Amill Gorgis singt ein aramäisches Lied. Er lebt seit 45 Jahren in Berlin, Deutsch ist ihm längst zur Alltagssprache geworden. Doch wenn er auf Aramäisch singt, dann ist das für ihn nicht nur die Sprache seiner Religion, sondern immer auch ein Stück Heimat. Gorgis ist als Teil der aramäisch-sprachigen Gemeinschaft in Syrien aufgewachsen, in einem Dorf mit muslimischen Kurden und Arabern. Der Völkermord an den syrisch-orthodoxen Christen lag damals bereits 40 Jahre zurück, aber die Folgen waren für ihn schon als Kind spürbar, sagt Gorgis:
"Es fing damit an, dass ich mich gewundert habe, dass ich keinen Großvater, keine Großmutter hatte, sowohl mütterlicherseits als auch väterlicherseits und ich hab natürlich nach ihnen gefragt, und mein Vater hat mir die Geschichte erzählt, wie seine Eltern in seinem Dorf umgebracht worden sind, und wie er als kleiner Junge vorher gerettet wurde, indem er zu seiner Großmutter in die Stadt gebracht wurde, weil man das geahnt hatte."
Eine Ahnung, die sich auf den Vater übertrug. Manchmal schlief er mit einer Pistole unter dem Kopfkissen, erinnert sich Gorgis.
"Ich habe damals zu ihm gesagt: Vater, warum musst du mit einer Pistole unter dem Kopfkissen schlafen? Für mich kam dieses Dorf sehr friedlich vor, ich hatte keine Angst, und er hat immer wieder zu mir gesagt: Ach, mein Sohn, man weiß es nie. Anscheinend hat er dieses Trauma gehabt, dass es plötzlich anders sein kann, und dann muss man vorbereitet sein."
Die aramäisch-sprachigen Christen aber waren, trotz mancher Ahnungen, nicht wirklich vorbereitet auf das, was auf sie zukam, genauso wenig wie die beiden anderen großen christlichen Minderheiten im Osmanischen Reich: die Armenier und die griechisch-orthodoxen Christen Kleinasiens.
Kein Platz für christliche Minderheiten
Die aramäisch-sprachige Gemeinschaft lebte seit Jahrhunderten in einem Gebiet, das sich von Damaskus über Diyarbakir in Zentral-Anatolien bis nach Ninive in Mesopotamien erstreckte, also aus heutiger Sicht Teile Syriens, der Türkei, des Iraks und des Irans umfasste.
Für die christlichen Minderheiten aber, die sich auch ethnisch als Minderheiten verstanden, war im nationalistischen Konzept der regierenden Jungtürken im Osmanischen Reich kein Platz: Sie galten als nicht assimilierbar. So erklärte der an einer deutschen Realschule in Aleppo unterrichtende Lehrer Martin Niepage in einer 1916 an die deutschen Reichstagsabgeordneten verschickten Schrift:
"Dem Jungtürken schwebt das europäische Ideal eines einheitlichen Nationalstaates vor. Die nicht-türkischen mohammedanischen Rassen wie Kurden, Perser, Araber und so weiter hofft er auf dem Verwaltungswege und durch türkischen Schulunterricht unter Berufung auf das gemeinsame mohammedanische Interesse turkifizieren zu können. Die christlichen Nationen - Armenier, Syrer, Griechen - fürchtet er wegen ihrer kulturellen und wirtschaftlichen Überlegenheit und sieht in ihrer Religion ein Hindernis, sie auf friedlichem Wege turkifizieren zu können. Sie müssen daher ausgerottet oder zwangsislamisiert werden."
Millionenfacher Mord
Es waren drei große christliche Gruppen, die von diesem Vertreibungs- und Vernichtungsprozess betroffen waren. Dass in der Öffentlichkeit meist nur über den Völkermord an den Armeniern gesprochen wird, hat verschiedene Gründe. Zum einen lebten viele Armenier, anders als die aramäisch-sprachigen Christen, in großen Städten und damit auch in der Nähe von europäischen Diplomaten, die von den Gräueltaten erfuhren und über sie berichten konnten.
Zum anderen, so die Literaturwissenschaftlerin Tessa Hofmann, die sich seit Langem mit dem osmanischen Genozid beschäftigt, hat keine der anderen Gruppen in so kurzer Zeit so viel Tote zu beklagen: Von Frühjahr 1915 bis Herbst 1916 fielen den Deportationen und Massakern landesweit rund 1,5 Millionen Armenier zum Opfer.
"Im Unterschied dazu erstreckt sich die Vernichtung der griechisch-orthodoxen Christen über ein Jahrzehnt und beschränkt sich bis zum Ende des Erster Weltkrieges auf regional begrenzte Massaker und Deportationen, nimmt dann aber, ab 1919, wenn man es so formulieren will, Fahrt auf, es ist die letzte und auch die entscheidende Phase."
Am Ende allerdings seien die Ergebnisse vergleichbar:
"Bei den Griechisch-Orthodoxen, die vor dem Ersten Weltkrieg 2,5 bis 3 Millionen Menschen umfassten, sterben über 1,5 Millionen, bei den aramäisch-sprachigen Christen, mit vielleicht einer Million Vorkriegsbevölkerung sind über 600.000 umgekommen, wobei man sich bei den aramäisch-sprachigen Christen klarmachen muss, es ist die kleinste Gruppe gewesen, sie war sehr zersiedelt, nicht nur auf dem Osmanischen Staatsgebiet, sondern auch im Iran."
Und noch etwas, so die Literaturwissenschaftlerin, unterscheidet die armenischen von den aramäisch-sprachigen Opfern.
"Wir wissen also, dass die aramäisch-sprachigen Christen bis heute stammesgesellschaftliche Strukturen haben, im Unterschied zu den Armeniern. Da wäre zu fragen, wie sich das berührt, überschneidet, eventuell mit den benachbarten oder mit ihnen in Gemeinschaft lebenden Kurden, und wie läuft dann eine solche Verflechtung unter Genozid-Bedingungen ab, wohin führt sie: Führt sie zur Rettung oder führt sie zur Tötung der solcherart ineinander verschränkten Volksgruppen?"
Für die Großeltern von Amill Gorgis führte sie in den Tod, doch in seiner syrischen Heimat durfte darüber nicht geredet werden. Umso wichtiger ist es für ihn, dies heute zu tun. Neben dem Völkermord an den Armeniern dürfe auch der an den Aramäern und den Griechen Kleinasiens nicht in Vergessenheit geraten, ist der Ökumene-Beauftragte der syrisch-orthodoxen Kirche in Berlin überzeugt. Gemeinsam mit Tessa Hofmann engagiert sich Gorgis deshalb in der Fördergemeinschaft für eine ökumenische Gedenkstätte für Genozid-Opfer im Osmanischen Reich. In den Grundzügen gibt es die Gedenkstätte bereits: Auf dem evangelischen Luisenfriedhof in Berlin-Charlottenburg erinnern drei Mausoleen an die drei Volksgruppen. Zwischen ihnen befindet sich seit Kurzem eine Tafel mit der Inschrift: "Gedenkt der Opfer des Osmanischen Genozids 1912 bis 1922".
"Christenfreie Zonen"
Wie alle Gedenkstätten soll auch diese nicht nur ein Ort des Erinnerns und des Trauerns für die Nachfahren der Überlebenden sein, sondern auch Fragen nach der Zukunft aufwerfen. Und die sieht Amill Gorgis, mit Blick auf den religiösen Fundamentalismus in der Region, sehr düster.
"Das, was in der Türkei vollzogen worden war, vollzieht sich im Irak, und wir sehen ähnliche Strukturen jetzt in Syrien: Einige Teile wurden jetzt zu christenfreien Zonen gemacht und andere Teile sind sehr stark bedroht, da sind sie wirklich nur noch einige Schritte davon entfernt. Also wenn das so weitergeht, dann ist das Schicksal der Christen im Mittleren und Nahen Osten besiegelt.