Bis vor ein paar Sekunden war ich noch in einem dunklen Raum mitten im County Museum in Los Angeles. Als ich die Augen wieder öffne, stehe ich mitten in einer Wüste. Es ist Nacht, ich sehe, wie sich eine Gruppe Menschen in meine Richtung bewegt. Eine Frau scheint verletzt, auf Spanisch ruft sie um Hilfe. Ein kleines Mädchen weint. Der Sand unter meinen Füßen ist grob und steinig, ein leichter Wind weht.
Schon die ersten Sekunden der virtuellen Ausstellung fesseln mich. Ich vergesse, dass ich eine riesige Virtual-Reality-Brille trage. "Carne y Arena", übersetzt "Fleisch und Sand", heißt die virtuelle Ausstellung des mexikanischen Regisseurs Alejandro González Iñárritu. Die Geschichte basiert auf Gesprächen, die er mit Menschen geführt hat, die über die Grenze von Mexiko in die USA geflüchtet sind:
"Jeder Satz, jede einzelne Geschichte war tief bewegend. Die Menschen waren bereit, ihr Leben zu riskieren, auch das ihrer Kinder."
Das erläutert der Regisseur bei seiner Dankesrede vor der Oscar Academy. Für seine Installation hatte er einen Ehren-Oscar erhalten.
Die Geschichte ist körperlich zu spüren
Bereits in seinem Film "Babel" hatte Iñárritu das Thema Flucht aufgegriffen. Mit "Fleisch und Sand" will er den Zuschauer aus seiner beobachtenden Position locken, ihn mittenhinein holen und damit auch herausfordern. Anders als in Computerspielen, die mit einer Virtual-Reality-Brille gespielt werden, sorgt Iñárritu dafür, dass wir seine Geschichte körperlich spüren können. Im Vorraum der Ausstellung muss ich meine Schuhe und Strümpfe ausziehen, ich bin in einem eiskalten Raum und friere. Der Raum ist dem als "Eisschrank" bekannten Hafträumen für Flüchtlinge nachempfunden, die es entlang der Grenze gibt. Im Ausstellungsraum sorgt ein Gebläse und heftiger Sound dafür, dass ich den Hubschrauber, der über mir und den Flüchtenden kreist, wirklich fühle.
"Unsere Intention war, einen der ältesten Konflikte der Menschheit mit der neusten Technik zu erzählen. Ich bin nicht an Technik interessiert, die uns aus der Realität flüchten lässt, sondern die uns einen Teil unserer komplexen Realität zeigt", so Iñárritu.
Eine Grenzkontrolle taucht auf einmal auf, es gibt Geschrei. Die Beamten schüchtern sogar mich ein. Als Besucher kann ich mich aber entscheiden: Will ich mich zu den Flüchtenden stellen? Will ich den Grenzbeamten ins Gesicht schauen oder mich umdrehen und das Ganze ignorieren? Ich entscheide mich, zur Seite zu gehen, das Geschehen von etwas weiter weg zu beobachten. Die Männer müssen auf die Knie. Dann beginnt eine Traumsequenz, ein Tisch erscheint, verwandelt sich in ein Boot. Der Traum von einem besseren Leben, den sich viele der lateinamerikanischen Einwanderer erhoffen.
Ein starkes Beispiel dafür, dass VR Kunst sein kann
Knapp sieben Minuten dauert das virtuelle Erlebnis. Ich empfinde es als emotional aufwühlend - man kann sich den Protagonisten nicht entziehen. Empathie zu wecken ist natürlich eine Absicht des Regisseurs. Es ist gleichzeitig ein politisches Statement, hier in Kalifornien an der Grenze zu Mexiko. Auch hier will Trump seine Mauer bauen lassen, nirgends gibt es so viele lateinamerikanische Einwanderer wie in Kalifornien.
Wer weiß, vielleicht wird in einigen Jahren bei den Oscars auch die Kategorie "Virtuelle Realität" vergeben? Die Ausstellung ist zumindest ein starkes Beispiel dafür, dass VR eine eigene Kunstform sein kann. Für Iñárritu ist die virtuelle Realität eine Chance für das Hier und Jetzt und gleichzeitig der Weg in die Zukunft:
"Wir stehen Anfang einer neuen Kunstform, deren Sprache und visuelle Grammatik wir noch verstehen müssen. Doch die nächste Generation wird diese erkunden und uns in neue Welten entführen können."
Die VR-Installation "Carne y Arena" war bis Januar 2018 in der Fondazione Prada in Mailand zu sehen und kann derzeit im Los Angeles County Museum of Art besucht werden.