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Virtuell wird Realität
Eine Nischentechnik wird massentauglich

Spätestens seit der Gamescom im Sommer sind VR-Brillen en vogue. Gerade die Spielehersteller sehen in der Virtuellen Realität eine rosige Zukunft. Allerdings ist für ein ungetrübtes VR-Erlebnis hohe Rechenleistung vonnöten. Und unser Gehirn hat Probleme, den Widerspruch zwischen virtueller und realer Welt zu verarbeiten.

Von Maximilian Schönherr |
    Besucher der Gamescom 2016 in Köln tragen VR-Brillen. 17.8.2016
    Virtual-Reality-Spieler bei der Gamescom 2016 in Köln. Die Technik ist inzwischen so weit, dass sie nun auch Einzug in private Haushalte hält (picture alliance/dpa/Oliver Berg)
    Manfred Kloiber: Was am normalen Computer-Bildschirm oder auf der Glotze im Wohnzimmer schon ganz schön mitreißend sein kann, das wird im künstlichen 3D-Raum noch viel dramatischer. Viel dramatischer, Maximilian Schönherr?
    Maximilian Schönherr: Viel dramatischer. Man konnte sich in ein abstraktes Spiel wie Tetris auf dem Gameboy hineinfühlen und zu schwitzen anfangen, wenn wieder ein Vierer von oben runterfällt, man aber keinen Platz mehr hat. Wenn man Tetris in VR spielt, guckt man tatsächlich nach oben, und da wird einem ganz anders, wenn ein Klotz auf den Kopf fällt. Das Stichwort dafür ist Immersion - Eintauchen. Die Eintauchtiefe in VR ist bei Weitem heftiger als alles, was wir bisher kennen.
    Kloiber: Auch wenn Computerspiele der Motor für den aktuellen Boom von VR sind - es stürzen sich zurzeit Industrie, Werbebranche und die Wissenschaft auf die erschwinglich und performant gewordene Technologie. Ein kurzer Überblick:

    Virtual Reality hält erst seit 2016 Einzug in die Haushalte
    Der Begriff "Virtuelle Realität" geht auf die 1930er Jahre zurück. Der französische Autor und Bühnenregisseur Antonin Artaud bezeichnete die Illusion, das Theater sei das wirkliche Leben, als "réalité virtuelle". Mit den frühen Supercomputern kamen VR-Anwendungen in die Großindustrie und Forschung.
    Erst in diesem Jahr, 2016, kommt die Virtuelle Realität in den Haushalten an. Florian Wögerer entwickelt VR-Anwendungen für Möbel- und Autohersteller. Diese Programme, bei denen der Kunde tief in einen künstlichen 3D-Raum eintaucht, verlangen so genannte VR-Brillen:
    "Wir haben die Samsung Gear auf der rechten Seite, hier die Oculus und die HTC Vive. Am offensten sind die Jungs von HTC Vive. Von der Technologie her sind die alle sehr ähnlich."
    Sie besitzen Sensoren, die die Position und Neigung des Kopfs feststellen, und liefern dem Betrachter über zwei Linsen ein räumliches Bild. Geht in der VR-Welt rechts die Sonne auf, wird sie den Betrachter blenden, wenn er seinen Kopf tatsächlich nach rechts dreht.
    Florian Wögerer samt VR-Equipment
    Florian Wögerer samt VR-Equipment (Maximilian Schönherr)
    Smartphones sind ein Flaschenhals bei Virtual Reality
    Wie präzise diese Brillen die Kopfbewegung interpretieren, schlägt sich im Preis nieder. In die billigsten VR-Brillen wie "Google Cardboard" oder "Samsung Gear" steckt man vorne das Smartphone ein. Florian Wögerer:
    "Es ist halt immer noch ein Handy. Das heißt, die ganze Auflösung, die auf dem Handydisplay drauf ist, kommt nicht wirklich ins Auge. Wenn wir eine Experience für die HTC Vive entwickeln, dann holen wir uns einen Desktop-Rechner, also auch keinen Laptop, sondern einen großen Desktop-Rechner mit der neuesten Grafikkarte. Da kostet die Grafikkarte alleine um die 1000 Euro oder mehr. Die Leistung des Rechners ist dann quasi die Limitation davon. Das heißt, auf den Handys kann man zwar sehr schöne Sachen machen, aber da ist das Handy quasi der Bottleneck dahinter."
    Also der Flaschenhals, der die Leistung stark einschränkt. Sony hat für die Playstation kürzlich eine VR-Brille herausgebracht, die ähnlich wie die HTC Vive mit Kameratechnologie die Position des Spielers im Raum erkennt und so das VR-Erlebnis natürlicher gestaltet. Zudem gibt es Controller, die man in die Hand nimmt und damit im virtuellen Raum Ziele markieren kann. Auch diese Geräte müssen exakt lokalisiert werden, damit der Anwender nicht das Gefühl hat, sie schwimmen irgendwo herum. Florian Wögerer:
    "Langsam kommen auch 360-Grad-Kameras auf den Markt, die Filme und Fotos aufnehmen können. Vor ein paar Jahren hat man sich da eher eigene Racks gebaut, wo man Gopro-Kameras, acht Stück, 16 Stück, je nachdem, sich quasi selbst zusammengesteckt und die dann über eine Stitching-Software zusammengepackt hat."
    Bei "Augmented VR" werden reale Objekte in die virtuelle Realität übernommen
    Stitching ist das Zusammennähen von mehreren Einzelbildern oder Filmen zu einem Rundumbild. Die ersten 360-Grad-Kameras, die jetzt auf den Markt kamen, erledigen das selbst:
    "Eine Erweiterung von VR ist 'Augmented VR', so nenne ich es mal. Da mischt man die richtige Welt mit der VR-Welt. Sprich: Sachen, die ich in VR sehe, existieren dann auch teilweise in der richtigen Welt. Also, ich sehe jetzt einen Tisch vor mir, kann den anfassen, und die Haptik, die ich dann in VR habe - normalerweise greife ich ja ins Nichts - würde dann ein reelles Objekt auch mit einnehmen. Und ich kann mich auch hinsetzen, dadurch dass man den Stuhl, den es in VR gibt, auch in der Realität trackt."
    Virtuelle Realität ist im Kommen und nicht mehr aufzuhalten.

    Reale 3D-Welten mittels 360-Grad-Kamera
    Wissenschaftsjournalist Maximilian Schönherr im Gespräch mit Manfred Kloiber
    Manfred Kloiber: Maximilian, lassen Sie uns mal in die Praxis sehen. Man kann künstliche 3D-Welten bauen und die Leute darin herumgehen lassen. Man kann aber auch reale 360-Grad-Filme drehen, die sich der Anwender dann ansieht und - eben anders als im Kino - mittendrin ist, sich umgucken kann und so weiter. Was geht wie?
    Maximilian Schönherr: Ich habe mit beidem Erfahrungen gesammelt. Die gängigen 3D-Computerprogramme, wie sie Pixar fürs Kino oder Architekten zur Visualisierung einsetzen, unterstützen VR. Das heißt, wenn ich ein Dorf im Rechner baue und einen digitalen Hund darin herumlaufen lasse, kann ich das stereoskopisch herausrechnen lassen; man spricht vom 3D-Rendern.
    Das andere Szenario: Ich war auf den Azoren und habe an einem Kraterrand die schnell über dem Vulkan hinwegziehenden Nebelschwaden gefilmt, und zwar zur Betrachtung mit einer VR-Brille. Ich hatte mir dafür eine Tennisball-große 360-Grad-Kamera besorgt (rund 400 Euro), die zwei Fischaugenlinsen hat, eine vorn, eine hinten, und die Szenerie direkt für die Projektion in der VR-Brille vorbereitet. Das ging technisch ausgesprochen problemlos. Die Daten wanderten aus der Kamera über ein lokales WLAN ins Smartphone. Ich klemme das Smartphone vorn in die VR-Brille und fühle mich dann genau an diesem Kraterrand.
    VR-Krankheit: "In unserem Gehirn setzt die Schutzmaßnahme ein: Übelkeit, Kopfschmerz, manchmal sogar Erbrechen"
    Ein älterer Mann fast sich an den Kopf
    Zu viel Zeit in der Virtuellen Realität verbracht? Durch den Widerspruch zwischen VR-Welt und Realität können Übelkeit und Kopfschmerzen auftreten (dpa picture alliance / Stephan Jansen)
    Kloiber: Sie haben mir schon vor einer weile von der VR-Krankheit berichtet, also von Übelkeit und Kopfschmerzen nach solchen VR-Ausflügen. Traten die nicht beim Blick über den Kraterrand nach unten wieder auf?
    Schönherr: So stark sogar, dass ich den Film seitdem nicht mehr angesehen habe. Ich habe viel ausprobiert und kam schnell darauf, dass alles, wo es tief hinunter geht, Gift für das VR-Erlebnis ist. Wir saßen zum Beispiel zu viert an einem Tisch und tranken Kaffee. Da würde ich heute die Kamera in die Tischmitte stellen, nicht an den Rand. Denn den Rand spürt der Betrachter sofort als Bedrohung. Und ich persönlich habe keine Höhenangst.
    Das heißt, man muss beim Dreh von 3D-Videos eine völlig neue Dramaturgie einführen. Was im normalen Kinofilm kein Problem macht, nämlich die Kamerafahrt nach hinten, führt in VR rasch zu Übelkeit.
    Kloiber: Gibt es das Problem auch bei künstlichen 3D-Welten und in Computerspielen?
    Schönherr: Sogar noch stärker. Man kann das natürlich auch zur Erzeugung von Spannung einsetzen: Ich höre ein Geräusch von hinten links, drehe den Kopf ganz schnell dahin, und mir gibt dann jemand, der direkt vor mir steht, eins auf die Nase.
    Kloiber: Was Sie natürlich nicht wirklich spüren.
    Schönherr: Aber der Reflex, mit dem Kopf auszuweichen, ist da. Und immer, wenn die Erfahrung - ein Schlag auf den Kopf tut weh - mit dem Erlebten - tut gar nicht weh - im Widerspruch steht, setzt in unserem Gehirn die Schutzmaßnahme ein: Übelkeit, Kopfschmerz, manchmal sogar Erbrechen.
    Kloiber: Und sofort Brille abnehmen.
    Schönherr: Das ist mir so oft passiert, dass ich die Brille gar nicht mehr gern aufsetze, auch für ganz harmlose Anwendungen nicht.
    Der Hardware- und Verkabelungsaufwand ist erheblich
    Kloiber: Das klingt wie das Aus für die Virtuelle Realität.
    Schönherr: Gar nicht. Erstens steht das Genre ganz am Anfang. Und zweitens verderben, wie ich herausfand, die Konsumerbrillen, wo man vorn das Smartphone hineinsteckt, den Geschmack. Diese Brillen kämpfen mit der Performanz. Selbst nicht objektiv wahrnehmbare Verzögerungen zwischen der Kopfbewegung und dem, was man dann sehen soll, führen zwangsläufig zu Übelkeit.
    Die teureren Brillen, ab so 500 Euro, nutzen alle aktives Headtracking (Kopf-Beobachten), setzen richtige Computer ein und liefern eine Bildwechselfrequenz von mindestens 90 pro Sekunde. Damit nimmt die Übelkeit drastisch ab. Auch ein Controller in der Hand hilft.
    Kloiber: Das heißt aber auch, dass das lockere am Strand-Sitzen, mit einer VR-Brille auf der Nase, keine Lösung ist?
    Schönherr: Stimmt. Der Hardware- und Verkabelungsaufwand, selbst bei der Playstation VR-Brille, ist erheblich. Die HTC Vive setzt zudem zwei Laser ein, die sich im Raum gegenüberstehen und erstmal aufgestellt und kalibriert werden müssen.
    Ich sehe die Anwendungen im Moment im Spielebereich, wo die Leute eh kräftige Hardware gewohnt sind, in der Wissenschaft (von Medizin bis Raumfahrt) und in der Industrie. Eine Küche oder einen Neuwagen zu konfigurieren, während man drin sitzt, ist eine Qualität, die durch nichts zu ersetzen ist.
    Kloiber: Virtuelle Realität in der Praxis, Maximilian Schönherr, danke!