Die Vernichtung der Armenier im Osmanischen Reich vor 100 Jahren ist eine weltweit anerkannte Tatsache, die heute nur noch von türkischen Nationalisten geleugnet wird. Ankara spricht bis heute offiziell bloß von kriegsbedingten Opfern und streitet die Zahl von über einer Million Ermordeten ab. Aber die Welt weiß: Es war eine gezielte Vernichtung, dafür gibt es zahlreiche Dokumente und Augenzeugenberichte wie den der beiden Krankenschwestern Thora von Wendel und Eva Elvers, die einen Deportationszug in der Nähe der ostanatolischen Stadt Erzincan im Sommer 1915 schildern:
"Der Jammer war unbeschreiblich. Es waren nur zwei Männer übrig geblieben, von den Frauen waren einige geisteskrank geworden. Einige riefen, wir wollen Moslems werden, wir wollen Deutsche werden, was ihr wollt, nur rettet uns. Jetzt bringen sie uns nach Kemah und schneiden uns die Hälse ab. Andere flehten uns für ihre Kinder an, wieder andere zogen stumpf und teilnahmslos daher. Als wir uns dem Stadtrand näherten, kamen viele Türken geritten und holten sich Kinder oder junge Frauen ab. Am Eingang der Stadt machte die Schar einen Augenblick halt, bevor sie den Weg zur Kemah-Schlucht einschlug [...] angetrieben von peitschenschwingenden Gendarmen. [...] In lautloser Stille zogen sie dahin, die Kleinen und die Großen, alle, alle, nur um dann zusammengebunden vom hohen Felsen in die Fluten des Euphrat gestürzt zu werden."
Das Deutsche Reich war damals im Ersten Weltkrieg Waffenbruder der Türken, schaute aber weg und duldete den Völkermord - auch das ist weitgehend bekannt. Aber war es vielleicht doch mehr als nur Duldung? Gar "Beihilfe zum Völkermord", wie der Journalist Jürgen Gottschlich in seinem gleichnamigen Buch fragt? Das Ergebnis seiner Recherchen legt das nahe. Das Unglück habe mit dem deutsch-türkischen Kriegsbündnis seinen Lauf genommen, in das die Türken von Berlin gedrängt worden seien. Und dann habe es in Konstantinopel eine Handvoll deutscher Diplomaten und Militärs gegeben, die einen großen Einfluss auf die regierenden Jungtürken gehabt hätten:
"Eine kleine Gruppe von Leuten, die schon vor dem Krieg die Orientpolitik des Deutschen Reiches mit ausgehandelt hatten. Sie sahen eine deutsche Weltmachtperspektive für Deutschland darin, dass sie das Osmanische Reich auf ihre Seite ziehen und auch gegen England einsetzen können. Und das waren auch die Leute, die gesagt haben: Ok, unsere Weltmachtperspektive ist allemal wichtiger als die Armenier, die dabei dann eben drauf gehen."
Diplomatische Bemühungen
Der Einblick in die wichtigen türkischen Archive blieb Gottschlich wie allen anderen verwehrt. Doch gelingt es ihm zu zeigen, wie die deutschen und türkischen Kriegsstrategen, je mehr sie im Kaukasus gegen Russland in Bedrängnis gerieten, einen Sündenbock brauchten, der ihnen angeblich in Anatolien in den Rücken fiel. Ein paar lokale Aufstände von Armeniern, an deren Niederschlagung deutsche Offiziere beteiligt waren, genügten, um die Deportationen in Gang zu setzen. Der damalige Botschafter in der Türkei, Hans von Wangenheim, telegrafierte nach Berlin, man solle den Türken bei den Strafmaßnahmen gegen die Armenier nicht in den Arm fallen:
"Bis Ende Juni, Anfang Juli war auch dem deutschen Botschafter Wangenheim klar, dass aus dieser Deportation, die er auch befürwortet hat, weil sie angeblich militärisch notwendig ist, dass aus den Deportationen Vernichtung wird. Das schreibt er dann auch explizit: Aufgrund der Berichte, die er kriegt, ... kann man nicht mehr anders als sagen: Es geht darum, die armenische Rasse 'auszulöschen'."
Auch der Historiker Michael Hesemann geht in seinem Buch "Völkermord an den Armeniern" auf die Rolle Deutschlands ein - will sich anders als Gottschlich bei der Frage einer direkten Mitwirkung allerdings nicht festlegen. Dafür stellt Hesemann die These auf, bei dem Verbrechen habe es sich in erster Linie um einen "christlichen Völkermord" gehandelt, um den "Heiligen Krieg" einer "islamo-faschistischen Ideologie". Doch dafür, dass allgemeiner Christenhass und nicht die Angst vor dem Machtverlust das treibende Motiv der Täter um Kriegsminister Enver Pascha war - dafür ist die Beweislage dünn. Hesemann zitiert noch unveröffentlichte Dokumente aus den Archiven des Vatikans, überwiegend Briefe von katholischen Gesandten und armenisch-katholischen Geistlichen an den Heiligen Stuhl, in denen die Grausamkeiten und die Verzweiflung geschildert werden - aber auch die vergeblichen diplomatischen Bemühungen, auf die Verantwortlichen in der türkischen Regierung Einfluss zu nehmen. So schreibt der Apostolische Delegat in Konstantinopel, Monsignore Dolci im Juli 1915 nach Rom:
"Ich für meinen Teil habe es nicht versäumt, bei der Regierung vorstellig zu werden. Aber leider ist dieses Unterfangen extrem schwierig, weil der Großwesir, der Außenminister, über ungenügenden Einfluss auf das Kabinett und die anderen Minister verfügt, welche von grenzenlosem Chauvinismus erfüllt sind und auch die absolute Macht zur Durchführung an die lokalen Behörden im Landesinnern delegieren, mit der strikten Anweisung, den Auftrag auszuführen. So können sie, wenn ihre eigenen Befehle ausgeführt sind, trotzdem noch Unkenntnis über die Details vortäuschen. So verstehen Sie, Eminenz, was dieser Staat Schlimmes der nichtmuslimischen Bevölkerung Kleinasiens antut. Die christlichen Mächte hätten die Pflicht, hier einzugreifen."
Bundesregierung soll endlich von "Völkermord" sprechen
Doch auch von Papst Benedikt XV. kein lauter Aufschrei, sondern lediglich mahnende Briefe an den längst entmachteten Sultan und an den Deutschen Kaiser. Den lassen die Appelle kalt, je näher die eigene Niederlage rückt. Aber es gibt unter den deutschen Gesandten in der Türkei auch Ausnahmen, die bei Gottschlich wie bei Hesemann Anerkennung für ihren Mut bekommen. Etwa die deutschen Konsule von Aleppo und Erzurum, Walther Rössler und Erwin von Scheubner-Richter, die angesichts des Unrechts wieder und wieder anklagende Depeschen nach Berlin schicken. Scheubner-Richter beschreibt in einem Brief die Todeszüge und fragt, warum Deutschland nicht hilft:
"Die Frauen warfen sich und ihre Kinder vor mein Pferd und baten um Hilfe. Das Elend, die Verzweiflung und Erbitterung sind groß. Der Anblick dieser jammernden Armen war mitleiderregend und peinlich - noch peinlicher aber war für mich das Gefühl, nicht helfen zu können. Die armenische Bevölkerung sieht im Vertreter des Deutschen Reiches zurzeit ihren einzigen Schutz und erwartet Hilfe."
Nach der Kapitulation evakuiert die deutsche Marine die wichtigsten türkischen Verantwortlichen für den Genozid nach Berlin - Großbritannien will sie für den Massenmord vor Gericht stellen. Doch dort wäre dann auch über die Rolle der Deutschen gesprochen worden. Über die aber sollte, das betonen beide Autoren, wenigstens heute, in diesem Jahr der 100. Wiederkehr des Völkermordes, endlich deutlich gesprochen werden. Auch sollte die Bundesregierung den Völkermord an den Armeniern endlich 'Völkermord' nennen, auch wenn das zu einer Verstimmung mit Ankara führen sollte. Jürgen Gottschlich erinnert an die Erklärung des Deutschen Bundestages vor zehn Jahren anlässlich des 90. Jahrestages:
"Damals, 2005, ist darüber geredet worden, was wird eigentlich in deutschen Schulen darüber unterrichtet. Und dann gab es diesen kleinen Skandal in Brandenburg, wo sie das in die Schulbücher reingenommen haben, und seitdem ist Ruhe im Wald."
Jürgen Gottschlich: Beihilfe zum Völkermord. Deutschlands Rolle bei der Vernichtung der Armenier, Christoph Links Verlag, 343 Seiten, 19,90 Euro, ISBN: 978-3-861-53817-2
Michael Hesemann: Völkermord an den Armeniern, Herbig Verlag, 351 Seiten, 25 Euro, ISBN: 978-3-776-62755-8