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Vladimir Sorokin: "Manaraga. Tagebuch eines Meisterkochs"
Koch-Buch mal anders

Der russische Autor Vladimir Sorokin serviert mit "Manaraga. Tagebuch eines Meisterkochs" einen skurrilen Leckerbissen: 2037 existiert das gedruckte Buch nicht mehr. Statt zu lesen zelebriert die Oberschicht "Book-'n'-Grill-Events", bei denen ein Meisterkoch Gerichte wie „Schnitzel auf Schnitzler" serviert.

Von Paul Stoop |
    Buchcover: Vladimir Sorokin: „Manaraga. Tagebuch eines Meisterkochs“
    Book 'n' Grill, eine neue Kulturtechnik nach Vladimir Sorokin (Buchcover: Kiepenheuer & Witsch Verlag, Foto: Itar-Tass/Imago)
    Wir befinden uns im Jahr 2037. Europa ist in kleine und kleinste politische Einheiten zerfallen: Republiken, Diktaturen, Monarchien. Der zersplitterte Kontinent erholt sich von der zweiten islamischen Revolution. In Vladimir Sorokins Roman Manaraga lernen wir diese Welt aus der Perspektive eines Kochs namens Géza kennen, der sich in seinen Tagebuchaufzeichnungen über den Zeitraum eines Monates selbst so vorstellt:
    "Mein Lebensweg hatte viele Kurven. Geboren bin ich vor dreiunddreißig Jahren in Budapest als Kind eines belarussischen Juden und einer polnischen Tatarin. Meine Eltern waren beide auf der Flucht: Vater vor den christlich-orthodoxen Fundamentalisten, Mutter vor den islamischen. Diesen und jenen bärtigen Finsterlingen also, die der Bevölkerung Liebe und Verständnis abverlangten und deswegen gnadenlos Bomben warfen, Brände legten, abstachen und hinrichteten."
    Eine konspirative Gilde von Meisterköchen
    In der Nachkriegswelt jettet Géza herum, von einem wichtigen Kochtermin zum nächsten. Er ist Teil einer konspirativen Gilde von "Meisterköchen". Während im Alltagsleben das Buch in der gedruckten Form nicht mehr existiert, haben sich diese Köche darauf spezialisiert, für die Reichen und Mächtigen literarische Abende mit echten Büchern anzubieten. Erstausgaben und seltene Exemplare, aus Museen oder Privatsammlungen geraubt, werden bei den exquisiten Essensveranstaltungen zweifach zelebriert: Es wird daraus vorgelesen, und dann wird das Buch zum "Scheit" und befeuert den Grillofen.
    "Tschechow. Tschechow! Das ist es. Zweimal Gesammelte Werke + verschiedene Erstausgaben von Erzählungen in papiernen Einbänden. Letztere ideal fürs schnelle Lesen: Garnelen, Froschschenkel, Schweinsohren ... Auf Tschechow grille ich für mein Leben gern. Ein Autor der leichten Muse."
    Genüsslich werden die Auftraggeber, die sich die Delikatessen-Events leisten können, vom emsigen Buch-Griller Géza beschrieben: Neureiche, Perverse, Potentaten, Verbrecher. Sie haben einen guten Literaturgeschmack – oder auch gar keinen.
    Traumflöhe, dialogfähig
    Der Meisterkoch ist Teil dieser kosmopolitischen Elite. In den Zug steigen braucht Géza nicht, er nutzt Privatjets und ist durch implantierte Digitalgehirne orientierungs- und handlungsfähig. Diese so genannten Flöhe sind für ihn und seine Zunftbrüder Informations- und Sicherheitszentrale, Arzt, Therapeut und Lieferant von Träumen jeder gewünschten Kategorie.
    Die Flöhe sind sogar dialogfähig, Sklaven ihres Auftraggebers und gleichzeitig Herrscher über dessen Alltag. Da kann auch ein Dank für einen entspannenden Traum nach einem stressigen Grill-Auftritt angebracht sein:
    "He, Floh! Der Traum war genial Hab Dank, mein kluges Insekt. Nach so einem Traum macht die Sache wieder Spaß. Man freut sich des Lebens, atmet aus voller Brust. Und verrichtet sein Werk, das so wichtig und schwierig und gefährlich und den Menschen ein Bedürfnis ist."
    Vladimir Sorokins Wahlheimat ist Berlin
    Der Charme des Buches liegt in Sorokins ungehemmter Fabulierlust, seiner bizarren Fantasie und seinen kleinen und großen Gemeinheiten. Manaraga bietet ein Feuerwerk an ironischen bis bitterbösen Spitzen, kunstvoll in längeren Exkursen, treffend in knapp-giftigen Charakterisierungen, etwa die des Flughafens von Sorokins Wahlheimat, von dem Géza einmal losfliegt:
    "Auch der Berliner Flughafen weckt ein Gefühl von Raum und Ruhe ..."
    Sorokin widmet sich lustvoll den toten und lebenden Autoren, vor allem den russischen, mit denen er sich auch in seinen anderen Schriften höchst subjektiv befasst. Dem deutschen Leser mag manche stilistische Imitation, manch angedeutete Verhöhnung russischer Schriftsteller entgehen, aber er kann sich ja die freche Einstellung des Meisterkochs zu eigen machen:
    "Ich liebe die russische Klassik, auch wenn ich keinen einzigen Roman weiter als bis zur Hälfte gelesen habe."
    Verrat unter den Meisterköchen
    Politik im herkömmlichen Sinn wird nur andeutungsweise thematisiert. Was es mit der islamischen Revolution oder den "salafistischen Aufständen" auf sich hatte, bleibt im Dunkel. Géza erwähnt zwar den "Orthodoxen KGB in Minsk", die "paramilitärische Kamarilla", die in Siebenbürgen die Macht hat, und den "primitiven Feudalismus" in Transsylvanien. Aber als gesellschaftliche Dystopie kann man diesen Roman trotz der düsteren Andeutungen nicht bezeichnen. Das Volk figuriert weitgehend als die große Leerstelle im Grillbusiness.
    Markt- und machtpolitisch geht es bei der Eskalation der Geschichte dann schon zu. Die geheimbündlerische Meisterkoch-Truppe wird von einem Verrat erschüttert. Ein Mitglied hat den Markt mit perfekt kopierten Erstausgaben eines einzigen Buches überschwemmt, ausgerechnet Nabokovs Ada, das ebenfalls in der Oberklasse und in einer erdähnlichen Welt namens Antiterra spielt, nur weitgehend in der Vergangenheit.
    Minderwertige Grillbücher - und was sie anrichten
    Durch den Verrat steht die Exklusivität des Book ’n’ Grillens auf dem Spiel, die Monopol-Bibliophilie ist bedroht. Das könnte auch für Géza gefährlich werden, denn sein ganzes Sein beruht auf professioneller Perfektion, seinen Kenntnissen über Literatur und des Buchs als brennbarem Gegenstand. Seine Welt würde zusammenbrechen – die Welt einer vom Schicksal verwöhnten, abgehobenen Elite.
    Die Mitglieder der Gilde beschließen, eine Truppe loszuschicken, um die Fälschungsfabrik zu zerstören. Géza wird als Leiter der Expedition zu den Höhlen des Bergs Manaraga im nördlichen Ural ausgelost. Er gerät dort in die Fänge des Verräters Henri, der im Gespräch mit dem gescheiterten Rächer den Nimbus der Geheimgilde zerstört:
    "Jeder von uns hat, wenns hochkommt, zehn Varianten im Köcher. Manche von den Jüngeren nur noch ganze drei. Das ist doch so was von trist, Géza! Wird dir beim Anblick des Rosts nicht speiübel?" "Bislang nicht." "Mir schon. Ich könnte kotzen!", "Der Rost hat seine Schuldigkeit getan! Genug Rauch geschluckt! Schluss mit der Blätterei! Es wird Zeit, der Welt eine hochwertige, abwechslungsreiche Kost anzubieten! Höchste Zeit!"
    Ein rasant erzählter Roman
    Am Ende steht der Verräter als Reformer da, seine Idee des Buchs als Massenware könnte das Buch wieder einer demokratischen Kultur zugänglich machen. Dabei lässt auch in seiner Vision schon wieder eine ausbeuterische Profiteurshaltung erkennen.
    Manaraga ist eine rasant erzählte kleine Geschichte. Die Hitze, die dieser bescheidene Scheit entwickelt, dürfte kaum für die Zubereitung eines mehrgängigen Grill-Menüs ausreichen. Beim Verfeuern würde es aber heftig knistern, die Funken würden fliegen. Für einen ordentlich gegrillten Gemüseburger wird das sicherlich reichen. Das ist kein geringer Verdienst. Die Gefahr, dass man diesen russischen Roman nicht weiter als bis zur Hälfte liest, ist sehr gering. Noch ein Satz hier --- Unterhaltungswert oder so ---
    Vladimir Sorokin: "Manaraga. Tagebuch eines Meisterkochs"
    Kiepenheuer & Witsch, Köln. 251 Seiten 16,99 Euro.