Benjamin Arnfred reicht mir eine VR-Brille, Kopfhörer und eine kleine Fernbedienung. Der Psychologe arbeitet in Dänemark, am staatlichen Zentrum für mentale Gesundheit. Dort leitet er eine Studie namens "SO REAL", in der untersucht wird, wie effektiv sich soziale Phobien mit einer Konfrontationstherapie im virtuellen Raum behandeln lassen.
Mit der Brille vor den Augen und der Fernbedienung in der Hand starte ich die erste Szene. Ich stehe an der Kasse eines Supermarktes. Vor mir sitzt eine genervte Verkäuferin, sie sagt etwas auf Dänisch. Ich drehe mich nach links und sehe einen großen blonden Mann. Er steht hinter mir in der Schlange und redet laut auf mich ein. Dazu gestikuliert er wild mit den Händen. Obwohl er Dänisch spricht und ich kein Wort verstehe, ist mir klar, dass er sich über mich ärgert.
Die Idee hinter der Szene: Es ist Hochbetrieb im Supermarkt, und ich merke erst an der Kasse, dass ich mein Geld vergessen habe. Eine Situation, die sicher niemand angenehm findet. Für viele Patienten und Patientinnen mit einer sozialen Phobie ist sie aber ein wahrer Alptraum. Sie fürchten sich vor öffentlicher Aufmerksamkeit und Kritik:
"Die Szene, die du gerade gesehen hast, ist eine der stressigsten überhaupt. Aber Supermärkte sind wirklich wichtig. Man braucht sie zum Überleben. Und wenn man zu viel Angst hat, um hinzugehen, ist das ein echtes Problem."
Konfrontation als Teil der Therapie
Dass man sich den gefürchteten Situationen stellt, ist einer der Hauptbestandteile in der Therapie sozialer Phobien. Üblicherweise begleiteten Therapeutinnen und Therapeuten die Betroffenen einmal pro Woche bei einer solchen Konfrontation, komplett analog, im realen Leben.
Um zu testen, wie sich Konfrontationen in der virtuellen Realität auf die Betroffenen auswirken, vergleicht Arnfred in seiner Studie zwei Gruppen. 302 Patienten und Patientinnen mit einer sozialen Phobie bekommen eine 14-wöchige Gruppentherapie. Acht Sitzungen beinhalten Konfrontationen. Die Hälfte der Patienten erlebt diese virtuell, die andere Hälfte real.
Ergebnisse gibt es zwar noch nicht, weil die Studie noch läuft. Aber Benjamin Arnfred ist trotzdem schon von den Vorteilen der virtuellen Realität überzeugt:
"Es gibt einem mehr Flexibilität. Man kann Situationen üben, die sonst schwer nachzustellen sind. Zum Beispiel auf eine Party gehen, an einem wichtigen Meeting teilnehmen oder zu spät zu einer Vorlesung zu kommen."
Auch Small-Talk in der Mensa und das Halten eines Vortrags zählen zu den bereits programmierten Szenarien. Die Auswahl der Settings beruht auf einem Standardwerk zu sozialen Phobien, sowie einer gezielten Befragung von Betroffenen und Behandelnden. Die verschiedenen VR-Szenen, also zum Beispiel der Streit an der Supermarktkasse, wurden dann mit Schauspielern und Schauspielerinnen gefilmt.
Konfrontative VR-Szene mit Happy End
Neben einer größeren Flexibilität bei der Auswahl der Konfrontationen hat Virtual Reality weitere Vorzüge. So kann zum Beispiel der Stress-Level einer Situation im den Verlauf der Therapie stufenweise gesteigert werden.
Als Nächstes teste ich das Meeting-Szenario, in dem ich einer Gruppe von Männern, die um einen Tisch sitzen, etwas vortragen soll. Menschen mit einer sozialen Phobie fürchten sich in solchen Situationen vor einem Blackout, oder davor, angeschrien zu werden. Und genau das passiert in der Szene, die ich anschaue: Bei meiner Power-Point-Präsentation streikt der Computer. Die Anwesenden schütteln den Kopf und schauen mich erwartungsvoll an. Einer steht auf und kommt auf mich zu. Er ist groß, trägt einen Anzug und hat eine Glatze. Der Mann staucht mich auf Dänisch zusammen. Dann verlassen er und die anderen den Raum. Zurück bleibt nur ein Kollege. Er sitzt in der Ecke auf einem Stuhl, schaut mich besorgt an und sagt dann, dass sich der fiese Kollege unmöglich benommen hat.
Der Abschluss der Szene soll als Deeskalation wirken. Ein weiterer Vorteil, den die virtuelle Realität bietet. Der verbliebene Kollege kritisiert mich nicht, er tröstet und bestärkt mich. So sollen die Betroffenen lernen, dass manche Reaktionen von Mitmenschen einfach unangemessen sind. Und das man sich nicht jeden Schuh anziehen muss.
Therapie zur Vorbereitung aufs echte Leben
Wirklich handeln oder mit anderen interagieren kann man in den virtuellen Stresssituationen bisher nicht. Auch deshalb sollen die Betroffenen zwischen den wöchentlichen Therapiesitzungen jeden Tag selbst kleinere Konfrontationen üben. Im echten Leben. Benjamin Arnfred glaubt, dass die VR-Therapie sie dafür gut vorbereitet:
"Im letzten Film, den du gesehen hast, wurdest du ziemlich angeschrien. Davor fürchten sich die Leute. Normalerweise soll Konfrontationstherapie den Betroffenen eigentlich zeigen, dass ihre Ängste unbegründet sind. Aber manchmal hilft es auch, das Schlimmste was passieren kann, tatsächlich passieren zu lassen und zu sehen: Du überlebst es."
Mehrere kleinere Studien konnten bereits nachweisen, dass die virtuell unterstützte Konfrontationstherapie effektiv ist. Die "SO REAL"-Studie, deren Pilotphase gerade läuft, ist laut Benjamin Arnfred aber die bislang größte, kontrollierte und randomisierte Studie, die sich mit dem Thema beschäftigt.