Die Bedeutung der Aerosol-Übertragung ist schon länger in der wissenschaftlichen Diskussion. "Langsam zeigen sich anscheinend die Auswirkungen", sagte der Virologe der Berliner Charité, Christian Drosten, im Deutschlandfunk. Das zeigten Coronavirus-Ausbrüche wie zuletzt in einer Baptistengemeinde in Frankfurt am Main oder in einem Restaurant in Leer, aber auch die wissenschaftliche Literatur. Um die Aerosol-Übertragung zu verringern, müsse die Viruslast im Raum bewegt und rausbefördert werden - etwa durch regelmäßiges Lüften. Das könne im Alltag möglicherweise entscheidender sein als Händewaschen und Desinfizieren, so Drosten.
Zum Thema Öffnung der Schulen und Kindergärten schlug Drosten vor, jeden Lehrer und jede Lehrerin sowie jeden Erzieher und jede Erzieherin einmal pro Woche auf das Coronavirus zu testen - "als Beruhigungs- oder Servicefunktion für dieses sehr wichtige Personal".
Silvia Engels: Sie kennen natürlich keine Details in Frankfurt aus dieser Baptisten-Gemeinde, aber es gab ja zuletzt einige Fälle, die Furore machten, denn dort haben sich offenbar viele Menschen gleichzeitig in geschlossenen Räumen aufgehalten, und sie haben nach eigenem Bekunden Abstand gehalten und Desinfektionsmittel benutzt. Dennoch wurden sie infiziert. Zeigt das, dass die Ansteckungsgefahr durch das Virus noch höher ist als gedacht?
Christian Drosten: Ich glaube, dieses Virus ist sehr ansteckend. Das wissen wir ja schon lange. Die Frage ist aber natürlich genau, wie es infiziert, und da kommen natürlich im Laufe der Zeit neue Informationen zusammen - nicht nur aus diesen Einzelbeobachtungen von solchen Ausbrüchen, sondern auch aus der wissenschaftlichen Literatur. Und es mehrt sich hier der Eindruck, dass wir zusätzlich zur Tröpfcheninfektion auch eine deutliche Komponente von Aerosolinfektionen haben. Das ist etwas, das schon seit Wochen im Prinzip besprochen und in der Diskussion ist, aber jetzt langsam zeigen sich anscheinend die Auswirkungen davon.
Engels: Sie haben es angesprochen: Die Ansteckungsgefahr über Aerosole, lange in der Luft fliegende Schwebeteilchen mit Viruslast, das wird von Forschern nun schwerwiegender gesehen als noch vor einigen Wochen. Was tun dagegen?
Drosten: Na ja, man kann natürlich sich schon Dinge überlegen, die aber im Moment noch nicht in Richtlinien umgesetzt sind. Das ist immer ein bisschen das Problem, das wir da haben. Wenn man eine gute Vorstellung von diesen Infektionsmechanismen hat, dann kann man Hinweise geben. Nur dann kriegt man immer gesagt, aber das steht doch nirgends in einer Richtlinie. Das schleppt also nach, dieses Verfassen von Richtlinien.
Aber ganz einfach gesprochen: Wenn es denn so ist, dass ein Virus in der Raumluft steht, dann muss diese Raumluft natürlich bewegt werden und herausbefördert werden. Das heißt, man macht das Fenster auf, setzt da einen großen Ventilator rein, der die Luft nach draußen bläst, und macht die Tür einen Spalt auf. Dann kann man natürlich so einen Raum auch entlüften und kann sicherlich auch so eine Aerosolkomponente verringern.
"Die Aerosolübertragung spielt eine wichtige Rolle"
Engels: Das heißt, generelle Einschränkungen, dass man Treffen in schlecht gelüfteten Restaurants und überhaupt Sitzungen in Räumen unterlässt, dass man Gottesdienste mit Gesang nicht zulässt, vielleicht Chorproben generell nicht. Das kann man im Einzelfall, wenn man dann doch gut durchlüften kann, durchaus zulassen, oder sollte man hier doch wieder über generelle Einschränkungen nachdenken?
Drosten: Na ja, diese Begriffe Zulassen und Einschränkungen, das sind solche Verantwortungsbegriffe, behördliche Begriffe, und da muss jemand dann auch dafür geradestehen, wenn dann trotzdem etwas passiert ist. Ich bin hier jetzt als wissenschaftlicher Experte in der komfortablen Situation, einfach erklären zu können, wie die Dinge wahrscheinlich sind nach neueren Daten. Da kann man dazu sagen: Wir haben im Laufe der Zeit immer mehr Hinweise aus der Wissenschaft bekommen, dass es diese Aerosolausscheidungen gibt. Und zwar sowohl durch direkte Messung - was gibt ein Patient von sich, mit einer technischen Apparatur gemessen -, wie auch durch diese Ausbruchsuntersuchungen, wo man einfach immer mehr sagen muss, das muss über eine Aerosolinfektion gelaufen sein. Das sind nicht nur Beobachtungen in Deutschland, sondern in vielen anderen Ländern.
Wie macht man daraus jetzt aber was? Das ist das große Problem. Ein Ansatz dazu ist, natürlich zu sagen: Jeder darf das im Einzelfall entscheiden in der Fläche, jedes Gesundheitsamt darf sich selbst seinen Reim machen auf die Situation und sagen, wie es damit umgehen will. Aber ich glaube, das trägt nur ein Stück weit. Ab irgendeinem Zeitpunkt brauchen wir einfach vielleicht auch eine große Überarbeitung unserer jetzigen Richtlinien anhand neu aufkommender Vorstellungen zum Infektionsmechanismus, und dazu muss man einfach jetzt anerkennen, die Aerosolübertragung spielt eine wichtige Rolle. Sicherlich die Tröpfchenübertragung spielt auch weiterhin eine Rolle. Das ist ja die Übertragung, bei der man an diese anderthalb Meter Abstand denkt. Aber im Gewichtsverhältnis zur Aerosolübertragung ist das wahrscheinlich eine geringere Komponente. Vielleicht ist das so ungefähr gleichbedeutend, nur mal so vom Gefühl. Ich kann das auch nicht quantifizieren. Aber die direkten quantitativen Messdaten, die suggerieren, dass ungefähr genauso viel von sich gegeben wird im kleintropfigen Aerosol wie im großtropfigen Tröpfchennebel.
Und wo man auch noch mal hinschauen muss, ist die ganze Überlegung zu Desinfektionsmitteln, zu ständigem Händewaschen. In diesem Bereich ist es nun nicht so, dass im Laufe der Zeit mehr wissenschaftliche Daten aufkommen, die das bestätigen. Hier will ich mal vorsichtig sagen: Vielleicht wenn man einen Bereich zu Gunsten eines anderen Bereichs unterbetonen will und da mal lieber ein bisschen weniger drauf achten will und weniger investieren, dann wäre das wirklich dieser Desinfektionsmittel-Bereich im Alltag. Ich will jetzt nicht sagen, im Krankenhaus. Da ist es eine ganz andere Überlegung. Aber im Alltag sollte man sich eher vielleicht aufs Lüften konzentrieren und weniger auf das ständige Wischen und Desinfizieren.
"Wir brauchen viel mehr noch bessere Richtlinien"
Engels: Ab wann die Viruslast durch Aerosole in einem Raum gefährlich wird, auch dazu kann man noch nichts endgültig sagen. Sie sind Virologe. Sie sind natürlich kein politischer Entscheider. Aber wie passt es zusammen, wenn ja die Erkenntnisse noch nicht gesichert sind und gleichzeitig Herr Ramelow aus Thüringen, der Ministerpräsident, die Eigenverantwortung für Abstand halten, für möglicherweise auch einen Termin eben nicht wahrnehmen, dem Bürger übergeben will? Ist der damit nicht überfordert?
Drosten: Die Eigenverantwortung ist ja so das schwedische Modell, und wir sehen in diesen Tagen - wir werden das in den nächsten Monaten noch stärker sehen -, dass dort eine sehr hohe Übersterblichkeit entstanden ist. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob das alles über Eigenverantwortung laufen kann. Ich glaube, wir brauchen viel mehr noch mal bessere Richtlinienwerke für bestimmte ganz wichtige gesellschaftliche Bereiche wie zum Beispiel jetzt die Schulen und die Kindertagesstätten, Kindergärten. Da muss natürlich etwas geschehen und da kann ich als Virologe sagen: Es gibt eigentlich keine großen Hinweise aus der wissenschaftlichen Literatur, die jetzt wirklich das bestätigen, was hier und da auch in Meinungsäußerungen beschrieben wird, nämlich dass die Kinder weniger infektiös sind oder weniger empfänglich für die Infektion. Das sieht für mich überhaupt nicht so aus anhand der vorhandenen wissenschaftlichen Daten.
Aber dennoch würde ich zum Beispiel als Privatperson und nicht als Virologe durchaus auch natürlich die Notwendigkeit sehen und unterstützen, dass dieser gesellschaftlich extrem wichtige Bereich der Kinderbetreuung und Erziehung wieder belebt werden muss. Und da muss man dann überlegen, wie kann man das vorhandene epidemiologische und wissenschaftliche Wissen nehmen, um mit dieser Situation umzugehen.
Erzieher und Lehrer ein Mal pro Woche testen
Engels: Sie sprechen es an: Kitas und Schulen. Dort sollen jetzt mehr und mehr Kinder wieder die Möglichkeit haben, auch präsent vor Ort zu sein. Welche Methoden kann man denn Ihrer Ansicht nach in den Schulen und Kitas vornehmen, um hier angesichts der unklaren wissenschaftlichen Lage trotzdem ein Risiko so weit wie möglich einzudämmen?
Drosten: Ich glaube, man kann sich das ganz gut klarmachen, dass man hier eigentlich in einer guten Sondersituation ist - bei aller Schwierigkeit. Wenn man jetzt zum Beispiel an so einen Ausbruch in der Kirche denkt: Keiner weiß genau, wer hat wo gesessen, und die Behörden müssen dem Ganzen hinterherlaufen und es bricht eine große Ratlosigkeit aus. So ist es ja nicht in der Schule. Wir wissen von Tag zu Tag genau, an welchem Platz welcher Schüler sitzt, und wir wissen noch was anderes und das ist noch viel wertvoller.
Wir wissen ja, während gerade die jungen Kinder eigentlich kaum Symptome kriegen, haben wir ja Erziehungspersonal, und damit meine ich jetzt sowohl Kita-Betreuer, Betreuerinnen, wie auch Lehrerinnen und Lehrer. Dieses erwachsene Personal ist ja stetig. Das hat einen täglichen stetigen Kontakt mit den Kindern und diese Personen sind erwachsen. Das heißt, die kriegen ganz normale Symptome wie jeder andere auch, und es ist doch so, dass der überwältigende Teil aller Patienten Symptome kriegt, und die zeigen das allen über die Symptome schon an, dass da was im Umlauf ist. Das müssen wir nutzen. Wir nennen das in der Epidemiologie eine Sentinel-Funktion, eine Anzeiger-Funktion.
Dann haben wir aber natürlich noch etwas anderes: Wir haben hier bei den Erziehungskräften auch sehr, ich will mal sagen, gut informierte Personen, die auch häufig besorgt sind um die eigene Gesundheit, um die Gesundheit der Angehörigen. Was wir hier tun sollen – und da kommen die beiden Vorteile zusammen mit der Anzeiger-Funktion und auch mit der Neigung, dem Ganzen wirklich sehr aufmerksam zu folgen. Was wir tun müssen ist, jetzt hier wirklich Diagnostik anzubieten. Bei all den Aussprüchen von Testen, Testen, Testen, wo ja doch, wenn man dann genau hinschaut, gar nicht so viel weitere Information dahinter ist - und man kann nicht alles blind testen -, wäre das doch mal ein sehr wichtiger Informationspunkt, den man sofort in Richtlinien umwandeln muss: Nämlich vielleicht mal, so ganz einfach gesagt, jeder symptomatische Lehrer muss sofort getestet werden und jeder besorgte Lehrer, der auch vielleicht keine Symptome hat, darf einmal pro Woche getestet werden – als Beruhigungs- oder auch Service-Funktion an dieses sehr wichtige Personal.
Ich glaube, mit dieser Kombination, bei Symptomen muss, ohne Symptome kann man getestet werden, und zwar niedrigschwellig, real, wirklich verfügbar, verlässlich, vielleicht einmal in der Woche für jeden Lehrer, jede Kita-Erzieherkraft, ich glaube, damit wären wir ein ganz wichtiges Stück weiter, wenn wir das bis zu den Sommerferien einüben. Auch im kleineren Kinderbetreuungsbereich über die Sommerferien hinweg einüben. Dann kommen wir, glaube ich, gut in den Herbst rein und da müssen wir ja noch mal besonders aufmerksam sein wegen des Temperatureffekts, den es vielleicht gibt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.