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Völkermord als politisches Programm

Vor 13 Jahren entfachte der amerikanische Publizist Daniel Goldhagen einen veritablen Historikerstreit mit seinem Buch "Hitlers willige Vollstrecker". Auch in seinem jüngsten Werk geht es um das Thema Völkermord. Diesmal nimmt Goldhagen dieses Phänomen global unter die Lupe.

Von Katja Ridderbusch |
    "Schlimmer als Krieg", so heißt der 700 Seiten starke Band, der in diesen Tagen mit einem gigantischen Medienrummel auf dem deutschen Buchmarkt platziert wird. Daniel Goldhagen, mittlerweile freischaffender Autor und nicht mehr Universitätslehrer, hält das laute Rühren der Werbetrommel für gerechtfertigt. Denn: Völkermorde und Eliminierungspolitik seien ein drängendes Thema unserer Zeit:

    "Einer der Gründe, warum wir so wenig gegen das massenhafte Morden tun, ist die Tatsache, dass wir die Mechanismen nicht verstehen. Wenn wir die Ursachen eleminatorischer Angriffe wirklich analysieren und begreifen, dann öffnen sich neue, politische Wege, um sie zu verhindern. In diesem Fall kann die Arbeit von uns Akademikern wirklich helfen, die Welt zu verändern."

    Mindestens 130 Millionen Menschen, schreibt Goldhagen, wurden weltweit durch Genozid und politischen Massenmord im 20. und 21. Jahrhundert getötet. Das sind mehr Opfer als in konventionellen Kriegen. Daraus schließt der Autor: Völkermord ist schlimmer als Krieg. Und er fragt: Was sind die Bedingungen, die Motivationen und die Mittel von Völkermord und jener zugrunde liegenden Politik, die Goldhagen als "Eliminationismus" bezeichnet? Was treibt die Täter, was macht ganz gewöhnliche Menschen zu Massenmördern, und wie kann die internationale Staatengemeinschaft Genozide verhindern?

    Goldhagen analysiert und vergleicht die Völkermorde und systematischen Massenvertreibungen des vergangenen und gegenwärtigen Jahrhunderts: den Genozid der Türken an den Armeniern, die sowjetischen Gulags, den Holocaust, den Terror der Roten Khmer in Kambodscha, Saddam Husseins Vernichtungsfeldzug gegen irakische Kurden, den Völkermord der bosnischen Serben an ihren muslimischen Nachbarn, der Hutu an den Tutsi in Ruanda, oder das brutale Wirken von Regierungsmilizen gegen Rebellen in Darfur.

    Immer wieder betont Goldhagen: Völkermord ist keine von Gott gesandte Geißel, auch keine irrationale Eruption eines anthropologisch verwurzelten Hasses, sondern ein politisches Programm - gespeist und angetrieben von sorgsam gezüchteten Ressentiments.

    "Hier geht es nicht um die menschliche Natur. Massenmord und –eliminierung finden nicht zwangsläufig und unausweichlich statt. Sie werden nicht durch transnationale Kräfte verursacht, die sich unserer Kontrolle entziehen. (...) Das Problem ist politischer Art."

    In seinem jüngsten Werk knüpft Goldhagen an einige seiner Thesen aus "Hitlers Willige Vollstrecker" an, jenem Buch, das ihn 1996 schlagartig berühmt machte. Fast alle modernen Völkermorde, schreibt Goldhagen, würden von den Führern anti-demokratischer Regime in Gang gesetzt – mit dem klaren Ziel, bestimmte ethnische, politische oder religiöse Gruppen zu vernichten. Und fast alle Vernichtungsprogramme würden von einer bereitwilligen Bevölkerung eifrig ausgeführt. Schließlich, sagt Goldhagen, würden Genozide und massenhaftes Morden fast nie - oder erst spät - von außen gestoppt, sondern endeten in der Regel erst, wenn das Regime selbst entschieden habe, dass der Job getan sei.

    Wie bereits in "Hitlers willige Vollstrecker", so will Daniel Goldhagen auch in seinem neuesten Werk emotional aufrütteln, provozieren und Widerspruch herausfordern. Und zwar gleich im ersten Absatz des ersten Kapitels. Der nämlich lautet:

    "Harry Truman, der 33. Präsident der Vereinigten Staaten, war ein Massenmörder. Zwei Mal befahl er, Atombomben auf Städte abzuwerfen. (...) Truman wusste, dass jede Bombe Zehntausende japanische Zivilisten töten würde, die in keinerlei Beziehungen zu irgendwelchen militärischen Operationen standen."

    Immerhin gesteht Goldhagen ein: Trumans politische Motivation unterscheidet sich von den Beweggründen eines Stalin oder Pol Pot:

    "Wir mögen Trumans Taten anders erklären und ihn selbst anders beurteilen als andere Massenmörder der Geschichte. Aber alle Erklärungen ändern nichts an dem, was er getan hat."

    Daniel Goldhagen wurde in Boston geboren, wo er bis heute mit Ehefrau Sarah, einer Architekturkritikerin, und den beiden gemeinsamen Kindern lebt. Sein Vater ist der angesehene Harvard-Historiker Erich Goldhagen, der den Holocaust im jüdischen Ghetto Czernowitz überlebte. Daniel Goldhagen studierte in Harvard und verbrachte als Fulbright-Stipendiat ein Jahr in Deutschland. Im Archiv für nationalsozialistische Verbrechen in Ludwigsburg sammelte er damals den Großteil der Quellen für "Hitlers Willige Vollstrecker". 2002 veröffentlichte er sein zweites Buch, eine ebenfalls umstrittene Studie über die katholische Kirche und den Holocaust.

    In den USA stieß "Schlimmer als Krieg" bislang auf weitgehend positive Resonanz. Die "einschüchternde, beschwörende Prosa", schreibt das Branchenblatt "Publishers Weekly", mit der Goldhagen die Details der Grausamkeiten beschreibe, mache das Buch weniger zu einem akademischen Werk, zu einer neuen Theorie, als vielmehr zu einem "Register für die Katalogisierung menschlicher Schandtaten".

    Im letzten Teil seines Buches widmet sich Goldhagen dem politischen Dreisatz "Prävention – Intervention – Bestrafung": Wie kann die internationale Staatengemeinschaft Völkermorde verhindern, stoppen und sanktionieren? Bisher, sagt Goldhagen, sähen die westlichen Demokratien – allen voran die USA und die großen europäischen Nationen – den Gewaltakten weitgehend tatenlos zu. Die UNO hält er nicht nur für nutzlos, sondern für eine Organisation, die den Tätern Vorschub leiste. Und auch die Internationalen Straftribunale seien eher politische Symbole als wirkungsvolle Instrumente der Abschreckung.

    Goldhagens Vorschlag: Die demokratischen Staaten der Welt müssten dafür sorgen, dass die Kosten-Nutzen-Rechnung für Völkermörder, für Führer meist armer, diktatorischer Regime, nicht mehr aufgehe, dass der Preis für Massenmord zu hoch und die drohende Strafe zu furchterregend sei.

    "Ich rufe dazu auf, Genozide und eliminatorische Angriffe als das zu behandeln, was sie sind: Kriege gegen die Menschheit. Nach dem Kriegsrecht können die Aggressoren als Freiwild behandelt und getötet werden. In den USA gibt es bereits ein Kopfgeld-Programm für Terroristen. Die Internationale Gemeinschaft sollte auch ein Kopfgeld auf Völkermörder aussetzen, auf die Täter, die Hunderttausende, Millionen Menschen dahinschlachten. Die einzige Alternative ist, nichts zu tun. Und wenn die Völkermörder wissen, dass sie straflos davonkommen, werden sie immer und immer weiter machen".

    So endet "Schlimmer als Krieg" mit einem moralischen Appell an die Führer der demokratischen Welt. In der Debatte über das Buch mögen Historiker und Völkerrechtler anzweifeln, ob sich Goldhagen mit seinen politischen Forderungen auf dem Boden der Realpolitik bewegt. Manche werden seine Vergleiche schief, seine Vorstellungen naiv nennen. Aber derartige und noch viel harschere Kritik ist Daniel Goldhagen ja längst gewohnt.

    Daniel Goldhagen: Schlimmer als Krieg: Wie Völkermord entsteht und wie er zu verhindern ist
    Siedler Verlag
    704 Seiten, 29,95 Euro