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Virtuose Bläsermusik aus Renaissance und Barock
Kavaliere auf dem Zink

Vor 400 Jahren nannte man die Bläser-Virtuosen auf dem Zink (Cornetto) in einem Atemzug mit den besten Geigern. Andrea Inghisciano und Lambert Colson, zwei heutige Star-Zinkenisten, präsentieren die lange vergessene Kunst des Cornetto-Spiels jetzt in eindrucksvollen CD-Programmen.

Am Mikrofon: Bernd Heyder |
    das Bild ist zweigeteilt, auf der linken und auf der rechten Seite sind Bläser dargestellt, die auf einem leicht gebogenen dunklen Holzblasinstrument spielen. Der linke Musiker trägt ein dunkles Jacket, der Musiker auf der rechten Seite ein weißes Hemd und Bart. Beide haben dunkle kurze Haare.
    Eine neue Generation hochvirtuoser Holzbläser auf historischen Instrumenten: Andrea Inghisciano (li) und Lambert Colson (Privat / Cici Olsson)
    Musik: Aurelio Virgiliano – Ricercata per flauto, cornetto, violino, traversa e simili
    Der Klang erinnert an eine Trompete oder ein Horn, vielleicht auch an ein Altsaxophon. Doch Andrea Inghisciano spielt diese Solo-Ricercata von Aurelio Virgiliano aus der Zeit um 1600 auf einem Cornetto. Das heißt wörtlich "kleines Horn" und wird auf Deutsch auch "Zink" genannt: es ist ein altes Holzblasinstrument mit Grifflöchern wie bei einer Blockflöte. Die Trichterform des Mundstücks aus Holz oder Elfenbein erinnert wiederum an Blechbläser.
    Virtuose Solomusik für das Cornetto hat Andrea Inghisciano auf seiner neuen CD "Tempesta di passaggi" zusammengestellt, in der er von María González auf Cembalo und Orgel begleitet wird. Die Aufnahme ist gerade beim Label "Arcana" erschienen.
    Einige Wochen älter ist eine weitere CD, die sich den virtuosen Seiten des Zinks widmet: "Cavalieri imperiali" beim Label "Ricercar" mit Lambert Colson und seinem Ensemble InAlto.
    Diese beiden Plädoyers für ein heute nahezu vergessenes Instrument und seine fast schon wieder avantgardistisch wirkende Musik aus dem 16. und 17. Jahrhundert möchten wir Ihnen heute vorstellen. Am Mikrofon ist Bernd Heyder.
    Musik: Orlando di Lasso – Motette "Concupiscendo concupiscit anima mea"
    Ein Renaissancesatz im erhabenen Blechbläserklang eines Posaunenchores: das ist die eine, ältere Seite des Repertoires für den Zink. Das Instrument spricht in der Höhe wesentlich leichter an als eine Sopranposaune, und der flinke Fingerwechsel über den Grifflöchern ist in der Regel leichter möglich als der Positionswechsel am Posaunenzug.
    Daher waren die traditionellen Stadtpfeifer-Ensembles bis ins 18. Jahrhundert hinein gemischt besetzt mit hohen "Cornetti" und tieferen "Tromboni", wenn sie von den Kirchenemporen und Rathaustürmen herab ihr geistliches Repertoire abbliesen.

    Von der Kirche in die Fürstenkammer

    Lambert Colson und sein Ensemble InAlto beginnen ihre CD in dieser archaischen Klangwelt: mit der Instrumentalfassung einer fünfstimmigen Motette des Münchner Hofkapellmeisters Orlando di Lasso.
    Dann aber wechselt Colson von der Kirche in die Fürstenkammer. Er legt sich ein Renaissance-Madrigal von Cipriano de Rore aufs Notenpult, allerdings in einer besonderen Fassung: Die obere Partie des fünfstimmigen Vokalsatzes hat der Mailänder Multi-Instrumentalist Riccardo Rognoni reichhaltig ausgestaltet; 1594 veröffentlicht er das so in einer speziellen Verzierungslehre für Instrumentalisten. Die restlichen Stimmen übernimmt da – sozusagen im Klavierauszug – ein Cembalo. Hier spielt es Pierre Gallon.
    Musik: Riccardo Rognoni – Diminutionen über "Ancor che col partire" von Cipriano de Rore
    Die Melancholie des italienischen Renaissance-Madrigals schwingt auch in dieser Instrumentalfassung mit, in den grazilen Tongirlanden und den reich schattierten Klängen, die Lambert Colson seinem Zink entlockt.
    An der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert stehen viele derartige Bearbeitungen von Vokalmusik. Das Instrumentalspiel emanzipiert sich vom Gesang: an die Stelle der intensiv deklamierenden Singstimme treten frappierend rasante Läufe und Passagen, rhythmische Variationen und schnelle Tonwiederholungen. Da wird eine ganze Note schon einmal in Zweiunddreißigstel-Figuren aufgefächert. Die damaligen Gesangs- und Instrumentallehren sprechen auch immer wieder davon, dass man die notierten Harmonien mit dissonanten Vorhalten und chromatischen Durchgängen würzt – "blue notes" nannte man so etwas dann später im Jazz.

    Virtuos in den Adelsrang

    So mancher Instrumentalist wird damals zur Berühmtheit, und da stehen die Zinkenisten den Geigern in nichts nach. Ein Star auf dem Zink, um den sich die Adelshäuser rissen, war Luigi Zenobi aus Ancona. Er gastierte in Rom und Ferrara, spielte in der kaiserlichen Hofkapelle vor Maximilian dem Zweiten in Wien und später vor Rudolf dem Zweiten in Prag. Der erhob Zenobi in den Adelsstand, und so ist er als "Il Cavaliere del Cornetto" in die Geschichte eingegangen.
    Die neuen CDs spielen beide darauf an: Lambert Colson hat sein Programm "Cavalieri imperiali" getauft. Kompositionen sind von Zenobi zwar keine überliefert, die hier vorgestellten Werke "stehen aber für die Orte, die er bereiste, und für die Musik, die ihn möglicherweise beeinflusste", heißt es im lesenswerten Booklet-Text.
    "I Cavalieri del Cornetto", so nennen sich Andrea Inghisciano und seine Begleiterin María González als Duo. Sie schöpfen teilweise aus den gleichen Quellen wie Colson, wählen aber oft andere Stücke aus – einzig die gerade gehörten Diminutionen über das Madrigal von De Rore sind auf beiden CDs zu finden.
    Nicht fehlen dürfen Beispiele aus den "Sonate concertate in stil moderno" von Dario Castello, einem wegweisenden Instrumentalisten in Venedig. Hier ist ein Ausschnitt aus der Sonata prima des zweiten Sonatenbandes, der 1644 erschien. Da spielt María González auf der Orgel, und Andrea Inghisciano glänzt auf dem Zink mit heroischen Trompeten-Farben.
    Musik: Dario Castello – Sonata prima a sopran solo
    Für die Pioniere der historischen Aufführungspraxis galt das Spielen auf dem Zink noch als eine kaum zu bewältigende Aufgabe. Virtuos beherrschte das dann erst eine neue Generation von Bläser-Experten, die in den 1980er-Jahren auf den Plan trat: Künstler wie Roland Wilson und Bruce Dickey, die bis heute die Alte-Musik-Szene als Zinkenisten und Ensembleleiter mitprägen. Auf den beiden CDs präsentiert sich nun ihre Schüler-Generation.
    Andrea Inghisciano hat zunächst in Livorno Trompete und Jazz studiert, bevor er an die Schola Cantorum in Basel ging, um sich bei Bruce Dickey zum Zink-Virtuosen ausbilden zu lassen.
    Mit "Tempesta di passaggi" legt er seine erste Solo-CD vor. Er spielt Kopien historischer Cornetti, von denen er einige selbst gebaut hat. Aus seiner Werkstatt stammt beispielsweise der "Cornetto muto", den er in der Aufnahme verwendet, um im Wechsel mit Soloabschnitten von María González am Cembalo Variationen über die volkstümliche Ruggiero-Weise zu spielen.

    "Cornetto muto" ist leise, aber nicht stumm

    Dieser "Stille Zink" ist tiefer gestimmt als die beiden kürzeren Cornetto-Bauarten: der abgerundete gerade Zink und der krumme sechs- oder achtkantige "Cornetto curvo", das Standard-Instrument der Zink-Familie, dessen Korpus mit Pergament oder Leder überzogen ist.
    Die Tasten-Variationen über das Ruggiero-Thema stammen vom römischen Orgelmeister Girolamo Frescobaldi; die Bläser-Soli hat 1635 Annibale Gregori veröffentlicht, er war Zinkenist in Siena.
    Musik: Girolamo Frescobaldi / Annibale Gregori – Capriccio sopra l’Aria di Ruggiero
    Dieser "Cornetto muto" klingt etwas leiser als die anderen Zink-Bauarten, die man auf der CD von Andrea Inghisciano hören kann. So entsteht eine schöne Klangbalance zum Tasteninstrument. Das lässt an eine zeitgenössische Beschreibung zum Spiel des Cavaliere Zenobi denken: Da heißt es 1628, er habe sich auf einem Cembalo mit geschlossenem Deckel begleiten lassen, und doch habe der sanfte Ton seines Zinks den Klang des Cembalos nicht überschattet.
    In der Aufnahme, die in einer kleinen Dorfkirche in der Toskana entstand, ist das Blasinstrument aber doch meist deutlich im Vordergrund. Dabei ist es ebenso hörenswert, mit wieviel Esprit María González begleitet.

    Konzertante Rivalitäten mit der Violine

    Im CD-Programm von Lambert Colson ist die Kombination von Cornetto und Cembalo oder Orgel nur eine von vielen Möglichkeiten, in denen er die Virtuosität seines Instruments vorführt. Colson hat über die Blockflöte zum Zink gefunden; sein Alte-Musik-Studium absolvierte er in Brüssel, Bremen, Basel und Barcelona – auch er ist ein Zink-Schüler von Bruce Dickey. Er lenkt hier den Blick mehrmals auf den heimlichen Wettstreit in der Publikumsgunst, den sich im Frühbarock Zink und Violine lieferten.
    In der "Sonata a quattro detta la Carolietta" des Österreichers Johann Heinrich Schmelzer treten noch Posaune und Dulzian hinzu, eine frühbarocke Form des Fagotts. Da entwickelt sich ein fröhliches Konzertieren über dem munteren Bass.
    Musik: Johann Heinrich Schmelzer – Sonata a quattro detta la Carolietta
    Für einen besonderen Höhepunkt im Wettstreit zwischen Zink und Violine sorgt wiederum der Venezianer Dario Castello. In der "Sonata decima settima" treten zu Lambert Colson und seiner Geigenpartnerin Marie Rouquié als Echostimmen Josué Meléndez Peláez auf dem Zink und Gabriel Grosbard auf der Violine hinzu.
    Die Aufnahmetechnik hat dieses sinnliche Spiel mit dem Raum – einer barocken Pfarrkirche in der Nähe von Lüttich – wunderbar transparent eingefangen.
    Musik: Dario Castello – Sonata decima settima
    Wer hört, welche faszinierenden Klänge und Ausdrucksmöglichkeiten Interpreten wie Lambert Colson und Andrea Inghisciano dem Cornetto entlocken, kann wohl kaum verstehen, dass dieses Instrument im Laufe des 18. Jahrhunderts allmählich von der Bildfläche verschwand. Mittlerweile ist es ja auch wieder zurück und mit ihm sein extravagantes, experimentierfreudiges Sonaten-Repertoire. In Interpretationen wie diesen wirkt es taufrisch.
    Musik: Giovanni Battista Fontana – Sonata quarta
    Wer sich erstmals auf das Repertoire für den Zink einlassen möchte und seine Klangwelt gleich in der ganzen instrumentalen Bandbreite kennenlernen will, dem sei Lambert Colsons CD "Cavalieri imperiali" ans Herz gelegt – mit all dem Farbreichtum verschiedenster Instrumente, auf denen die bis zu dreizehn Musikerinnen und Musiker seines Ensembles InAlto hinreißend spielen.

    Einblick in eine neue Klangwelt

    Wer von den Extravaganzen des Cornetto nicht genug bekommen kann, mag dann weiter in dem Solo-Repertoire schwelgen, das Andrea Inghisciano und María González in allen erdenklichen ornamentalen Formen und Farben aufblühen lassen.
    Auf ihrer CD "Tempesta di passagi" durchlebt man tatsächlich manchen "Passagensturm". Am Ende scheint aber die Sonne, wenn sich das Duo augenzwinkernd verabschiedet: "I spiritillo brando" ist ein fröhlicher Gruß aus dem Jahr 1650, vom damaligen Hofkapellmeister in Neapel, Andrea Falconieri: die "Cavalieri del Cornetto" ziehen weiter ...
    Musik: Andrea Falconieri – I spiritillo brando
    Tempesta di passaggi. Solomusik für Cornetto von Giovanni Pierluigi da Palestrina, Giovanni Battista Fontana, Dario Castello, Cipriano de Rore, Girolamo Frescobaldi, Andrea Gabrieli, Thomas Crecquillon, Adrian Willaert, Luzzasco Luzzaschi u. a.
    I Cavalieri del Cornetto: Andrea Inghisciano (Cornetto), María González (Cembalo, Orgel)
    Arcana A120

    Cavalieri imperiali, Virtuose Cornetti im Barock. Musik von Orlando di Lasso, Cipriano de Rore, Dario Castello, Luzzasco Luzzaschi, Giovanni Valentini, Johann Heinrich Schmelzer, Massimiliano Neri, Vincenzo Ruffo u. a. InAlto, Leitung: Lambert Colson (Cornetto)
    Ricercar RIC 419