Immer mehr große Städte in Deutschland müssen in den Krisenmodus schalten, denn in immer mehr Städten wird die entscheidende Marke von 50 Neuinfektionen, gerechnet auf 100.000 Einwohner, überschritten. Die Folge in einigen Bundesländern: Beherbergungsverbote, Sperrstunden, Maskenpflicht im Freien. Viele Experten kritisieren inzwischen allen voran die Beherbergungsverbote als vollkommen überzogen. Auch der Virologe Jonas Schmidt-Chanasit vom Hamburger Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin sieht darin keinen Nutzen. Er sehe nicht, dass man dadurch "oder durch das Tragen von Masken im öffentlichen Raum hier entscheidend dazu beitragen wird, den Verlauf dieser Infektionszahlen zu reduzieren".
Jörg Münchenberg: Wie sind die steigenden Infektionszahlen hierzulande aus Sicht des Virologen zu bewerten?
Jonas Schmidt-Chanasit: Es war natürlich ein Stück weit absehbar, weil wir in bestimmten Bereichen gesehen haben, dass sich nicht an die vereinbarten Regelungen gehalten wird. Und dann muss man sich nicht wundern, wenn in dem Fall jetzt erst mal die Anzahl der Testpositiven nach oben geht, und das ist ein frühes Warnsignal. Wir haben noch Glück, dass wir diese Entwicklung noch nicht bei den Hospitalisierungen, bei den schweren Verläufen sehen – in dem Maße, wie wir es bei den Testpositiven sehen. Insofern muss da gegengesteuert werden, ganz klar, um diese – ich muss das jetzt mal wirklich so drastisch sagen – schrecklichen Effekte, die das Virus haben könnte, dass wir wieder vermehrte Todesfälle sehen, dass man das verhindert.
Münchenberg: Aber liegt das wirklich daran, dass sich die Leute, die Menschen immer weniger an die Auflagen halten, oder hat das nicht auch sehr viel mit dem Wetter zu tun, dass man sich automatisch wieder eher in den Räumen aufhält?
Schmidt-Chanasit: Nein, das würde ich absolut nicht so sehen. Sie sehen ja, dass der Anstieg weit vor dieser Wetterveränderung, wenn wir es mal so vorsichtig wollen, begonnen hat, und das lag ganz klar daran, dass Feiern im privaten Raum durchgeführt wurden, sich dort nicht an Regeln gehalten wurde, es auch zu Superspreading-Events gekommen ist. Insofern war das hier auch zielgerichtet und verhältnismäßig, diese Feiern deutlich einzuschränken. Das ist nachvollziehbar. Ich glaube, das wird auch in der Bevölkerung so mitgetragen. Aber man muss jetzt, glaube ich, nicht etwas neu erfinden. Es ist jetzt nicht irgendwie plötzlich etwas vom Himmel gefallen, was unerwartet gewesen ist, sondern es geht letztendlich darum, die bestehenden Regeln, die sehr gut sind, konsequent umzusetzen und auch durchzusetzen, und daran hat es gemangelt in bestimmten Bereichen.
"Hätte die bestehenden Maßnahmen einfach konsequent durchsetzen müssen"
Münchenberg: Herr Schmidt-Chanasit, darf ich da vielleicht kurz einhaken? Es ist ja nicht so, dass jetzt immer die gleichen Regeln gelten, sondern sie werden ja ständig angepasst. Es gibt große regionale Unterschiede. Ich nenne mal Alkoholverbote, Sperrstunden, Maskenpflicht in Fußgängerzonen, das Beherbergungsverbot. Ist es nicht automatisch so, dass man vielleicht einfach inzwischen die Übersicht vollkommen verloren hat, was eigentlich gilt?
Schmidt-Chanasit: Ja! Aber genau das habe ich damit kritisiert. Das sind jetzt die neuen Maßnahmen, die kommen sollen oder schon beschlossen sind. Meines Erachtens sind viele Maßnahmen dabei, die weder zielgerichtet, noch verhältnismäßig sind. Und ich kann es nur noch mal betonen: Es ist jetzt hier nicht irgendwas unerwartet vom Himmel gefallen, sondern man hätte die bestehenden Maßnahmen einfach konsequent durchsetzen müssen und da quasi zielgerichtet hineingehen können, stärker kontrollieren. In Hamburg ist das zum Beispiel gemacht worden. Da wurden auch Bars konsequent geschlossen und auch die Einhaltung der bestehenden Regelungen überprüft. Aber das kann man noch verstärken.
Aber ich sehe jetzt nicht – und das haben Sie letztendlich auch kritisiert -, dass man jetzt durch ein Beherbergungsverbot oder durch das Tragen von Masken im öffentlichen Raum hier entscheidend dazu beitragen wird, den Verlauf dieser Infektionszahlen zu reduzieren.
Aber ich sehe jetzt nicht – und das haben Sie letztendlich auch kritisiert -, dass man jetzt durch ein Beherbergungsverbot oder durch das Tragen von Masken im öffentlichen Raum hier entscheidend dazu beitragen wird, den Verlauf dieser Infektionszahlen zu reduzieren.
Münchenberg: Wenn Sie sagen, man hätte viel mehr darauf achten müssen, die bestehenden Regeln einzuhalten, haben da vielleicht auch die Behörden, die Gesundheitsämter oder auch die Behörden, die die Einhaltung von Regeln überwachen müssen, ein Stück weit nicht versagt, aber doch nicht genau hingeschaut?
Schmidt-Chanasit: Ich glaube, das kann man so pauschal nicht sagen. Hier geht es ja immer um Kapazitäten und ich glaube, gerade in den Gesundheitsämtern weiß ich es auch, dass die Kollegen ja Tag und Nacht dafür arbeiten, die Infektionsketten zu unterbrechen und nachzuvollziehen. Da bitte überhaupt gar kein Vorwurf. Die brauchen einfach Unterstützung und das ist wiederum ein positiver Aspekt, dass das auch besprochen wurde, dass die Bundeswehr helfen soll, dass der Bundesgrenzschutz helfen soll. Das ist genau zielgerichtet und auch verhältnismäßig, weil einfach die Maßnahmen durchgesetzt werden müssen.
Aber das ist nur eine Seite der Medaille. Ich glaube, längerfristig bringen jetzt Verbote alleine nicht den Durchbruch, sondern man muss immer die zweite Seite sehen und gleichzeitig auch Angebote machen, Angebote an junge Leute. Die können dann bestimmte Veranstaltungen unter Wahrung von Hygieneschutz stattfinden und da ist meines Erachtens zu wenig passiert. Verbote ist ein einfaches Mittel, da muss man sich nicht viele Gedanken machen. Aber kluge Konzepte zu entwickeln, wie etwas möglich ist, da braucht es schon Entschlossenheit und auch mal ein paar Gedanken. Ich glaube, da kann man auch noch deutlich mehr machen auf dieser Seite.
"Hier gehen wichtige Testkapazitäten verloren"
Münchenberg: Konkret die Frage an Sie als Virologe. Was geht denn überhaupt noch zum Beispiel an Feierlichkeiten für Jugendliche?
Schmidt-Chanasit: Das ist regional sehr unterschiedlich. Noch mal: Das hängt damit zusammen, wie viele Leute zusammenkommen wollen, in welchem Zeitrahmen die zusammenkommen wollen und wie das Infektionsgeschehen vor Ort ist. Daran kann man bestimmte Hygienekonzepte festmachen. Dass das möglich ist, haben Veranstaltungen gezeigt. Es ging aber immer darum, auch die Hygienekonzepte umzusetzen. Wenn Sie zum Beispiel eine bestimmte Personengruppe mit dem PCR-Test negativ testen, dann ist es überhaupt kein Problem, dass diese Personengruppe für einen gewissen Zeitraum zusammenkommt, auch mal feiern kann. Das kann man als Pilotprojekt durchaus mal realisieren und schauen, wie sich das auch organisatorisch umsetzen lässt. Und das ist allemal besser, als dass so was in der Illegalität stattfindet, so wie wir es in Berlin gesehen haben, dass sich in den Parks getroffen wird. Dann hat man quasi ein Ventil geschaffen, wo so etwas ohne Gefährdung der vulnerablen Population stattfinden kann. Ich glaube, daran hätte man noch viel stärker arbeiten müssen.
Münchenberg: Sie haben das Beherbergungsverbot schon angesprochen. Das gilt jetzt fast in allen Bundesländern und gerade zu den Herbstferien. Das Argument dafür ist, dass man sagt, Reisen trägt das Virus weiter. Wie sehen Sie das?
Schmidt-Chanasit: Ich halte das für vollkommen realitätsfremd. Wer will das kontrollieren? Wer will das durchsetzen? Hier gehen wichtige Testkapazitäten verloren, wenn sich eine Familie, die einfach zwei Wochen in ihr Ferienhaus an die Ostsee fahren will, noch mal in die Praxis begeben muss oder ins Testzentrum, wohin eigentlich die Kranken sollen und Priorität haben sollten. Das ist einfach nicht zielführend und ich glaube, insofern sollte dieses Beherbergungsverbot auch nicht umgesetzt werden.
Münchenberg: Wenn man es mal ein bisschen zuspitzen würde in der Formulierung, könnte man schon sagen, die Politik hat vielleicht nicht genug gelernt, obwohl man jetzt schon viel Erfahrung mit Corona hat?
Schmidt-Chanasit: Ich glaube, der Grundsatz zielgerichtet und verhältnismäßig ist der Politik schon sehr wohl bekannt, was dann aber letztendlich zu diesen Maßnahmen geführt hat, oder zur Planung dieser Maßnahmen. Wenn wir mal gucken, ob das jetzt wirklich auch noch umgesetzt wird, nachdem sich die Ministerpräsidenten getroffen haben, bleibt abzuwarten. Aber wie gesagt: Ich glaube, vielen Politikern ist schon klar, dass die Maßnahmen zielgerichtet und verhältnismäßig sein müssen, weil es sonst einfach zu einer Corona-Müdigkeit kommt und auch zu einem Unverständnis in der Bevölkerung, und das müssen wir auf jeden Fall vermeiden. Es geht darum, diese Maßnahmen immer gut erklären zu können. Das ist jedem klar gewesen, als es darum ging, die Familienfeiern, die Anzahl der Personen, die daran teilnehmen können, zu beschränken, auch im öffentlichen Raum. Ich glaube, da haben alle Bürgerinnen und Bürger das sehr, sehr gut verstanden, weil das wirklich ein Treiber gewesen ist, weil da die meisten Infektionen aufgetreten sind. Hätte man jetzt gesagt, jetzt wollen wir das aber auch konsequent umsetzen und nehmen da auch noch die Bundespolizei zur Hilfe, verstärken die Ordnungsämter, können dort gezielt auch das Bußgeld zum Beispiel erhöhen, ich glaube, das wäre nachvollziehbar gewesen. Aber noch mal: Auch die zweite Seite, gleichzeitig auch ein Angebot machen, auch an die Betreiber von Bars und Restaurants, wie sie mit großer Sicherheit, mit guten Hygienekonzepten auch solche Veranstaltungen umsetzen können.
"Viele Gesundheitsämter stoßen an ihre Kapazitätsgrenzen"
Münchenberg: Herr Schmidt-Chanasit, noch eine letzte Frage. Die Gesundheitsämter spielen ja bei der Nachverfolgung eine wichtige zentrale Rolle. Haben die aber überhaupt noch die Lage im Griff? Es heißt ja inzwischen, viele Infektionsquellen lassen sich nicht mehr nachverfolgen.
Schmidt-Chanasit: Das ist regional auch sehr unterschiedlich. Sie kennen die Gesundheitsämter in den Städten. Da haben wir sehr, sehr große Gesundheitsämter. Auf dem Land sieht das deutlich schlechter aus. Insofern müssen wir da wirklich schauen, was hat die Infektionen hervorgerufen, ist das ein Cluster-Geschehen oder ist das in der Fläche verteilt. Dann ist das eine wesentlich schwierigere Aufgabe für die Gesundheitsämter, die einzelnen Kontakte nachzuverfolgen, als wenn es sich um eine homogene Gruppe handelt, zum Beispiel eine große Hochzeitsgesellschaft. Da muss man ganz genau hinschauen. Aber ich gebe Ihnen recht: Viele Gesundheitsämter stoßen an ihre Kapazitätsgrenzen. Insofern ist es ganz wichtig, hier diese Arbeit zu unterstützen, und ich finde die Idee hervorragend, dass auch der Sanitätsdienst der Bundeswehr dort unterstützt.
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