Sonntagmorgen kurz nach zehn. Die Glocke der Mutter-Maria Kirche ruft zur heiligen Messe. Der Priester durchschreitet im Dörfchen Vakıflı ein Weihrauchfass schwenkend das schmucke, fast fensterlose Gotteshaus. Die vorwiegend älteren Gläubigen empfangen seinen Segen und bekreuzigen sich.
Gesang ist wichtiger Bestandteil der armenischen Liturgie. Der Chor von Vakıflı besteht an diesem Sonntag aus zwei jüngeren Frauen und einer älteren Sängerin.
Alle zwei, drei Wochen kommt ein Priester aus der Provinzhauptstadt Antakya in das 150-Seelen-Dorf. Vakıflı hat schon lange keinen eigenen Geistlichen mehr. Vakıflı ist das einzige, das letzte noch ausschließlich von Armeniern bewohnte Dorf der gesamten Türkei.
"Wir fühlen uns hier manchmal, als kämen die Leute, um eine vom Aussterben bedrohte und geschützte Vogelart zu bestaunen... "
gibt Kuhar Kartun offenherzig zu. Die 52-Jährige betreut die Dorfkirche Mutter Maria.
"Das Interesse ist ja schön und gut, aber manchmal nervt’s. Es gibt Besucher, die fragen mich, woher wir eigentlich kommen. Ich antworte dann: Wir waren schon immer hier. Und Sie, woher kommen Sie?"
53 Tage Widerstand
Vor 100 Jahren hat Vakıflı Berühmtheit erlangt. Um der sicheren Vernichtung zu entgehen, beschlossen im Juli 1915 rund 4000 Bewohner von sechs armenischen Dörfern, sich auf dem Musa Dağı genannten Mosesberg zu verschanzen. 53 Tage widersetzten sie sich erfolgreich angreifenden osmanischen Truppen, dann wurden sie von französischen Kriegsschiffen aufgenommen und ins ägyptische Port Said gebracht.
Solange er sich erinnern könne, sei der Kampf ihrer Altvorderen nur selten ein Thema gewesen im Dorf, sagt Panos Çaparyan. Der rüstige 83-jährige ist Chronist von Vakıflı. Über die Belagerung des Musa Dağı vor 100 Jahren hat er ein bislang noch unveröffentlichtes Buch geschrieben.
"Mein Grossvater erzählte einmal, dass die Ortsvorsteher der Gegend damals Telegramme erhielten. Darin hieß es, man solle sich auf die Deportation vorbereiten. Er hat erzählt, wie das Dorf gegrübelt hat: deportieren lassen oder in die Berge gehen? Schließlich hat man sich auf die Flucht in die Berge geeinigt."
1355 Meter ist der Mosesberg hoch, in dessen Schatten Vakıflı liegt. Jedes Frühjahr senke sich über sein Heimatdorf der lange Schatten der Vergangenheit, klagt der Tierarzt Cem Çapar.
"1915 ist kein Datum, an das wir uns ständig erinnern. Wir denken nicht Tag und Nacht darüber nach. Ja, es ist wichtig für uns und ja, es gehört zu unserem Leben. Aber im Grunde ist es so, dass wir uns daran erinnert fühlen, weil uns ständig Journalisten danach fragen und uns auf 1915 aufmerksam machen."
Mehr als eine Million Armenier sollen 1915/16 umgekommen, umgebracht, ermordet, planmäßig vernichtet worden sein - die Meinungen darüber, wie sie zu Tode kamen, gehen in der Türkei weit auseinander. Der einzige erfolgreiche armenische Widerstand gegen Vernichtung und Untergang wurde am Mosesberg knapp 25 km westlich von Antakya in der heutigen türkischen Provinz Hatay geleistet. Weltweit bekannt gemacht hat den Berg der Schriftsteller Franz Werfel mit seinem Buch „Die 40 Tage des Musa Dagh“.
Dieses Buch liest die 31-jährige Esra. Im Gedenken an die Ereignisse von 1915 ist sie mit ihrer Theatertruppe aus Adana ins Dörchen Vakıflı gekommen.
"Man kann sehr intensiv nachempfinden, was die Menschen da auf dem Berg durchgemacht haben. Ich persönlich bin überzeugt davon, dass es in diesem Land einen Völkermord an den Armeniern gegeben hat."
Türkei verwahrt sich gegen den Vorwurf
Die Türkei verwahrt sich bis heute entschieden gegen den Vorwurf des Völkermords. In den Wirren des Ersten Weltkriegs seien viele Menschen umgekommen – Muslime und Nichtmuslime. Armenier seien eben auch unter den Opfern gewesen. Der Politikwissenschaftler Cengiz Aktar will eine solche Relativierung nicht gelten lassen.
"Es gab mal eine Gruppe von Menschen in diesem Land, die sich selbst Armenier nannten - bis 1915. Die gibt es nicht mehr. Ich weiß nicht, wie du das nennst und wie wir das nennen sollen? Tatsache ist - egal ob du das Völkermord nennst oder auch nicht - es gibt sie nicht mehr. Sie wurden ausgelöscht."
"1915 gab es 2500 armenische Monumente: Kirchen, Klöster, Schulen, große Gebäude. Nur 250 sind übrig. Meistens sind sie in schlechtem Zustand. Es ist eine totale Auslöschung, ein totaler Völkermord."
Noch vor nicht allzu langer Zeit hatte allein schon die Erwähnung des Begriffs Völkermord im Zusammenhang mit den Massenmorden an Armeniern juristische Folgen.
Vieles habe sich zum Positiven geändert, räumt Garo Paylan ein. Er ist Koordinator für armenische Schulen in Istanbul.
"Beispielsweise kann ich heute im Fernsehen auftreten, an Talk-Shows oder an Konferenzen teilnehmen. Überall spreche ich vom armenischen Genozid. Ich fordere zur Auseinandersetzung mit dem Verbrechen auf. Das ist eine gewaltige Veränderung. Früher wäre so etwas undenkbar gewesen – nicht nur im Fernsehen, sogar auf der Straße. Darüber wurde nur zu Hause in der Familie gesprochen. Unsere Eltern haben uns dazu erzogen, niemals in der Öffentlichkeit darüber zu reden."
Nun wird in der Öffentlichkeit darüber gesprochen. Couragierte Journalisten, Intellektuelle, Historiker und Wissenschaftler führen eine Debatte, zu der die türkische Zivilgesellschaft, nicht aber der türkische Staat bereit ist. Denn, so Cengiz Aktar, es gehe nicht nur darum, wann, wo, wie und wieviel Armenier getötet wurden und gestorben seien. Es gehe vor allem um das Warum und Wofür. Denn der Umgang mit den christlichen und ethnischen Minderheiten sei in der Endphase des zerfallenden Osmanischen Reiches eine der Kernfragen der politischen Kräfte gewesen.
"Gründung und Ideologie der Republik Türkei basieren auf der Auslöschung der nicht-muslimischen Gruppen Anatoliens. Nicht nur der Armenier, auch der Griechen, die auf andere Weise verschwanden, der Syrianer und so fort. Das war conditio sine qua non - die Voraussetzung für die Erfindung der türkischen Nation."
60 Prozent des Gebietes verloren
Das Osmanische Reich war ein Vielvölkerstaat. Die Herrscher – Sultan genannt – waren sunnitische Muslime, die seit dem frühen 16. Jahrhundert gleichzeitig den Titel Kalif trugen. Damit wollten sie ihren Anspruch als geistige Führer der sunnitischen Muslime unterstreichen. Ethnische Türken bildeten in diesem sich über drei Kontinente erstreckenden Imperium zwar die herrschende Klasse. Aber sie waren lange eine Minderheit im eigenen Reich. Das änderte sich in der apokalyptischen Endphase, erklärt der türkische Historiker Taner Akçam.
"Während des 19. Jahrhunderts hat das Osmanische Reich ungefähr 60 Prozent seiner Gebiete verloren – das war noch vor dem Balkankrieg. Innerhalb eines Monats, im Oktober 1912, hat das Osmanische Reich dann mehr als 80 Prozent seiner europäischen Gebiete und knapp 70 Prozent seiner europäischen Untertanen verloren. Dadurch entwickelte die (herrschende) Partei für Einheit und Fortschritt die Vorstellung, dass der Zusammenbruch des Imperiums unmittelbar bevorstehe."
Ursprünglich sollten die Armenier nach Russland abgeschoben werden, das sich seit dem 19. Jahrhundert als Schutzmacht der Armenier gerierte. Doch Russland war Ende 1914 zum Kriegsgegner im Ersten Weltkrieg geworden und die osmanischen Feldherren fürchteten, Armenier könnten sich der russischen Armee anschließen. Deshalb suchte die herrschende Partei für Einheit und Entwicklung nachanderen Wegen.
"Sie haben den Begriff "interner Tumor" benutzt. Als wäre das ein Bakterium im Körper, das entfernt werden müsste. Sie haben den Begriff Austreiben des Tumors aus dem Körper des Osmanischen Reiches verwendet. Sie waren zunehmend davon überzeugt, dass die Tolerierung der osmanischen Christen zum nationalen Zusammenbruch führen würde. Dann haben sie durch eine Reihe von Entscheidungen die „ethno-religiöse Homogenisierung“ Anatoliens beschlossen."
Die "ethno-religiöse Homogenisierung Anatoliens" – das bedeutete konkret: Anatolien den muslimischen Türken. Vor dem Ersten Weltkrieg habe der christliche Bevölkerungsanteil Anatoliens bei 25 bis 30 Prozent gelegen, unterstreicht der Historiker Taner Akçam unter Bezug auf osmanische Zählungen. Vier bis fünf Millionen Christen wurden von der herrschenden Partei für Einheit und Fortschritt als potentielle Bedrohung angesehen, erklärt der Publizist Aydın Engin. Die Türkei stelle die Ereignisse mit ihren blutigen Folgen bis heute als Kollateralschäden des heftig tobenden Ersten Weltkrieges dar. Niemand, so Ankaras offizielle Haltung, habe Armenier absichtlich ins Verderben geschickt. Aydın Engin widerspricht.
"Nein, nein, nein. Das war reine Absicht. Geplant."
Nicht vernichten, nur entfernen
Der Plan habe nicht darin bestanden, die Armenier mit Kind und Kegel zu vernichten, sondern sie mit Mann und Maus aus ihren angestammten Siedlungsgebieten in Anatolien zu entfernen. Ihr Tod sei dabei billigend in Kauf genommen worden. Rund 60.000 Armenier mögen heute noch in der Türkei leben, die meisten davon in Istanbul. Im fernen Osten des Landes, dem traditionellen armenischen Siedlungsgebiet, finden sich nur noch vereinzelte Spuren dieses anatolisch-kaukasischen Volkes, das schon viele Jahrhunderte vor Ankunft der ersten türkischen Nomaden und Krieger dort lebte.
Garo Paylan, der Koordinator für armenische Schulen in Istanbul, glaubt nicht, dass die armenische Gemeinschaft wieder jemals in Anatolien wird Fuß fassen können. Ihm geht es um Erinnern und Gedenken.
"Wir wollen allen erzählen, dass sich 1915 eines der vieleicht dunkelsten Kapitel in der Geschichte Anatoliens abgespielt hat. Das ist unsere Mission. Das ist wichtg für alle 77 Millionen Staatsbürger dieses Landes. Wir Armenier sind ja selbst fast nicht mehr existent."
"Was wir vom Staat erwarten, ist, dass er seine Bürger und die Gesellschaft nicht mehr belügt. Die vor 100 Jahren geschaffene Nation basiert auf einer Lüge. Wir leben mit diesen Menschen, die an diese Lüge glauben. Die Menschen sind fest davon überzeugt, dass diese Nation eine glorreiche Gründerzeit hatte. Wir wollen, dass sich diese Gesellschaft mit seiner Geschichte auseinandersetzt, damit solche Verbrechen nie wieder begangen werden."
Das kleine Dorf Vakıflı ist heute mit seinen 150 Einwohnern das letzte zusammenhängende armenische Siedlungsgebiet der Türkei. Das Dorf lebt von Landwirtschaft und Tourismus. Die wenigen Kinder gehen auswärts zur Schule. Junge Leute gibt es kaum noch. Die meisten sind auf der Suche nach höherer Bildung und Arbeit weggegangen. Vakıflı vergreise, bedauert Panos Çaparyan. Aber das gehe allen Dörfern der Umgebung so. Der 83-jährige hat sein Buch über den armenischen Widerstand auf dem nahe gelegenen Mosesberg zur Erinnerung geschrieben, wie er betont, nicht zur Auf- oder Abrechnung.
"Wenn sich unsere Großväter gegenseitig massakriert haben - was können wir und die anderen denn dafür? Wir sind hier mit allen gut befreundet. Ich geh mit meinen türkischen, alewitischen, sunnitischen und orthodox-arabischen Freunden Schnaps trinken. Wir machen uns keine gegenseitigen Vorwürfe. Wir leben in Frieden. Und das ist auch richtig so."