Das Coronavirus mutiert und die Hinweise mehren sich, dass neue Varianten ansteckender sind und sich daher schneller verbreiten können. Was bedeutet das für die Strategie gegen die Pandemie? Darüber haben wir mit Alexander Kekulé gesprochen, er ist Virologe in Halle und dort Direktor des Instituts für Medizinische Mikrobiologie.
Tobias Armbrüster: Herr Kekulé, wie gefährlich sind diese Corona-Mutationen?
Alexander Kekulé: Wir haben weltweit ja seit einiger Zeit Mutanten oder Varianten, wie wir eigentlich sagen. Die beobachten wir einerseits mit Sorge, weil sie sich schneller ausbreiten. Das ist bei so einer Pandemie, sage ich mal, zu erwarten, dass es immer wieder Varianten gibt, die andere verdrängen, die wahrscheinlich dann auch stärker ansteckend sind. Man muss aber auch daran erinnern, dass das ja in Norditalien bereits passiert ist. Da ist ja der Ausbruch damals im Februar lange übersehen worden. Da hat sich auch schon eine ansteckendere Variante durchgesetzt, die inzwischen weltweit verbreitet ist, die sogenannte G-Variante, und so etwas Ähnliches versucht das Virus jetzt noch einmal. Ob es jetzt gerade diese B117 aus Großbritannien wird, ist gar nicht klar. Es gibt andere Varianten, die in Südafrika oder auch in Brasilien beobachtet wurden, und natürlich ist es auch hier so wie immer: Nur wenn man hinschaut, findet man was. Ich persönlich vermute, dass wir weltweit wahrscheinlich noch eine Hand voll weiterer Varianten haben, die auf dem Vormarsch sind. Das heißt, die neuen Varianten werden kommen, aber es ist kein Grund jetzt zur Panik.
Armbrüster: Könnte es denn sein, dass diese Varianten tatsächlich die gesamte Corona-Strategie auch der Bundesregierung hier in Deutschland auf den Kopf stellen?
Kekulé: Nein, das meines Erachtens überhaupt nicht, auch wenn das zum Teil in der Presse so gesagt wird. Ich muss auch deutlich sagen: Wenn sich so eine Variante durchsetzt, haben wir nicht deswegen die Schlacht verloren. Das darf man nicht so dramatisieren. Das ist kein Supervirus, wie man zum Teil liest oder auch hört, keine zweite Pandemie, die gerade passiert.
Was wir machen müssen ist, die Maßnahmen, die wir eigentlich schon lange brauchen, dass wir die tatsächlich konsequenter durchziehen. Wir haben ja mehrere riesengroße Lücken in unserem Abwehrsystem, wenn ich mal so sagen darf, und diese Lücken gelten sowohl für die alten Varianten als auch für die neuen, die jetzt kommen.
"Es kommt natürlich auf unsere Gegenmaßnahmen an"
Armbrüster: Herr Kekulé, ich höre bei Ihnen heraus, dass Sie da durchaus optimistisch sind. Das ist natürlich immer ganz schön, wenn man in dieser Pandemie auch mal eine optimistische Stimme hört. Aber viele Leute fragen sich jetzt: Moment! Wenn diese Mutation, diese Variation des Virus, wenn die ansteckender sind, möglicherweise in kürzerer Zeit noch mehr Menschen anstecken können, dann passiert ja genau das wieder, was eigentlich gerade alle verhindern wollen, dass die Infektionszahlen hochgehen.
Kekulé: Ja, das ist genau richtig. Die Infektiösität ist etwas höher, ungefähr, sagen wir mal, 20 bis 30 Prozent nach den Daten aus England. Das heißt, die Wahrscheinlichkeit, sich damit anzustecken, ist etwas höher. Aber es kommt natürlich auf unsere Gegenmaßnahmen an. Wenn Sie eine Maske aufhaben, ist es ja nicht so, dass die neue Variante dann durch die Maske durchkriecht, und wenn Sie zwei Meter Abstand halten, dann ist es auch nicht so, dass die Variante weiter fliegt, sondern diese höhere Ansteckungsfähigkeit kann verschiedene Ursachen haben. Wir wissen nicht genau, warum. Zum Beispiel, dass die Infizierten das Virus einfach länger ausscheiden. Es gibt auch Hinweise darauf, dass mehr asymptomatische Fälle auftreten. Das ist eine ganz interessante Entwicklung, weil einerseits natürlich Asymptomatische eine höhere Ansteckungsfähigkeit bewirken. Weil man nicht merkt, dass man krank ist, steckt man mehr Menschen an. Andererseits ist das natürlich dann ein Hinweis darauf, dass das Virus das macht, was so Viren regelmäßig machen. Das habe ich in meinem Buch, was gerade erschienen ist, ja auch ausführlich beschrieben. Die werden ansteckender, aber zugleich weniger gefährlich in der Regel. Die passen sich an ihren neuen Wirt an, auch indem sie weniger gefährlich werden. Vielleicht sehen wir so was im Moment.
Und das andere, was wir in England, wenn man genau hinschaut, auch sehen, ist: Diese neuen Varianten, die gehen parallel zu den bestehenden Varianten hoch. Das heißt, es ist natürlich ein additiver Effekt, aber das ist möglich, dass das andere Populationen sind, die hier betroffen sind. Das heißt, wir haben in England zum Beispiel die Situation, dass im Moment gerade ganz viele Jugendliche und Schüler betroffen sind, und das liegt jetzt nicht notwendigerweise an der Variante. Aber das kann dieser Variante natürlich helfen, gerade wenn sie mehr asymptomatische Fälle macht, dass sie sich schnell ausbreitet, und das ist ja das, was wir dort sehen. Ja, die breitet sich schnell aus, aber das heißt nicht, dass das jetzt ein Monstervirus ist, wo wir andere Maßnahmen brauchen. Wir müssen die Maßnahmen, die schon angezählt sind, die bei uns schon lange, lange überfällig sind in Deutschland, endlich durchziehen.
"Infizierte werden ja aus den Wohnungen nicht rausgenommen"
Armbrüster: Zum Beispiel?
Kekulé: Es sind vier Dinge, die wir haben. Das eine ist, dass wir die Altenheime immer noch nicht geschützt haben. Das ist wirklich dramatisch, dass wir das nicht hinkriegen. Da wird immer noch zu viel gestorben.
Armbrüster: Das heißt, Sie würden Familienmitglieder, die positiv getestet wurden, aus den Familien rausnehmen?
Kekulé: Dafür ist es jetzt zu spät, weil wir die ganze Infrastruktur nicht haben. Aber es steht ja in den Pandemie-Plänen, an denen ich vor Jahrzehnten beteiligt war, klipp und klar drin, dass wir sogenannte Fieberkliniken brauchen, wo man Infizierte, die jetzt nicht schwerkrank sind, quasi isolieren kann, überwachen kann und verhindern kann, dass die gleich den nächsten anstecken. Das kriegen Sie ja im Haushalt privat nicht hin. Da hat man sich in Deutschland dagegen entschieden und in China hat man das so gemacht. Da heißen die übrigens Arche Noa Kliniken. Das war ein sehr erfolgreiches Modell.
Jetzt ist es bei uns so: Wenn Sie einen Infizierten haben, steckt der den ganzen Haushalt an, und dadurch dauert das einfach länger, bis die Bremse, auf der wir jetzt stehen, quasi einen Effekt hat, weil Sie immer die Infektionen im Haushalt kriegen.
"Berufliches Umfeld sträflich vernachlässigt"
Nummer drei ist, dass wir das berufliche Umfeld ja sträflich vernachlässigt haben. Wir haben im privaten Bereich ganz viele Dinge, im Freizeitbereich eingeschränkt, aber im Beruf gibt es ganz viele Situationen, wo Menschen noch ohne Maske in geschlossenen Räumen zusammen sind. Ich finde, da gehört eine generelle Maskenpflicht her, und zwar schon lange.
Der vierte Effekt ist der, dass wir, weil auch die Maßnahmen zum Teil schwer nachvollziehbar sind, zunehmende Verweigerer haben, die einfach gar nicht mehr mitmachen, die gar nicht zum Gesundheitsamt gehen, wenn sie positiv werden. Durch diese vier Dinge sind die offenen, wenn ich mal so sagen darf, Scheunentüren und da hat es keinen Sinn, jetzt zu diskutieren, wo man noch schärfere Maßnahmen an der Vordertür des Hauses ergreifen kann, wenn man links und rechts alles offen hat.
Armbrüster: Herr Kekulé, dann würde ich zum Schluss ganz gerne noch mal auf die Corona-Varianten, die Mutanten zurückkommen. Wie groß ist denn die Wahrscheinlichkeit - Sie haben gesagt, dass dieses Virus ständig neue Variationen bildet, dass sich das ständig verändern kann in die eine oder andere Richtung –, dass wir es möglicherweise in naher Zukunft dann auch mit einem Coronavirus zu tun haben, das möglicherweise noch viel schwerere Krankheitsverläufe verursacht, das an sich noch viel gefährlicher ist für die Menschen?
Kekulé: Das ist extrem gering. Es ist so, dass die Viren ja immer ihren Wirt schützen wollen, weil sie sich dann besser verbreiten können. Das heißt, die Ansteckungsfähigkeit steigt, die Gefährlichkeit sinkt. Das ist eigentlich der Klassiker. Wir haben keine Ausnahme bei den Viren, die wir bisher kennen, und es sieht auch hier nicht nach einer Ausnahme aus.
Wir haben allerdings natürlich die eine Gefahr. das muss man ganz klar sagen. In Südamerika gibt es eine Variante, die ganz ähnlich ist wie die britische, aber zusätzlich den Effekt hat, dass man, wenn man schon mal infiziert war mit der alten Version, dass man dann mit der neuen Version sich noch mal anstecken kann – wahrscheinlich mit schwächeren Symptomen. Aber wir nennen das dann "Immunescape" und das könnte auch zur Folge haben, dass der Impfstoff dann nicht mehr so gut wirkt. Das heißt, wir müssen jetzt schnell impfen, bevor diese ganz neuen Varianten kommen, die nicht nur ansteckender sind, sondern auch das Immunsystem austricksen können. Aber trotzdem ist es so: Wenn wir das, was wir hier schon immer beschlossen haben in Deutschland, konsequent durchziehen, jetzt vielleicht noch mal zwei Wochen den Lockdown verlängern – jetzt von der Bremse zu gehen, wäre natürlich sehr ungeschickt in einer Situation, wo ein etwas ansteckenderes Virus im Anmarsch ist –, aber wenn wir das konsequent durchziehen, dann dürfen wir uns da nicht aus der Ruhe bringen lassen und nicht vor allem zu Aktionismus verleiten lassen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.