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Vize-Parteichef Stegner
Erneuerung der SPD auf allen Ebenen

SPD-Vize Ralf Stegner hat eine umfassende Erneuerung seiner Partei angekündigt. Das müsse inhaltlich, programmatisch, organisatorisch und personell sein. Aus den Umfragewerten unter 20 Prozent müsse die SPD raus kommen, sagte Stegner im Dlf. In die Neuausrichtung will er die Jusos miteinbeziehen.

Ralf Stegner im Gespräch mit Christiane Kaess |
    Der stellvertretende SPD-Vorsitzende Stegner mit erhobener Hand
    Der stellvertretende SPD-Vorsitzende Stegner (picture alliance / Michael Kappeler/dpa)
    Christiane Kaess: Das waren dann doch überraschend viele SPD-Mitglieder, die Ja zu einer neuen Großen Koalition gesagt haben. Begeisterung herrscht darüber in der Partei dennoch nicht. Im Willy-Brandt-Haus rührte sich keine Hand zum Applaus, als der kommissarische SPD-Chef Olaf Scholz verkündete, dass die SPD-Mitglieder mit einer eindeutigen Mehrheit von 66 Prozent für eine Große Koalition gestimmt haben. Ein Drittel allerdings entschied sich dagegen. Einige prominente Sozialdemokraten, allen voran Juso-Chef Kevin Kühnert, haben offensiv gegen ein neues schwarz-rotes Bündnis geworben.
    Wie können die jetzt eingebunden werden und wie soll der Erneuerungsprozess der Partei gelingen und wie überzeugt ist man überhaupt in der Partei von der jetzt endlich gefällten Entscheidung? Über all dies kann ich jetzt sprechen mit dem stellvertretenden SPD-Vorsitzenden Ralf Stegner. Guten Morgen, Herr Stegner.
    Ralf Stegner: Guten Morgen, Frau Kaess.
    "Andere haben sich vom Acker gemacht"
    Kaess: Herr Stegner, als der damalige SPD-Chef Martin Schulz nach der Bundestagswahl angekündigt hat, in die Opposition zu gehen, da hat man gejubelt in der SPD. Und als jetzt der kommissarische SPD-Chef Olaf Scholz am Sonntag das Ja der Mitglieder zur Großen Koalition bekanntgegeben hat im Willy-Brandt-Haus, da hat so was wie Grabesstimmung geherrscht. Wie überzeugt ist man denn in der SPD tatsächlich von dem Bündnis?
    Stegner: Na ja, nun muss man sehen: Da lag ja nun einiges dazwischen. Ich glaube, die Entscheidung, am Wahltag zu sagen, das ist ein Auftrag für Opposition, das war richtig. Das haben wir auch einvernehmlich so beschlossen. Alle gingen auch davon aus, dass es eine Jamaika-Koalition geben würde im Bund. Die gab es nun nicht. Andere haben sich vom Acker gemacht. Die SPD muss jetzt Verantwortung übernehmen und hat Wochen von intensiver Debatte hinter sich mit sehr unterschiedlichen Einschätzungen auch. Da gab es auch kein richtig oder falsch, aber es gab eine klare Entscheidung, und ich glaube, dass die Stimmung am Sonntag auch reflektiert hat, dass jeder weiß, es ist wichtig, dass die Partei jetzt dieses Mitgliedervotum zum Anlass nimmt, geschlossen in die Herausforderungen zu gehen, die wir haben, nämlich sowohl Regierungsverantwortung zu übernehmen, was zu tun, um das Leben von Menschen zu verbessern, aber auch die Parteireform voranzutreiben, die nötig ist, programmatisch, organisatorisch und personell.
    Kaess: Herr Stegner, aber ist das denn gut, so leidenschaftslos in eine Neuauflage der Koalition zu gehen, wie Olaf Scholz, der ja wahrscheinlich Finanzminister wird und Vizekanzler, der wahrscheinlich für etwas stehen wird in dieser Koalition, wie der das verkauft hat am Sonntag? Ich zitiere mal die Deutsche Presseagentur, die über ihn geschrieben hat: "Olaf Scholz, der eher wirkte, als habe er einen Todesfall zu verkünden und nicht den Durchbruch für eine Regierung mit der SPD."
    Stegner: Wissen Sie, unsere Leidenschaft gilt nicht Koalitionen mit anderen Parteien. Das sind Zweckbündnisse auf Zeit. Unsere Leidenschaft gilt unseren Inhalten und unsere Leidenschaft galt zum Beispiel diesem Mitgliedervotum. Da gab es leidenschaftliche Debatten über Wochen und das ist übrigens auch eine tolle Sache und ich bin richtig stolz darauf, dass unsere Partei mit drei Vierteln der Mitglieder sich beteiligt hat daran. Das macht keine andere Partei in Deutschland. Aber unsere Leidenschaft gilt der Frage, wie wir Inhalte umsetzen, was wir tun können, um die Digitalisierung so zu betreiben zum Beispiel, dass Arbeitnehmerinteressen nicht auf der Strecke bleiben, oder wie wir Arbeit und Umwelt versöhnen, oder wie wir globale Gerechtigkeitsfragen lösen. Dem gilt unsere Leidenschaft, nicht der Frage, mit wem wir auf Zeit zusammenarbeiten. Da kann man auch nicht leidenschaftlich dafür sein. Schauen Sie: Wenn Sie die Haltung der CSU etwa sich betrachten zur Flüchtlingspolitik, davon sind wir meilenweit entfernt. Es ist ein Zweckbündnis auf Zeit, da hat man keine Leidenschaft; für die eigene Partei sehr wohl.
    Olaf Scholz und das hanseatische Temperament
    Kaess: Wenn die SPD jetzt dieses Regierungsbündnis als reine Pflichtveranstaltung sieht, begeht die Partei nicht dann genau den gleichen Fehler, den sie in den letzten Jahren immer begangen hat, nämlich sich schlecht zu verkaufen?
    Stegner: Nein. Wir wollen ja nicht Leidenschaft für andere Parteien verkaufen, sondern für das, was wir inhaltlich bewirken.
    Kaess: Aber Sie wollen doch wahrscheinlich Leidenschaft fürs Regieren verkaufen, oder nicht?
    Stegner: Für die Inhalte, weil wir das Leben der Menschen besser machen wollen. Zwei Drittel unserer Mitglieder haben Ja gesagt, …
    Kaess: Entschuldigung, wenn ich da noch mal einsteigen muss. Das kam aber bei Herrn Scholz am Sonntag nicht wirklich rüber.
    Stegner: Das hanseatische Temperament von Olaf Scholz ist legendär. Gleichwohl ist es so, dass auch er ja dafür geworben hat in den Veranstaltungen, die wir hatten, und zwei Drittel unserer Mitglieder haben dazu auch Ja gesagt, dass wir Verbesserungen erreichen bei der Rente, bei Pflege, bei Arbeit, bei Bildung, bei Familie, bei vielen Themen, bei Europa insbesondere auch, was gut ist für unser Land. Gleichzeitig aber ist doch zum Ausdruck gebracht worden im Willy-Brandt-Haus am Sonntag, dass das jetzt kein Sieg einer Seite über die andere ist, denn ein Drittel unserer Mitglieder hat Nein gesagt. Manche haben wahrscheinlich auch "ja, aber" gedacht, als sie das Ja angekreuzt haben.
    Und es geht auch darum, dass diese Partei besser aus der Großen Koalition rauskommt als die letzten beiden Male, und das geht nur, wenn wir an einer inhaltlichen, programmatischen, organisatorischen und personellen Erneuerung unserer Partei arbeiten, und das wollen wir wirklich tun. Sie dürfen nicht vergessen: Wir haben 20,5 Prozent geholt. Das ist bitter wenig. Wir haben Umfragen unter 20. Da müssen wir wirklich raus. Und das geht nur mit einer selbstbewussten SPD, die jetzt nicht sagt, Regieren ist Selbstzweck, sondern wir übernehmen Verantwortung in einer Zeit, wo andere Parteien das übrigens nicht tun, sondern sich vom Acker gemacht haben.
    Ein Kraftzentrum mit Andrea Nahles
    Kaess: Dann ist Olaf Scholz mit seinem hanseatischen Temperament, wie Sie gesagt haben, vielleicht nicht der Richtige, um als Vizekanzler die SPD in der neuen Regierung zu verkaufen, oder?
    Stegner: Wissen Sie, wir haben ja bewusst gesagt, wir lassen erst mal die Mitglieder über das Ob entscheiden der Regierungsbeteiligung.
    Kaess: Das haben sie ja jetzt.
    Stegner: Wenn das geschehen ist, dann führen wir die Gespräche darüber, wer für die SPD ins Kabinett geht. Nicht umgekehrt! Und das ist genau die richtige Reihenfolge. Jetzt haben wir das Mandat dafür, jetzt werden die Gespräche geführt, und dann wird sich ein Team finden von drei Männern und drei Frauen, die die SPD repräsentieren und wo gleichzeitig Regierungsverantwortung stattfindet und auf der anderen Seite mit Andrea Nahles als Fraktionsvorsitzender – und sie kandidiert ja auch für den Bundesvorsitz der SPD – ein Kraftzentrum außerhalb der Regierung da ist, was dafür sorgt, dass das Profil der SPD als linke Volkspartei geschärft wird und wir wieder so konkurrenzfähig werden, dass wir mit der Union um Platz eins kämpfen. Das muss immer unser Anspruch sein. Weniger dürfen wir nicht und wollen wir auch nicht und da werden Sie das Selbstbewusstsein und die Leidenschaft der SPD zu sehen kriegen in den nächsten Wochen und Monaten. Da bin ich ganz sicher.
    Kaess: Mit der Union um Platz eins kämpfen, sagen Sie. Die CDU und die CSU, die hat schon ihre Minister benannt, wesentlich flotter als die SPD. Die SPD hat jetzt nicht nur mit diesem aufwendigen Mitgliederentscheid die Regierungsbildung in die Länge gezogen; jetzt braucht sie auch noch Zeit, um die Minister zu benennen. Warum braucht die Partei eigentlich so unendlich viel Bedenkzeit?
    Stegner: Wissen Sie, wir sind die Partei, für die gilt, wir wollen mehr Demokratie wagen, wie Willy Brandt gesagt hat. Wir entscheiden erst über das Ob und dann über die Ministerposten. Umgekehrt ist doch geradezu die Karikatur von Politik. Dann geht es ja nur um Posten. Bei uns ist das nicht so, sondern es geht um Inhalte und dann findet sich auch ein Regierungsteam. Die Gespräche werden eine Woche dauern. Und wenn Sie auf die Länge der Regierungsbildung anspielen – ein großer Teil ist davon dadurch vergangen, dass die Jamaika-Parteien länger sondiert haben. Die eigentlichen Koalitionsverhandlungen waren kurz. Ich finde übrigens es großartig, dass die SPD mit 460.000 Mitgliedern entscheidet und nicht nur im Vorstand wie die CSU oder auf einem Parteitag wie die CDU. Das war ein gutes Beispiel innerparteilicher Demokratie und das hat uns eher gestärkt und wird uns jetzt auch zusammenbringen, denn das ist ja eine schwierige Aufgabe, die wir zu lösen haben.
    "In der SPD werden die wichtigen Fragen diskutiert"
    Kaess: Das ist genau die Frage. Vielleicht haben Sie da schon etwas klarere Vorstellungen als bei anderen Themen. Wie soll die Partei ein Drittel der SPD-Mitglieder, die gegen die GroKo gestimmt haben und die jetzt einen Erneuerungsprozess erwarten, wie sollen die eingebunden werden? Woran soll sich dieser Erneuerungsprozess festmachen?
    Stegner: Programmatisch macht er sich zum Beispiel daran fest, dass die vielen, die zu uns gekommen sind – es sind ja viele eingetreten -, dass junge Menschen mitkriegen, in der SPD werden die wichtigen Fragen diskutiert, und zwar nach vorne diskutiert, mit unseren Grundwerten Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität, aber bezogen auf die Zukunft. Wenn wir zum Beispiel über Digitalisierung reden, dann meinen wir nicht nur Breitbandausbau und Technik, wie das andere Parteien meinen, sondern dann meinen wir, wie können wir das mit guter Arbeit so verbinden, dass Arbeitnehmerinteressen nicht auf der Strecke bleiben, dass wir Arbeitszeitfragen besser lösen.
    Oder wenn wir darüber reden, dass wir Klimaschutz machen und Arbeitsplätze sichern wollen, dann reden wir davon, wie Arbeit und Umwelt zusammengebracht werden. Oder wenn wir über globale Gerechtigkeitsfragen sprechen, dann meinen wir nicht nur, dass wir nicht Aufrüstung wollen und keine Waffenexporte in Kriegsgebiete, sondern dann meinen wir auch, wie wir dafür sorgen, dass Menschen nicht flüchten müssen aus den Ländern, wo sie herkommen, wir also was tun zum Beispiel dagegen, dass Menschen anderswo verhungern und bei uns Lebensmittel weggeschmissen werden, und solche Dinge. Über solche Fragen wird debattiert in der SPD. Das interessiert junge Menschen und das wird uns auch attraktiv machen als Partei.
    Und zweitens: Wir müssen Organisationsreformen vorantreiben, damit wir unsere regionalen Schwächen überwinden, die wir ja deutlich haben, gerade im Osten und im Süden des Landes. Und drittens: Die Jusos zum Beispiel sind ein großartiger Jugendverband. Die haben eine tolle Kampagne gemacht. Die sollen einbezogen werden in den Reformprozess. Das ist unsere Zukunft, so dass sie auch irgendwann mal eine Chance bekommen, in einer guten Mischung mit erfahreneren Leuten. Das wollen wir alles machen und wenn wir gleichzeitig ordentlich regieren, und das wollen wir auch, dann ist das, glaube ich, jedenfalls deutlich besser als das, was ich bei anderen Parteien sehe, die Machtparteien sind und nicht so viel Zeit brauchen wie wir, aber auch langweiliger sind.
    "Bei der Agenda 2010 waren auch viele Fehler dabei"
    Kaess: Herr Stegner, lassen Sie mich gleich mal beim ersten Punkt einhaken. Glauben Sie ernsthaft, es reicht, lauter kleine Veränderungen, auch teilweise abstrakte Veränderungen zu machen, oder braucht es nicht beim Thema soziale Gerechtigkeit gerade einen wirklich großen Wurf, ich sage mal, ähnlich vom Ausschlag her wie bei der Agenda 2010, damals nur in umgekehrter Richtung?
    Stegner: Was heißt denn großer Wurf? Unter großem Wurf verstehen die Deutschen oft, man redet über ein Reformprojekt, das so groß ist, dass man gar nicht erst beginnen kann.
    Kaess: So etwas war die Agenda 2010. Nur das hat Ihnen den umgekehrten Effekt gebracht als den, den Sie sich jetzt wünschen.
    Stegner: Da waren auch viele Fehler dabei. Da waren viele Fehler dabei, weil wir zum Beispiel zugelassen haben, dass Arbeit entwertet worden ist, weil wir nicht hinreichend vermittelt haben, dass Fördern und Fordern gleichzeitig stattfinden muss. Aber worüber wir doch reden – und da finden Sie vieles im Koalitionsvertrag und Sie werden noch mehr in unserer Programmatik sehen - ist, dass zum Beispiel soziale Sicherung nicht so läuft, dass die Lebensrisiken privatisiert werden. Wir wollen, dass jeder die Rente zum Beispiel bekommt, die ein langes Arbeitsleben dann auch verdient, dass man seinen Lebensstandard nicht senken muss.
    Wir wollen, dass Menschen nicht Angst haben müssen, wenn sie gepflegt werden, dass das nicht vernünftig funktioniert und dass sie ihre Miete nicht mehr bezahlen können. Wir haben zum Beispiel Fortschritte erzielt beim Thema bezahlbares Wohnen, was mit CDU und CSU geht. Gleichzeitig wollen wir mehr! Eigentlich muss viel schärfer gegen Spekulation mit Grundbesitz umgegangen werden, mit Wohneigentum umgegangen werden, damit sich das ändert. Manches geht in der Koalition mit der Union und anderes werden wir außerhalb in der Partei mit eigenen Vorschlägen vorantreiben. Beides muss sein: Kleine Schritte in die richtige Richtung und eine Debatte über größere Veränderungen.
    "Ein Jahr diskutieren und dann entscheiden"
    Kaess: Wir werden sehen, was von diesen kleinen Schritten beim Wähler hängen bleibt. – Sagen Sie uns zum Schluss noch, weil Sie die Organisationsformen angesprochen haben. Ganz konkreter Vorschlag der Kritiker, der GroKo-Gegner: Sie wollen eine Urwahl für den Parteivorsitz. Kommt das?
    Stegner: Das glaube ich so nicht. Wir haben im Dezember beschlossen, dass wir über all diese Fragen ein Jahr in der Partei diskutieren und dann auf dem Parteitag entscheiden.
    Kaess: Das ist bekannt. Aber Sie müssen ja jetzt etwas tun, um dieses Drittel irgendwie einzubinden, und da gibt es jetzt diese konkrete Forderung.
    Stegner: Aber es geht doch nicht um Symbolik. Ich teile doch die Einschätzung vieler, die da mit Nein oder Ja aber gestimmt haben. Ich bin auch skeptisch, was Große Koalitionen angeht. Wir sind da viel mehr zusammen. Wichtig ist: Die Gegner sind nicht in der eigenen Partei, sondern in anderen, und wir werden auch organisatorische Verbesserungen machen. Es gibt ohnehin schon mehr Demokratie in der SPD als in anderen Parteien und das werden wir ausbauen. Das werden Sie sehen in den nächsten Wochen und Monaten. Satzungsfragen werden auf Parteitagen entschieden.
    Kaess: … sagt der stellvertretende SPD-Vorsitzende Ralf Stegner. Herr Stegner, danke für das Interview.
    Stegner: Sehr gerne! Tschüss, Frau Kaess.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.