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Vize-Weltmeister Argentinien
Totenstille beim Gegentor

Als Mario Götze in der 113. Minuten Deutschland zum Fußball-Weltmeister schoss, herrschte in der argentinischen Hauptstadt eine gespenstische Ruhe, sagte Kristin Wesemann von der Konrad-Adenauer-Stiftung in Buenos Aires im DLF. Nach einer halben Stunde jedoch gingen die Menschen wieder auf die Straße und feierten den zweiten Platz.

Kristin Wesemann im Gespräch mit Christine Heuer |
    Trauernde argentinische Fans
    Graue Wolken über den Dächern von Buenos Aires. (dpa / Maurizio Gambarini)
    Die argentinischen Fußballfans seien in erster Linie froh gewesen, bei der Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien bis ins Finale gekommen zu sein. Während des hart umkämpften Finalspiels feuerte laut Wesemann gefühlt die gesamte argentinische Hauptstadt ihre Mannschaft an. Als dann das Gegentor fiel, herrschte in Buenos Aires "eine Totenstille". Die Argentinier seien in eine regelrechte Schockstarre gefallen, sagte sie. Nach etwa einer halben Stunde habe sich das aber geändert. Argentinien freue sich auch über die Vize-Weltmeisterschaft - und sei Deutschland vor allem dankbar, den Rivalen Brasilien haushoch geschlagen zu haben.
    Kurz nach dem Schlusspfiff habe es aber auch Krawalle in Buenos Aires gegeben, Protestler seien festgenommen worden. Argentinien steht kurz vor dem Staatsbankrott, die Armut ist laut Wesemann allgegenwärtig. Die politischen Proteste würden nun nach der WM wieder stärker und deutlicher wahrnehmbar werden, sagte sie.

    Das Interview in voller Länge:
    Christine Heuer: "Wein nicht um mich, Argentinien", aber geweint haben viele gestern Abend in dem Land, das sich mit dem Vizeweltmeister-Titel begnügen muss. In Buenos Aires hat zusammen mit vielen, vielen Argentiniern Kristin Wesemann von der Konrad-Adenauer-Stiftung das WM-Finale angeschaut. Das wurde vor knapp neun Stunden angepfiffen. Jetzt ist es kurz nach Mitternacht in Buenos Aires, Viertel nach, und Kristin Wesemann ist für uns auf geblieben. Danke dafür und guten Morgen aus Deutschland.
    Kristin Wesemann: Ja! Guten Morgen nach Deutschland.
    Heuer: Wo, Frau Wesemann, haben Sie das Finale angeschaut?
    Wesemann: Ich habe es ganz typisch, wie die Argentinier das oft machen, in einem Café geschaut, mit Freunden, argentinischen Freunden, mitten in der Stadt auf der Calle Florida. Das ist die große, ehemals prächtige Einkaufsstraße von Buenos Aires. Da haben wir eng beieinander gesessen und das Finale uns angeschaut und gezittert, und auch in der Familie waren wir gespalten. Mein Sohn und ich, wir waren für Deutschland, meine kleinen Mädchen und mein Mann waren stark für Argentinien. Aber wir, mein Sohn und ich, waren die einzigen argentinischen Deutschen sozusagen.
    "Gewaltige Auseinandersetzungen in Buenos Aires"
    Heuer: Und trotzdem gewonnen, Argentinien nur auf Platz zwei. Wie stecken die Menschen das weg?
    Wesemann: Es gab eine Totenstille, die ich in Buenos Aires noch nicht erlebt habe, bei dem Tor. Die Menschen haben sich quasi überhaupt nicht mehr bewegt. Es verhallte alles, jedes Geräusch. Bis dahin war es unglaublich laut und danach sind die Menschen rausgegangen, immer noch ganz, ganz still, und ungefähr nach einer halben Stunde drehte sich das. Dann fingen die Feiern doch an und man freute sich. Man hat sich sowieso ganz stark gefreut, überhaupt ins Finale gelangt zu sein, und hat überhaupt nicht daran geglaubt, dass so was passieren könnte, und die Hoffnungen lagen auf dem Team. Überhaupt die gesamten argentinischen Hoffnungen lagen so stark auf der Fußball-Nationalmannschaft, dass die Freude eigentlich schon beim Halbfinale gefeiert werden konnte und man hat sich stark ausgelassen. Jetzt im Moment höre ich gar nichts mehr. Nach dem Halbfinale war das schon anders. Ich habe aber gerade auch noch mal den Fernseher eingeschaltet und es gibt gewaltige Auseinandersetzungen in der Nähe des Obelisken, dem Wahrzeichen von Buenos Aires. Es gibt bislang an die 60 Festnahmen. Es gab Krawalle, aber das ist auch nichts Neues im argentinischen Fußball, wie es bei einem Volksfest heute hätte sein können.
    Heuer: Frau Wesemann, das ist interessant, was Sie erzählen. Jetzt klopft, glaube ich, jemand bei Ihnen auf dem Telefon an. Wir versuchen, trotzdem weiter mit Ihnen zu sprechen. Im Vorfeld hat ein Fan gesagt, wir bleiben auf jeden Fall Deutschlands Freunde, auch dann, wenn die Argentinier verlieren. Sie haben das gerade so ein bisschen geschildert. Mögen die Argentinier die Deutschen besonders gern, oder sind sie uns vor allem deshalb dankbar, weil wir ihren Erzfeind Brasilien aus dem Turnier gespielt haben?
    Wesemann: Das ist eine Emotion. Sie sind uns schon dankbar, Brasilien geschlagen zu haben. Sie empfinden das als eine Demütigung Brasiliens und es gehen dann auch Witze durch Argentinien, wo gesagt wird, ihr Brasilianer werdet das nie vergessen, das 7:1. Aber falls ihr es doch vergessen solltet, es gibt immer einen Argentinier, der euch daran erinnern wird. Aber ich glaube, die Argentinier konzentrieren sich im Moment mehr auf sich selbst. Brasilien ja, das war im Rückblick auf die Geschichte ein wichtiger Punkt, aber sie sind mit sich selbst ohnehin stark beschäftigt, nicht nur mit Fußball, sondern auch politisch, wirtschaftlich. Ich denke, sie haben auch Deutschland als Angstgegner gesehen. Die haben viele Emotionen dabei und haben immer gesagt, wir Argentinier, wir haben doch Herz, wir haben doch die genialen Momente, wir können es doch. Die haben im Prinzip auf Maradona 1986 gehofft und das ist mit Lionel Messi dann nicht eingetreten.
    "Politik benutzt hier sehr stark auch den Fußball"
    Heuer: Sie haben Politik und Wirtschaft in Argentinien angesprochen. Das ist ja auch ein wichtiges Feld, das möchte ich gerne mit Ihnen besprechen. Präsidentin Christina Kirchner ist nicht mal zum Finale gefahren. Verzeihen die Argentinier ihr das?
    Wesemann: Ja, und zwar ist das: sie wollte einfach [unverständlich] sein und nicht der Seuchenvogel, der dem Land Unglück bringt. Das hat Carlos Menem, der ehemalige argentinische Präsident, einmal gemacht. Er war der erste und einzige Präsident des Landes, der bei einem Spiel einer Weltmeisterschaft dabei war, und das hat Argentinien Unglück gebracht. Dann ist auch nie wieder einer hingefahren und die Politik benutzt hier sehr stark auch den Fußball. Sie überträgt sämtliche Ligaspiele über staatliches Fernsehen, sie hat auch im Vorfeld die Nationalmannschaft ziemlich propagandistisch benutzt. Aber die Argentinier und Christina Kirchner hatten auch zu befürchten, dort ausgebuht zu werden, gerade diejenigen, die unbedingt im Maracana-Stadion in Rio gesessen hätten, und sie hat auch erlebt, was ihrer Kollegin Dilma Rousseff passiert ist. Insofern habe ich ohnehin nicht geglaubt, dass sie hingehen würde, denn die Choreografie ist sehr genau, wo sie auftritt und vor wem, und da darf es überhaupt nicht zu Zufälligkeiten kommen und schon gar nicht dazu, dass sie ausgebuht wird.
    "Das Land hat unglaubliche Probleme"
    Heuer: In Brasilien, Frau Wesemann, gab es ja Massenproteste gegen die WM und die Regierung. In Argentinien ist es ruhig, dabei steht das Land vor dem Bankrott. Wie kommt das?
    Wesemann: Es gab 2012 und 2013 in Argentinien auch Millionen-Proteste. Die sind ein bisschen untergegangen, weil Brasilien doch für sehr viel mehr Schlagzeilen sorgt und das Potenzial dafür hat. Nächstes Jahr im Oktober gibt es hier Präsidentschaftswahlen und in Argentinien ist es so, dass sich ganz oft die Hoffnung, die Kraft auf einen Moment, auf eine Person, auf einen Anführer konzentriert, und man weiß, dass die Regierung Kirchner nächstes Jahr nicht mehr antreten kann. Frau Kirchner kann nicht mehr antreten. Meine Einschätzung ist eher, dass Argentinien sich in einer Wartestarre befindet und auf einen neuen Zeitenwechsel wartet. Das Land hat unglaubliche Probleme. Wir haben fast 40 Prozent Inflation in diesem Jahr, im letzten Jahr waren es fast genauso viele und das Jahr davor auch zweistellige Raten. Man sieht es auf der Straße, die Armut explodiert, die Löhne können die Inflation nicht mehr auffangen. Das Land steht, wie man so schön sagt, vor dem technischen Bankrott immer wieder. Man einigt sich, aber wenn man hier einmal schaut, wie auch die Regierung den Menschen ihre Politik zu verkaufen versucht, das hat eigenartige Ausmaße. Da werden ganze Zeitungsseiten damit bedruckt, wie die Hedgefonds und die amerikanische Presse lügen und die europäische Presse. Da steht dann nicht, das ist die Unwahrheit, sondern so lügen sie, oder so belügen sie uns oder sogar eine ganze Nation.
    Heuer: Frau Wesemann, ich danke Ihnen sehr für Ihre Einschätzungen. Jetzt klopft immer wieder jemand bei Ihnen an. Wir machen jetzt mal die Leitung frei für die nächsten Anrufer. Ich bedanke mich sehr für Ihre Einschätzungen heute früh, dafür, dass Sie für uns aufgeblieben sind und uns berichtet haben aus Buenos Aires. Kristin Wesemann von der Konrad-Adenauer-Stiftung in Argentinien, danke schön.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.