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Virologe über Corona-Mutanten
"B.1.1.7 auf dem Weg zur dominierenden Variante"

Deutschland diskutiert über Lockerungen des Lockdowns, zugleich steigen die Infektionszahlen wieder an. Für den weiteren Pandemieverlauf werden die neuen Virusvarianten eine entscheidende Rolle spielen, sagte der Virologe Marco Binder im Dlf. Die Erfahrungen aus Großbritannien seien jedoch positiv.

Marco Binder im Gespräch mit Lennart Pyritz |
AUSTRIA - VIENNA - HEALTH - VIRUS - LABORATORY ÖSTERREICH WIEN 20201215 Corona Virus Covid-19 Proben in einem Laborgerät , fotografiert in Wien am 15 Dezember 2020. Die Lifebrain Group hat heute das, nach eigenen Angaben modernste und grösste PCR und Antigentest Labor in Österreich mit einer Kapazität von 30 000 Proben am Tag, eröffnet. /// AUSTRIA VIENNA 20201215 Corona virus Covid-19 samples in a laboratory device, photographed in Vienna on December 15, 2020. The Lifebrain Group has what it claims to be the most modern and largest PCR and antigen test laboratory in Austria with a capacity of 30,000 rehearsals on the day. *** AUSTRIA VIENNA HEALTH VIRUS LABORATORY AUSTRIA VIENNA 20201215 Corona virus Covid 19 samples in PUBLICATIONxNOTxINxAUT
Inzwischen bleibe kaum eine Variante des Coronavirus unentdeckt, so Virologe Marco Binder (IMAGO / Alex Halada)
Die Infektionszahlen steigen in Deutschland wieder leicht, der angestrebte Inzidenzwert von 35 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner in sieben Tagen liegt in weiter Ferne. Dennoch werden Lockerungen der aktuellen Lockdown-Maßnahmen intensiv diskutiert. Gleichzeitig warnen Wissenschaftler vor einer dritten Welle, die vor allem von neuen Varianten des Coronavirus getragen werden könnte.
Bisher, so der Virologe Marco Binder vom Deutschen Krebsforschungszentrum, habe sich alles bestätigt, was die Forschung über die Verbreitung der britischen Mutante B.1.1.7 prognostiziert habe. Diese Variante sei "auf dem allerbesten Weg, zur dominierenden Variante des Virus auch bei uns in Deutschland zu werden".
Damit steige auch das Risiko einer dritten Welle, so Binder. Erfreulich sei, dass in Großbritannien B.1.1.7 mit den üblichen Instrumentarien wie Kontaktbeschränkungen oder dem Verbot von Veranstaltungen unter Kontrolle gebracht worden sei: "Dieses Instrumentarium reicht offensichtlich aus. Wir müssen nicht qualitativ etwas ändern."
Sollte es zu einer dritten Welle kommen, so Binder weiter, müsse man allerdings trotz Öffnungen umso stärker drauf achten, dass Hygieneregeln disziplinierter durchgeführt werden, "sonst wird das Fallwachstum schwer zu kontrollieren sein".
Schnelltests hält Binder "für ein mächtiges Werkzeug, um die künftige Entwicklung der Fallzahlen zu kontrollieren". Die Tests müssten einfach und niederschwellig eingesetzt werden, um Infektionen frühzeitig erkennen zu können. Parallel dazu seien selbstverständlich Impfungen eine sehr wichtige Maßnahme, die mit hoher Geschwindigkeit weiter vorangebracht werden müssten.
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Lennart Pyritz: Wie weit verbreitet sind die neuen Corona-Virusvarianten inzwischen in Deutschland?
Marco Binder: Die letzten Zahlen vom RKI in einem fokussierten Bericht stammen vom 17. Februar und da lag die britische Mutante, diese B.1.1.7, bei 22 Prozent und die südafrikanische bei unter einem Prozent. Die brasilianische Variante spielt gar nicht so eine große Rolle bei uns. Das sind eher anekdotische Berichte von Reiserückkehrern.
Aber die Zahlen haben sich in den letzten Tagen, in den letzten zwei Wochen deutlich verändert, und es bestätigt sich einfach alles, was wir geahnt und befürchtet hatten, dass nämlich gerade diese englische Variante sehr auf dem aufsteigenden Ast ist und eine Woche später würden wir schon bei 30 Prozent liegen. Ich hab heute Morgen mit einem Kollegen von einem großen Diagnostiklaborverbund telefoniert, und der sagte mir ganz aktuell und frisch: 44 Prozent britische Mutante und ca. anderthalb Prozent die südafrikanische. Das kann ich nicht als repräsentative Zahl nennen, das war in seinem Laborverbund, der seinen Schwerpunkt hier im Südwesten hat.

"Kaum eine Variante bleibt aktuell unentdeckt"

Pyritz: Wie zuverlässig sind denn diese Zahlen insgesamt gesehen, gibt es da Ihrer Einschätzung nach noch immer eine hohe Dunkelziffer?
Binder: Ja, da möchte ich vorwegschieben, dass ich selber ja nicht wirklich in der Diagnostik drin bin, aber regelmäßig Rücksprache halte. Für mich stellt es sich so dar, als wäre die Dunkelziffer nicht das wirkliche Problem. Nach allem, was ich mit Bekannten in der Diagnostik bislang in Erfahrung gebracht habe, sieht es wohl so aus, und zwar deutschlandweit und nahezu flächendeckend, dass eigentlich mittlerweile alle positiven Proben direkt per PCR nachtypisiert werden auf diese einzelnen Mutationen und von daher wahrscheinlich kaum eine Variante aktuell unentdeckt bleibt.
Die Vollgenomsequenzierung ist wiederum seltener, wird auch zunehmend häufig gemacht, aber wesentlich schneller und wirklich auch nahezu flächendeckend eben diese Typisierung per PCR-Test.
Pyritz: Durch die Vollgenomsequenzierung könnten dann ganz neue, bisher noch unbekannte Varianten erkannt werden.
Binder: Exakt, das ist der Vorteil und die Wichtigkeit dieser Vollgenomsequenzierung, dieser molekularen Surveillance, die jetzt vom RKI auch aufgesetzt wurde, um ganz neue Varianten oder die Weiterentwicklung von bestehenden Varianten besser und zeitnah beobachten zu können.

"Risiko besteht, dass wir jetzt in eine dritte Welle steuern"

Pyritz: Es ist ganz klar, dass das exponentielle Wachstum insbesondere der Mutation B.1.1.7 wie im Lehrbuch abläuft, das hat Karl Lauterbach gegenüber dem "Spiegel" gesagt. Klar ist, dass sich der Anteil der britischen Variante in den letzten Wochen stark erhöht hat, das haben Sie gerade gesagt, und das geht auch aus den Angaben des RKI hervor. Wie ist denn Ihre Einschätzung, baut sich durch die britische Virusvariante gerade eine dritte Welle auf?
Binder: Es ist auf jeden Fall richtig, dass die britische Variante auf dem allerbesten Weg ist, zur dominierenden Variante des Virus auch bei uns in Deutschland zu werden. Ich hab vor Kurzem mit Frau Eckerle in Genf gesprochen, die sind mittlerweile schon bei fast 100 Prozent der britischen Variante. Ich glaube, das steht außer Frage, das wird bei uns auch noch im März wahrscheinlich so weit sein. Wie sich das zur Gesamtinzidenz verhält, müssen wir auf jeden Fall sehr aufmerksam beobachten. Das Risiko besteht durchaus, dass wir jetzt in eine dritte Welle reinsteuern.
Pyritz: In Großbritannien wurde diese Mutante B.1.1.7 unter Kontrolle gebracht, allerdings mit sehr harten Lockdown-Maßnahmen. Was bedeutet dieser Blick auf Großbritannien für die derzeitigen Diskussionen um Lockerungen in Deutschland vor dem Hintergrund des Anstiegs dieser britischen Mutante auch bei uns?
Binder: Ich tendiere dazu, das erst mal positiv zu sehen, weil es bedeutet, dass das Instrumentarium – das in Großbritannien, in London auch kein anderes war als bei uns, was Kontaktbeschränkungen, Verbot von Veranstaltungen et cetera angeht – dieses Instrumentarium reicht offensichtlich aus. Wir müssen nicht qualitativ etwas ändern.

Hygieneregeln diszipliniert durchführen

Aber Sie sagten ja schon, es wurde in Großbritannien sehr hart durchgesetzt, um dieses explosive Fallwachstum zu unterbrechen. Das bedeutet, wir müssen uns drauf einstellen, wenn sich dieser leichte Anstieg der Gesamtinzidenz, der Meldeinzidenz in den letzten Tagen so fortsetzt und beschleunigt und die Zeichen wirklich auf dritte Welle stehen, werden wir, auch wenn es zu Öffnungen kommt, in all diesen Settings umso disziplinierter drauf achten müssen, dass wir eben all diese Hygieneregeln – Abstand, Maske und in Innenräumen häufig lüften – umso disziplinierter durchführen, weil sonst wird das Fallwachstum schwer zu kontrollieren sein.
Pyritz: Welche anderen Maßnahmen sollten denn eventuelle Lockerungen, die morgen noch beschlossen werden könnten, begleiten? Wie sieht es zum Beispiel mit Schnelltests aus oder mit dem Impfen?
Binder: Diese beiden Stichworte wären auch die, die ich sofort nennen würde. Schnelltests halte ich tatsächlich für ein wirklich mächtiges Werkzeug, um die zukünftige Entwicklung der Fallzahlen zu kontrollieren. Diese Tests müssen einfach und niederschwellig eingesetzt werden, um auch Leute, die nichts von ihrer Ansteckung ahnen, frühzeitig darüber zu informieren, dass sie Virusträger sind. So sind wir in der Lage, Infektionsketten ganz früh im Geschehen zu unterbrechen und die weitere Verbreitung zu verhindern.
Parallel dazu ist selbstverständlich die Impfung eine sehr wichtige Maßnahme, die mit hoher Geschwindigkeit weiter vorangebracht werden muss. Da wäre die gute Nachricht auch, dass die Impfstoffe, die wir aktuell einsetzen in Deutschland, allesamt auch gegen die britische Variante uneingeschränkt wirksam sind und die Infektionen, vor allem den Krankheitsausbruch mit dieser neuen britischen Variante, wirkungsvoll verhindert.

Immunantwort wird von neuen Varianten unterlaufen

Pyritz: Jetzt haben wir über bereits in Deutschland zirkulierende Virusvarianten gesprochen, aus den USA gab es in der vergangenen Woche Berichte über besorgniserregende Mutanten aus New York und Kalifornien. Wie schätzen Sie das Risiko durch diese neuen Varianten ein, müssen wir uns da auch irgendwann drauf einstellen?
Binder: Das ist richtig, da wurden zwei neue Varianten beschrieben, allerdings ist da die Datenlage noch extrem mau, und wir können noch nicht wirklich sehr viel dazu sagen. Besser ist sie vielleicht für die New Yorker Variante und auch etwas besorgniserregender, und da würde ich kurz einmal ausholen müssen und erklären, dass es zwei getrennte Risiken mit diesen ganzen neuen Varianten gibt: Da wäre einmal wie bei der britischen eine verschnellerte Transmission, eine vereinfachte Transmission, das heißt, die Fallzahlen wachsen einfach schneller.
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Aber dann gibt es eben auch noch Varianten wie die südafrikanische oder die brasilianische oder jetzt eben wahrscheinlich auch zum Beispiel die Variante in New York, die nicht nur oder nicht maßgeblich durch eine erleichterte Verbreitung ins Auge fallen, sondern dadurch, dass sie unsere Immunantwort unterlaufen. Das heißt, auch Menschen, die schon mit dem ursprünglichen Virus infiziert waren und einen Immunschutz aufgebaut haben oder eben auch geimpfte Personen, die sind gegen die Ansteckung mit diesen Mutanten nicht mehr zu 100 Prozent oder nicht mehr sehr wirkungsvoll geschützt, und daher rührt die Sorge vor diesen Varianten.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.