Der CDU-Außenpolitiker betonte, das Flüchtlingsabkommen werde eingehalten, "weil es hochvernünftig ist." Allerdings müsse eine Debatte über die geplante Visa-Freiheit für Türken bei Reisen in die EU getrennt davon betrachtet werden. Er mahnte, beide Seiten dürften sich jetzt nicht "emotional überbieten", sondern müssten einen vernünftigen Kompromiss finden.
Die Türkei droht mit einer Aufkündigung des Flüchtlingsabkommens, sollte bis Oktober keine visafreie Einreise türkischer Staatsbürger in die Europäische Union möglich sein.
Das Interview in voller Länge:
Sarah Zerback: Und zugehört hat jetzt gerade am Telefon Karl-Georg Wellmann. Er sitzt für die CDU im Bundestag und ist Mitglied im Auswärtigen Ausschuss. Guten Tag, Herr Wellmann!
Karl-Georg Wellmann: Grüße Sie, Frau Zerback!
Zerback: Wir haben es vorhin in den Nachrichten gehört: Eine Idee der Menschenrechtsbeauftragen der Bundesregierung, von Bärbel Kofler von der SPD, ist jetzt, das Abkommen mit der Türkei auszusetzen, neu zu bewerten. Ist das eine Konsequenz, die wir da jetzt ziehen müssen?
Wellmann: Nein, das halte ich für völlig abwegig. Wir haben ein Flüchtlingsabkommen mit der Türkei, das wird eingehalten, das ist in beiderseitigem Interesse, weil es hochvernünftig ist. Beide Seiten haben Vorteile davon. Die Türkei – die Korrespondentin sagte es gerade – bekommt sehr viel Geld dafür, dass sie die Flüchtlinge betreut, die Kinder in die Schule schickt, die Leute ernährt. Und das Zweite ist das Visaabkommen, was wir haben, und das sollten wir weiterhin trennen.
Zerback: Gleichzeitig haben wir aber gerade auch noch mal gehört, dass das Abkommen, so, wie es jetzt umgesetzt wird, ja nicht optimal funktioniert und dass es da noch viel Luft nach oben gibt. Muss man da nicht sagen, das Abkommen ist eigentlich jetzt schon gescheitert?
Wellmann: Wir reden ja über zwei Sachen: Wir reden über das Abkommen mit der Türkei, das funktioniert nach meiner Kenntnis weitgehend, es kommen keine Flüchtlinge mehr über die Ägäis in den EU-Bereich. Das Zweite ist die Frage, wie wir europaintern damit umgehen, die Verteilquote, und da gibt es, wie Sie ja gesagt haben, eine Reihe von Ländern, die sich nicht an die europäische Solidarität halten wollen. Ich erinnere an den Auftritt des Papstes vor wenigen Tagen in Polen, wo er den Polen ins Stammbuch geschrieben, der polnischen Regierung: Nehmt mehr Flüchtlinge auf, kümmert euch um die Leute.
Zerback: Gleichzeitig ist es aber auch so, dass die Türkei gar keine große Zahl an Flüchtlingen eben in die EU ausreisen lässt. Also diese Zahlen sind noch sehr gering, sagte jetzt auch heute Morgen noch mal Frau Kofler, und auch ein Asylantrag in der Türkei zu stellen, das ist sehr schwierig – das sind ja reale Probleme, die da auf der Hand liegen.
Wellmann: Wir haben doch zunächst mal das Interesse, dass die Leute nicht ein paar Tausend Kilometer weit verfrachtet werden nach Mecklenburg oder nach Schleswig-Holstein, um dann hier das Asylverfahren durchzuführen, sondern dass sie ortsnah in ihrem auch klimatischen Umfeld, nämlich in der Türkei, betreut und aufgefangen werden und sobald wie möglich zurück können in ihre Heimat, nämlich dann, wenn dort Bedingungen geschaffen werden, die ein vernünftiges Leben und ein sicheres Leben wieder zulassen. Das ist ja der ganze Sinn des Abkommens. Und wir haben gesagt, einige, eine bestimmte Quote, nehmen wir auf – das passiert auch. Ich glaube, nach Deutschland sind aus der Türkei einige wenige Hundert bisher gekommen, aber das entspricht den Verabredungen, die die Europäische Union getroffen hat – wir halten sie ein.
"Es ist in beiderseitigem Interesse, dass diese Visafreiheit kommt"
Zerback: Und wie reagieren wir auf die Drohungen aus der Türkei, den Flüchtlingsdeal platzen zu lassen, also die ist ja jetzt in den letzten Tagen mehr als deutlich geworden. Müssen wir da überhaupt weiterverhandeln, oder wäre es da nicht an der Zeit, sich da jetzt auch mal von der Türkei abzugrenzen?
Wellmann: Es wurde ja gedroht, falls die Visafreiheit nicht kommt, würde die Türkei das Flüchtlingsabkommen nicht einhalten. Da darf ich mal an Folgendes erinnern: Es gab einen EU-Türkei-Gipfel am 18. März dieses Jahres, und da sind klare Verabredungen getroffen worden. Da ist mit der Türkei verabredet worden, welche Bedingungen – 72 insgesamt – erfüllt sein müssen, damit die Visafreiheit kommt. Wir arbeiten dran, und wir hoffen, dass die Türkei ebenfalls dran arbeitet. Da gibt es ein Problem, was die Antiterrorgesetzgebung in der Türkei angeht, und das können wir täglich in den Zeitungen lesen, dass Kritiker verhaftet werden, massenhaft Journalisten und überhaupt kritische Menschen – Lehrer und andere –, und dass diese Freiheiten, diese bürgerlichen Freiheiten, diese Menschenrechte in der Türkei im Moment nicht gelten und mit Füßen getreten werden. Aber meine Empfehlung ist, jetzt nicht emotional sich zu überbieten auf beiden Seiten, sondern einen vernünftigen Kompromiss zu finden, denn es ist in beiderseitigem Interesse, auch in unserem Interesse, dass diese Visafreiheit kommt, aber vor allem im türkischen Interesse.
Zerback: Aber wie könnte denn ein solcher Kompromiss aussehen, ist nicht gerade dieser Punkt, dieser Knackpunkt, den Sie ansprechen, die Antiterrorgesetzgebung, wo die Türkei sich nicht bewegen möchte, ist das nicht gerade die rote Linie, die da es nicht zu überschreiten gilt? Bleiben wir da nicht stecken?
Wellmann: Ja, das ist eine rote Linie, aber auch da gibt es noch Kompromisse, die die Diplomaten ausloten können. Am Ende wollen wir natürlich Rechtsstaatlichkeit in der Türkei sehen. Wir müssen immer wieder darauf hinweisen, dass Deutschland das Land mit den größten Investitionen, ausländischen Investitionen in der Türkei ist – ich glaube zwölf Milliarden im Jahr. Es kommen unendlich viele Touristen, die ausbleiben werden, genau wie die Investitionen ausbleiben werden, wenn wir keine rechtsstaatlichen Verhältnisse in der Türkei bekommen. Das heißt, es ist in beiderseitigem Interesse, jetzt nicht emotional aufzurüsten und sich gegenseitig auch in nationalistischen Tönen zu ergehen, sondern zu Verhältnissen zurückzukommen, die europäischen Standards entsprechen, sonst wird sich die Türkei selbst schweren Schaden zufügen.
"Wir müssen an die europäische Solidarität erinnern"
Zerback: Solche Stimmen – auch das haben wir gerade gehört –, die gibt es ja jetzt wieder aus Tschechien. Der tschechische Premier hat da gefordert, überhaupt keine Flüchtlinge mehr aufnehmen zu wollen, und hat das eben mit der Terrorgefahr begründet. Aber solche Stimmen, die gibt es ja auch hierzulande – wie soll man denen denn begegnen?
Wellmann: Wir sind mit einer Million Flüchtlingen im Jahr natürlich bis an die Grenze überfordert. Wir haben das in irgendeiner Weise noch in den Griff gekriegt, aber das ist kein Zustand, der jetzt jedes Jahr eintreten soll. Deshalb ist unter maßgeblicher Führung der Bundeskanzlerin ja dieses Abkommen mit der Türkei abgeschlossen worden, und deshalb gibt es im Moment ja auch – jedenfalls was Syrien und die Türkei angeht – keinen Flüchtlingsstrom. Der Flüchtlingsstrom ist gestoppt, und das, was kommt, ist im Bereich dessen, was wir immer hatten in den letzten Jahren. Wir haben ein Problem mit Nordafrika, aber das ist ein anderes, das hat mit der Türkei gar nichts zu tun – auch daran arbeiten wir. Gleichwohl kann die Europäische Union weder Italien noch Griechenland alleine mit dem Problem lassen, wenn dort Flüchtlinge ankommen. Wir müssen an die europäische Solidarität erinnern, die auch gegenüber Ländern wie Tschechien oder Ungarn oder Polen ja auch immer eingehalten wurde. Diese Länder sind zu Wohlstand gekommen, weil sie Unterstützung von den anderen Europäern bekommen haben, sehr viel Geld bekommen haben, und es kann nicht sein, dass sie sagen, ja, also die Strukturfonds nehmen wir gerne in Anspruch, aber wenn wir Verpflichtungen erfüllen sollen, dann tun wir das nicht. Und an diese Pflichten, die sich auch als EU-Mitglied ergeben, werden wir diese Länder vielleicht noch etwas nachdrücklicher als bisher erinnern müssen.
"Selbstverständlich, dass die Europäer ihre Außengrenzen schützen müssen"
Zerback: An Solidarität und an diese Unterstützung, da erinnert ja vor allem Griechenland aktuell und hat gefordert, dass es da eben auch einen Plan B geben müsse. Jetzt haben wir gerade von unserer Brüssel-Korrespondentin gehört, sie kann sich nicht vorstellen, wie dieser Plan B überhaupt aussehen soll, da gibt es im Moment wenig Verhandlungsmasse. Wie könnte der aussehen Ihrer Meinung nach?
Wellmann: Wir müssen unser Schicksal, also die Europäer, in die eigene Hand nehmen, und wenn es mit der Türkei nicht funktioniert oder mit Libyen, unsere Außengrenzen selbst schützen. Das halte ich für eine Selbstverständlichkeit. Wir tun vieles, wir haben auch in Griechenland schon viel getan, wir können die Griechen nicht alleine lassen mit dem Flüchtlingsproblem und sagen, wenn da Hunderttausende von Menschen ankommen, dann sollen die das mal lösen. Das ist für einen Staat, der fast gescheitert ist, der große Mühe hat, wieder auf einen vernünftigen Weg zu kommen. Und die können wir jetzt nicht alleine lassen und sagen, deren Pech, dass die diese Grenzen haben, dass die diese Geografie haben – da müssen wir helfen und unterstützen. Und ich halte es für selbstverständlich, dass die Europäer ihre Außengrenzen schützen müssen und das auch können, wie es im Übrigen ja früher auch erfolgt ist.
Zerback: Aber wir reden nur von den Außengrenzen?
Wellmann: Ja, ich meine, das Schengenabkommen mit den nicht vorhandenen Binnengrenzen, wovon jeder Tourist, jeder Urlauber, der jetzt in die Ferien gefahren ist, profitiert, dass er nicht mehr zwei Stunden an der deutsch-österreichischen Grenze stehen muss, weil es da Grenzkontrollen gibt, das wollen wir bitte schön beibehalten. Wir wollen ja keine internen Grenzen haben, jedenfalls nicht, wenn es nicht unbedingt erforderlich ist. Dafür müssen wir unsere Außengrenzen schützen, und das können wir nicht allein den Ländern überlassen, die eben draußen liegen, an der Grenze liegen, sondern denen müssen wir helfen – finanziell, mit logistischen Mitteln, mit Know-how und wenn es nötig ist auch mit Personal. Tun wir ja auch übrigens, und das müssen wir ausweiten. Ich sage Ihnen noch mal: Die Europäer sollen und müssen insoweit ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen und dürfen nicht alleine abhängig sein von der Türkei. Wenn das klappt mit denen, umso besser, aber wenn nicht, müssen wir das auch selbst machen.
Zerback: Sagt der Bundestagsabgeordnete Karl-Georg Wellmann, Mitglied im Auswärtigen Ausschuss. Besten Dank für das Gespräch, Herr Wellmann!
Wellmann: Danke Ihnen, tschüss Frau Zerback!
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