läuft, und das läuft jetzt nicht nur in erster Linie auf der Ebene dieses Expertenrats, sondern natürlich muss man das auf der Umsetzungsebene auch überall vordenken. Denn es ist relativ klar, dass man eigentlich über Kontaktbeschränkungen arbeiten muss im Fall der Fälle und dann sind diese Kontaktmaßnahmen ja bekannt. Und die Umsetzung und die Kontrolle, das ist ja häufig das eigentliche Problem.

Schulschließung hat Kollateraleffekte auf das Arbeitsleben

May: Ja, und dann, weil es einfach relativ leicht umzusetzen ist, werden dann schnell die Schulen geschlossen. Droht uns das wieder, flächendeckende Schulschließungen, zumindest temporär im Januar, um diese Belastungsspitzen möglicherweise abzufedern?
leeres Klassenzimmer, Einzeltische nach Abstandsregel, Corona-Krise, Deutschland Wiederbeginn der Schule nach Corona-Lockdown, leeres Klassenzimmer, Deutschland *** empty classroom, individual tables according to distance rule, Corona crisis, Germany School restart after Corona Lockdown, empty classroom, Germany
Es gebe sehr gute Belege dafür, dass Schulschließungen und damit auch ein quasi-Lockdown einschneidend wirke auf die Inzidenz, auf die Virusverbreitung, so Drosten. (imago / Michael Weber)
Drosten: Also dazu kann ich jetzt so gar nichts sagen, weil das ist natürlich eine politische Entscheidung, ob man so eine Maßnahme, so eine starke Maßnahme ergreifen will. Schulen schließen bedeutet ja nicht nur, dass man eben den Schulbetrieb an sich stilllegt, sondern dass man auch all diese Kollateraleffekte auf das Arbeitsleben bewusst haben will in dem Moment. Also, die Leute müssen dann zu Hause sein wegen ihrer Kinder.
May: Eltern zu Hause bleiben.
Drosten: Und das ist dann auch gewollt. Das ist also im Prinzip so die stärkste Ausführungsform eines Lockdowns. Und wir haben, glaube ich, sehr gute Belege dafür, dass das natürlich einschneidend wirkt auf die Inzidenz, auf die Virusverbreitung. Und das wäre sicherlich die Ultima Ratio, die die Politik am Ende gehen müsste, wenn man sehen würde, dass sich das nicht bewahrheitet mit der verringerten Krankheitsschwere. Denn dass die Fälle tatsächlich nach oben schießen, das kann man schon auch jetzt erahnen, das sieht man jetzt am Anteil der Nachweise in den Laboren, und das wird man Anfang Januar auch sehen am Ansteigen der Fallzahlen. Also das ist relativ sicher. Aber was eben nicht sicher ist, ist die Abschwächung, und davon würde man das schon jetzt erst mal abhängig machen.

Booster-Kampagne hat Intensivstationen entlastet

May: Wie lange wird uns denn diese Welle vermutlich noch begleiten, diese Omikron-Welle in Deutschland?
Drosten: Also mathematische Modellierungen sagen, das wird Mitte, Ende Januar losgehen und entspannen kann man sich wieder Mitte April so. Wenn ich das jetzt so stumpf sage, dann muss ich aber immer dazu sagen: Das ist nur eine mathematische Modellierung. Das bezieht nicht ein, dass man ja zwangsläufig gegenreguliert, entweder bewusst und politisch mit aller Kraft durch Lockdown-Maßnahmen, oder was ich vorhin mal beschrieben hatte: Wenn jeder in seinem Umfeld merkt, die Einschläge kommen näher, dann wird auch jeder sich ein bisschen mehr sozial distanzieren und sich eben nicht abends noch auf eine größere Veranstaltung gehen oder in ein Restaurant und so weiter. Und diese Vorsicht, die sich dann von selbst einstellt, die ist eigentlich manchmal eine viel stärkere Stellgröße als diese politischen Maßnahmen. Und wie auch immer es kommt: Diese mathematische Modellierung wird so natürlich nicht eintreten. Das ist ein Szenario. Und was wir deshalb, sagen wir mal, mit einiger Erfahrung, einigem gesundem Menschenverstand erwarten müssen, ist, dass wir sehr wohl ab Mitte, Ende Januar uns damit ernsthaft beschäftigen müssen, damit ernsthafte Probleme kriegen werden, und dann bis zu der wärmeren Jahreszeit, vielleicht mal jetzt geistig gedacht, nach Ostern wird es langsam besser, bis dahin wird man das moderieren müssen gesellschaftlich. Und da wird dazugehören, dass man genau erfassen muss, wie das jetzt mit der Krankheitsschwere ist, und wenn die jetzt wider erwarten nicht sehr stark reduziert ist, dann ist man in einer Situation wie im letzten Winter und Frühjahr, da kann man sich ja dran erinnern, dann wird das sehr ähnlich sein. Wobei man da aber immer noch dazusagen muss: Wir haben jetzt eine sehr große Hilfe durch die Vakzinierung und wir sehen, dass auch bei Omikron gerade die geboosterte Vakzinierung schon gut effizient ist, die zweifache Vakzinierung leider nicht, aber die dreifache Vakzinierung ist sehr gut effizient. Und wir haben ja vor Weihnachten schon bei Delta einen Nutzen durch die Booster-Kampagne gesehen. Also dieses Absinken der Krankheitsschwere, dass weniger Intensivpatienten aufgenommen werden als vorher, dass die Intensivstationen stärker entlastet werden, als man das eigentlich sich über Modelle ausgerechnet hat, das kommt natürlich durch die Booster-Kampagne, die ganz gut angelaufen ist. Und darauf setzt man natürlich jetzt auch wieder große Hoffnung, dass selbst bei einer erhöhten Krankheitsschwere durch die laufende Booster-Kampagne wir nicht wieder genau dasselbe Problem haben wie letztes Jahr im Frühjahr.

Nur durch Boostern kann man nicht alles regeln  

May: Werden wir uns denn aus dieser Welle herausboostern können? Das ist ja die Hoffnung, die Karl Lauterbach immer artikuliert.
Drosten: Die Geschwindigkeit in England, die könnten wir nicht einholen mit einer deutschen Booster-Kampagne, also die Verbreitungsgeschwindigkeit. Wenn die Verbreitungsgeschwindigkeit in Deutschland deutlich langsamer ist und wenn die auch noch mal im Januar zusätzlich kontrolliert wird, dann ist das rein theoretisch denkbar. Aber ich würde das für schwierig halten, ehrlich gesagt, weil an dem massenhaften Impfen, da sind schon große Obergrenzen, gerade im Bereich der Niedergelassenen bei der Impfung, da sind so viele technische und bürokratische Hürden, die einfach die Impfgeschwindigkeit nach oben begrenzen. Man sollte deswegen nicht davon ausgehen, dass man das nur durch Boostern alles regeln kann. Und was wir natürlich jetzt auch noch gar nicht besprochen haben und wo man wirklich auch noch mal ein, zwei Gedanken dran verschwenden muss, ist, was denn ist, wenn die Krankheitsschwere eigentlich abgeschwächt ist.

„Zu viele Ungeimpfte sind natürlich richtig in Gefahr“

May: Was ist dann? Sind wir dann durch?
Drosten: Dann sind wir auf dem Weg in die endemische Situation. Also, das heißt nicht, dass wir nie wieder eine andere Virusvariante bekommen, das heißt nicht, dass wir nicht jetzt eine aufgefrischte, also eine Update-Vakzine brauchen. Die wird es geben. Im zweiten Quartal wird das verfügbar sein und die werden wir auch nutzen müssen. Also ich gehe davon aus, dass jeder noch mal eine Auffrischungsimpfung mit einem Update-Impfstoff braucht. Ich gehe auch davon aus, dass wir zum nächsten Winter hin noch mal wieder einen Inzidenzanstieg bekommen, wo wir zumindest mal die Gefährdeten, also die Älteren wahrscheinlich sogar noch mal auffrischen müssen mit einer Impfung. Wer weiß, was das Virus evolutionsmäßig macht, also es könnte rekombinieren mit Delta, dann hätte man ein gekreuztes Virus, das könnte wieder schwerwiegender werden. Wir sehen jetzt schon einige Veränderungen in dem zirkulierenden Omikron-Virus in Richtung eines noch stärkeren Immunescapes. Also das Virus ist weiter in Bewegung. Aber dennoch: Was viel verlässlicher ist, ist die Bevölkerungsimmunität, und die wird immer besser, je mehr Leute sich boostern lassen, und natürlich vor allem, je mehr wir es schaffen, immer noch die Leute zu überzeugen, und das ist ein deutsches Spezialproblem, die Impflücken zu schließen. Wir haben zu viele ungeimpfte Leute in Deutschland, gerade auch über 60, und die sind natürlich richtig in Gefahr. Die sind jetzt mit Omikron … Also für die wird es jetzt wirklich gefährlich, das muss man schon sagen. Dieses Omikron-Virus wird sich aus den vorhin besprochenen Gründen sehr stark verbreiten und es wird diese Menschen treffen wahrscheinlich nur mit einer geringen Abschwächung der Krankheitsschwere. Also diese Abschwächung ist zum Glück auch bei ungeimpften, ganz naiven Leuten, also damit meine ich immunologisch naiv, also die auch nicht vorinfiziert sind. Auch bei diesen Leuten kann man inzwischen statistisch zeigen, dass das Omikron-Virus etwas abgeschwächt ist, aber leider nur etwas. Und das wird schon zum Problem werden für die Nicht-Virus- oder -Impfstoff-Immunisierten.

Wer Omikron erstmals bekommt, ist nicht geschützt gegen Vorgängervarianten

May: Sie haben das jetzt gerade noch mal angesprochen, dass wir viele Ungeimpfte haben. Das ist ja aber nun eine Tatsache, mit der wir wahrscheinlich leben werden müssen, dass es einfach eine Prozentzahl gibt, die sich allen Aufforderungen und allen auch guten Argumenten zum Trotz einfach, ja, nicht impfen lassen möchte. Ab welche Punkt kann uns das dann egal sein, dass wir sagen, okay, jetzt ist die Grundimmunisierung so weit fortgeschritten, dass wir sagen können, okay, wir können jetzt gefahrlos, zumindest für uns als Gesellschaft gefahrlos, wirklich zum normalen Leben in diese endemische Situation wieder übertreten?
Drosten: Ich bin nicht sehr optimistisch, dass das Omikron-Virus das einfach kurz mal eben erledigt, und zwar deswegen, weil dieses Omikron-Virus wahrscheinlich einen separaten neuen Serotypen [*] darstellt. Das heißt, wir können uns nicht ohne Weiteres drauf verlassen, dass diejenigen, die jetzt noch nicht geimpft sind und dann Omikron erstmals kriegen - und das ist der erste Viruskontakt -, dass die damit auch geschützt sind gegen Delta und alle Vorgängerviren, die co-zirkulieren werden. Die werden nicht komplett verschwinden.

Schutz durch Update-Vakzin im 2. Quartal gegen die neue Virus-Mutation

May: Ach, wenn ich da ganz kurz einhaken kann: Das heißt jetzt, wenn wir uns jetzt oder die Geimpften sich boostern lassen im Frühling eventuell, wenn es dann das angepasste Vakzin gibt, dann haben wir im Prinzip zwei Immunitäten, einmal durch die erste Impfkampagne gegen Delta und dann durch die zweite Impfkampagne gegen Omikron?
Drosten: Ja, das muss man zunehmend so sehen. Also wir haben diese Differenzierung schon ganz eindeutig in den Labordaten gezeigt. Und es ist eben auch so, dass die Differenzierung von Omikron weg von dem anderen Virus gerade noch weitergeht. In den USA sieht man das im Moment relativ deutlich, da gibt es eine bestimmte Mutation, die gerade aufkommt, die eben das Virus noch mal ein bisschen weiter weg bringt von den bisher zirkulierenden Viren. Also das heißt, ich gehe davon aus, da formt sich ein zweiter Serotyp [*], wie wir das nennen. Das kennen wir bei vielen, vielen anderen Viren auch, das ist etwas ganz Normales. Und wir werden eben jetzt mit dieser Update-Vakzin ab dem zweiten Quartal … Die werden wir alle nehmen müssen, und dann sind wir eben ganz breit geschützt gegen diese beiden Serotypen. Aber das gilt leider eben nicht für die Leute, die sich bisher nicht impfen lassen haben. Und es ist einfach ein Sonderzustand in Deutschland. Es gibt unter den großen Industrieländern in Europa kein anderes, das so eine große Impflücke hat, und das ist ein zunehmendes gesellschaftliches Problem, und das wird in Konsequenz auch verhindern, dass wir in Deutschland in die endemische Phase eintreten können, und das wird uns in einen extremen gesellschaftlichen, auch wirtschaftlichen Nachteil bringen gegenüber anderen Ländern, wenn wir das nicht hinbekommen. Und das holt uns auch zum nächsten Winter wieder ein. Also das ist jetzt nicht so, dass man sagen kann, das moderieren wir jetzt bis Ostern durch, dann wird es wärmer und dann ist ja der Sommer entspannt, und danach haben sich alle schon irgendwie unbemerkt schleichend infiziert und dann wird alles gut - das wird nicht so sein. Also wir werden, wenn wir diese Impflücke nicht geschlossen kriegen, auch zum nächsten Winter hin wieder ein ähnliches Problem haben. Und es ist deswegen einfach zu überlegen: Also klar, die Politik redet gerade über Impfpflicht und das mag ein Weg sein, es gibt vielleicht andere Wege, wie man motivieren kann. Was mir auffällt, ist weiterhin Unkenntnis, Halbwissen, und das in großem Selbstbewusstsein vorgetragen – das ist doch eigentlich das, was die meisten Leute im Moment davon abhält, sich impfen zu lassen. Es ist ja nicht eine so breite, ich nenne es mal jetzt, Radikalisierung. Also diese Personen wird man nicht mehr erreichen, aber es sind vielleicht dann doch nicht so viele.
Weitere Entwicklung in der Corona-Pandemie
12.11.2021, Berlin: Lothar Wieler, RKI-Präsident, stellt vor der Bundespressekonferenz eine Grafik mit den neuesten Corona-Zahlen hoch und beantwortet Fragen von Journalisten. Foto: Wolfgang Kumm/dpa +++ dpa-Bildfunk +++ (Wolfgang Kumm/dpa)

Verunsichernde Botschaften, irritierte Leser und Hörer

May: Wobei an Aufklärungskampagnen, das ist zumindest mein Eindruck, hat es ja doch eigentlich nicht gemangelt, oder sehe ich das falsch? Haben wir da was verpasst?
Drosten: Also die Frage ist, ob diese Aufklärungsarbeit immer die richtigen Kompartimente der Gesellschaft erreicht hat. Also wir haben ja doch in ganz breiten Sparten und Hörer- und Leserschaften von bestimmten Medien auch immer diese verunsichernden Botschaften gehabt. Also es wurde ja über Monate, sicher über ein Jahr jetzt, auch einer ganz breiten Bevölkerungsschicht immer wieder in großen Lettern suggeriert, das ist ja alles nicht so schlimm und das ist doch alles nur eine Panik und ein Chaos und die Modellierer, das ist doch alles falsch und so weiter. Also ich glaube, es gibt eine große Gesellschaftssparte, die einfach gar nicht mehr genau weiß, was sie denken soll. Und vielleicht muss man eben auch über deren Hauptmedienkonsum noch mal überlegen, ob man über diese Kanäle noch mal stärker adressieren kann, denn das ist tatsächlich ein richtig ernstes gesellschaftliches Problem, es ist auch ein wirtschaftliches Problem.

Entwarnende Meldungen, aber gegensätzliche Daten

May: Hm, wobei die Öffentlich-Rechtlichen ja jetzt eher an den Pranger gestellt werden, weil sie Panikmache betreiben, also zumindest, wenn ich jetzt die Hörerpost so rausfiltere, die wir so bekommen beziehungsweise die bei uns so aufläuft.
Drosten: Also ich höre das jetzt nicht. Also, in den öffentlich-rechtlichen Medien haben wir eine Reflexion der internationalen Agenturmeldungen und die gehen in beide Richtungen. Gerade heute hören wir zum Beispiel wieder sehr, sehr entwarnende Agenturmeldungen, die ich zum Teil gar nicht nachvollziehen kann anhand der Daten, die dahinterstehen, und die spülen immer auch in die öffentlich-rechtlichen Medien hoch. Und wir haben in öffentlich-rechtlichen Medien genau die Talkshows, die auch für False-Balance-Effekte kritisiert werden. Also das würde ich so nicht sehen. Das kann ich so nicht nachvollziehen. Also wir haben diese sehr verunsichernden Botschaften in einer anderen Mediensparte, natürlich auch im Boulevard, und dann geht das ja in die sozialen Medien hinein, die gar nicht kontrollierbar sind, weil es ja zum Teil einfach Messenger-Dienste sind.

Verbreitete Fehlauffassungen als Teil der Impfunwilligkeit

May: Sie haben jetzt auch noch mal einen Tweet abgesetzt, wo sie ganz explizit drauf eingegangen sind auf, na ja, ich würde mal sagen, falsche Vorstellungen über die Wirkweise des Immunsystems bezogen auf Impfung.
Drosten: Ja, also das geht tatsächlich zurück auf ein Interview, das Sie geführt haben vor ein paar Tagen, das habe ich hier mal so gehört. Und das hat mich schon sehr beeindruckt. Ich hatte diese Konnotation schon immer mal gehört so in Richtung, na ja, jetzt stärken wir doch mal unser Immunsystem, dann wird das schon alles nicht so schlimm sein, oder ich will mich mit diesem Virus infizieren, mit dem SARS-2-Virus, das stärkt dann das Immunsystem. Das ist schon so eine offenbar verbreitete Fehlauffassung. Und ich hatte das Gefühl, das einfach mal so ansprechen zu müssen, dass das auch plakativ ist und dass man das einfach wirklich mal versteht, wie falsch eigentlich diese Auffassung ist, dass man sein Immunsystem so ganz allgemein stärken kann oder dass solche schweren Infektionen wie SARS 2 das Immunsystem trainieren auf eine gewisse Art und Weise. Also ich glaube, das ist eine Fehlauffassung, die so verbreitet ist, dass sie auch einen Teil der Impfunwilligkeit erklärt und einen Teil unseres gesellschaftlichen Problems.

Wie hoch soll der Preis für die endemische Lage sein?

May: Sie sprechen den ungeimpften Pfarrer Rampmeier an, der hier vor ein paar Tagen erklärt hat, warum er sich nicht impfen lässt, der Tag, die Folge vom 27.12., für die, die es nachhören wollen. Aber kommen wir zurück zum Virus. Sie sagen, es ist äußerst unsicher, dass wir wirklich diesen endemischen Zustand in Deutschland im Herbst erreichen. Wird es irgendwann mal wieder so werden, wie es früher war?
Drosten: Ja, absolut. Also wir werden in einen endemischen Zustand kommen, die Frage ist nur, zu welchem Preis, also unter wie vielen weiteren Verstorbenen, und wie die Politik das moderieren möchte. Also die Frage ist: Wollen wir uns sehr viel Zeit lassen, diese infizierten, immunnaiven Personen zu haben und in den Krankenhäusern zu behandeln und auch zu verlieren, und wollen wir so lange auch Maßnahmen immer wieder einführen müssen in den kalten Monaten, bis es eben auch bei uns vorbei ist? Oder wollen wir das so schnell haben wie andere Länder in Europa, die viel besser geimpft haben, die bei den Älteren gerade viel besser geimpft haben und die auch ihre Bevölkerung anders offenbar erreicht haben und mitgenommen haben? Dort wird sicherlich im kommenden Jahr sich der endemische Zustand einstellen. Das heißt vielleicht nicht, dass man dort im nächsten Winter überhaupt keine Masken mehr sieht. Das mag schon sein, dass man immer noch mal so nachstellen muss, das kann ich jetzt auch nicht voraussagen, ich bin da kein Wahrsager. Es kann auch gut sein, dass sich herausstellt, wenn man jetzt einmal noch allen später die Update-Impfung gegeben hat, dass das Problem dann wirklich aus der Welt ist. Es kann auch sein, dass das Virus dann nicht mehr viel macht. Ich erwarte jedenfalls nicht, dass das in solchen Ländern, dies sehr effizient geimpft haben, noch jahrelang geht. Bei uns bin ich mir einfach im Moment angesichts unserer Impflücke nicht sicher.

Frühe Öffnung nach der Impfung war Großbritanniens fataler Fehler

May: Sie haben im Interview mit der SZ gesagt, die Briten könnten diese Endemie schon nächsten Winter erreicht haben, die werden Sie jetzt sicherlich auch im Kopf gehabt haben, andererseits gehört zur Wahrheit natürlich auch dazu, dass die einen sehr hohen Preis bezahlt haben während der Pandemie, auch mit hohen Infektions-, mit höheren Todesraten. Ist das nicht die andere Seite der Medaille und auch ein Teil der Wahrheit, dass man in Deutschland eben auch sehr vorsichtig gewesen ist und sich deswegen viel verzögert?
Großbritannien, London: Ein Polizist steht vor dem St. Thomas Hospital. Der britische Premierminister Johnson ist wegen seiner Covid-19-Erkrankung auf die Intensivstation verlegt worden.
Auch der britische Premierminister Boris Johnson lag hier im Londoner St. Thomas Hospital mit einer Corona-Infektion auf der Intensivstation. (Victoria Jones/PA Wire/dpa)
Drosten: Ja, das ist die andere Seite der Medaille, aber bei den Ländern mit einer sehr guten Ansprache und so weiter und guter Impfquote hatte ich jetzt eher an beispielsweise Spanien gedacht. Und es stimmt, in Großbritannien hat man natürlich eine Impfquote, die eigentlich gar nicht viel besser war als die in Deutschland, die ist aber bei den Älteren besser balanciert, also man hat die älteren Personen viel besser durch die Impfung erreicht. Und natürlich hatte man hohe Zahlen von Verstorbenen vor der Verfügbarkeit der Impfung in breitem Maße. Da hat ja die Politik in Großbritannien die großen Fehler gemacht. In der ersten Welle und in der zweiten, also in der Winterwelle, bevor die Bevölkerung durch die Impfung immunisiert werden konnte, da gab es ja die ganz hohen Fallzahlen. Und man muss schon auch ein bisschen sagen, jetzt zum Herbst hin hat man sich sehr stark auf die Impfung verlassen und relativ früh alles geöffnet. Das hätte man in Großbritannien nicht machen sollen. Da hatte man ja doch immer täglich 200 Todesfälle und musste das über sehr lange Zeit tolerieren und hat dann jetzt gegen Ende der Delta-Welle aber gesehen, dass die Booster-Vakzinierung jetzt so richtig greift und die Todesfälle richtig nachhaltig runtergehen. Und das ist auch jetzt immer noch so. Also während Omikron in die Höhe schnellt und sogar die Krankenhausaufnahmen hochgehen, haben wir aktuell in Großbritannien noch sinkende Sterbezahlen. Und das ist natürlich der Erfolg der Booster-Vakzinierung, und da sind wir leider dann auch wieder noch nicht so weit wie unsere Nachbarn in England. Da müssen wir aber unbedingt hinkommen.

Omikron wird in China Probleme machen

May: Herr Drosten, zwei Fragen möchte ich Ihnen zum Ende noch stellen. Erste Frage: China. 2022, in zwei Monaten, nicht mal zwei Monaten, finden in Peking Olympische Winterspiele statt, und die chinesischen Impfstoffe scheinen gegen Omikron nicht gut zu wirken. Das wird natürlich in einer sogenannten Bubble stattfinden, aber da kommen trotzdem tausende Sportler und Funktionäre. Was könnte da uns blühen?
Drosten: Na ja, also ich bin mir nicht sicher, ob man Olympische Spiele braucht, um Omikron nach China einzutragen. Ich glaube, das Virus ist da auch schon. Da werden wahrscheinlich die Olympischen Spiele zu dem Zeitpunkt gar nicht mehr so viel noch oben draufsetzen. Man muss sich insgesamt über diese Konstellation Sorgen machen. Wie Sie richtig sagen, also die Totvakzine, die in China verimpft wurde, also ein getötetes Vollvirus, das wirkt leider sehr schlecht gegen Omikron. Was man weiß, ist: Wenn man da jetzt noch eine mRNA-Vakzine dazu tut, dann kriegt man wieder eine ganz gute Wirkung. Und natürlich gibt es da in China auch gewisse Kapazitäten, aber man wird das so schnell nicht hinkriegen, und darum wird man in China wahrscheinlich Kontaktreduktionsmaßnahmen brauchen und die werden wahrscheinlich geografisch immer weiter auch notwendig sein und um sich greifen. Und das ist natürlich für die Wirtschaft wahrscheinlich eine relevante Implikation. Also ich bin kein Wirtschaftswissenschaftler, um das irgendwie zu kommentieren. Ich kann nur sagen, dass ich erwarte, dass dieses Omikron-Virus in China Probleme machen wird.

Die Geimpften werden sich komplett frei bewegen können

May: Nach allem, was Sie jetzt erzählen: Das klingt so, als sollten wir uns eher drauf einstellen, dass wir auch im nächsten Jahr noch relativ weit entfernt sein werden von so etwas wie „normal“?
Drosten: Also ich gehe davon aus, dass wir bei den Leuten, die impfbereit und impfwillig sind, eigentlich einen ganz normalen Zustand haben werden. Also die werden sich in Deutschland bis dahin komplett frei bewegen können, die Pandemie wird für diese Menschen vorbei sein. Allerdings werden diese Menschen, falls wir es nicht schaffen, unsere Impflücke zu schließen, wahrscheinlich weiter Rücksicht nehmen müssen auf diejenigen, die es einfach nicht verstehen, dass sie zur Impfung gehen müssen und dass sie auch ihren Teil, ihren Beitrag leisten müssen. Und deswegen werden wir dann wahrscheinlich weiterhin gewisse Kontaktmaßnahmen brauchen, also Maske tragen in Räumen beispielsweise im nächsten Winter. Das würde mich nicht wundern, wenn wir das noch machen müssen. Ich glaube aber nicht, dass wir in großer Breite dann noch diese Belastung auf die Krankenhäuser haben werden.
Passanten auf der Hohe Straße in Köln, im Hintergrund sind die Schilder vieler Geschäfte zu sehen, aufgenommen im Mai 2018.
Passanten auf der Hohe Straße in Köln (picture alliance/Geisler-Fotopress/Christoph Hardt/)

Ohne Impfung und Update wird es nicht gehen

May: Gut. Letzte Frage: Der Jahreswechsel naht. Ich frage Sie das natürlich auch: Welche Wünsche haben Sie für 2022? Nach allem, was Sie jetzt gesagt haben, würde ich fast vorwegnehmen, dass sich mehr Menschen impfen lassen?
Drosten: Ja, das ist der Schlüssel. Also man soll das nicht so kommunizieren, dass das das Allheilmittel ist, also man braucht noch allgemein Maßnahmen zusätzlich. Aber ohne die Impfung und auch ohne die kommende Update-Impfung wird es nicht gehen. Also dieses Virus ist einfach zu verbreitungsfähig. Und deswegen ist das natürlich für Deutschland der Wunsch, den ich habe. Weltweit wünsche ich mir, dass, sagen wir mal, die milde Krankheitsrepräsentation, die wir bis jetzt in Afrika sehen, so bleibt, denn ich mache mir wenig Illusionen ehrlich gesagt, dass man im Laufe des nächsten Jahres den afrikanischen Kontinent mit ausreichend Impfstoffen versorgen kann. Das wird einfach logistisch aus bestimmten zwangsläufigen Hinderungsgründen nicht möglich sein. Und wir können nur hoffen, dass es so bleibt, wie es bis jetzt gesehen wird in Afrika.
[*] Wir haben an dieser Stelle eine Schreibweise korrigiert.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.