Jürgen Liminski: Heute vor 100 Jahren begann mit der Schlacht am Waterberg der Völkermord an den Hereros im damaligen Deutsch-Südwest-Afrika, dem heutigen Namibia. Es hat lange gedauert, bis dieser Begriff des Völkermords auch in der Politik an höchsten Stellen genannt wurde. Bundestagspräsident Lammert ging vor ein paar Tagen ohne Umschweife auf dieses dunkle Kapitel deutscher Geschichte ein.
Am Telefon begrüße ich den Historiker und vor allem Genozid-Forscher Medardus Brehl von der Ruhr-Universität Bochum. Er hat unter anderem das Buch geschrieben "Vernichtung der Herero. Diskurse der Gewalt in der deutschen Kolonialliteratur". Guten Abend, Herr Brehl.
Medardus Brehl: Guten Abend!
Liminski: Herr Brehl, das Ende der Kolonialherrschaft Deutschlands in Namibia fällt in etwa zusammen mit dem Völkermord an den Hereros. Besteht da ein Zusammenhang und was sind überhaupt die Motive für solche Verbrechen an der Menschlichkeit?
Brehl: Einen direkten Zusammenhang zwischen dem Ende der deutschen Kolonialzeit in Namibia und dem Völkermord an den Herero gibt es eigentlich nicht. Da liegt ja fast ein Jahrzehnt zwischen. Der Völkermord an den Herero hat stattgefunden im Kontext des Kolonialkrieges der Jahre 1904 bis 1908; das Ende der deutschen Kolonialzeit in Namibia fällt in den Ersten Weltkrieg, also in den Juli 1915. Da gibt es keinen Zusammenhang.
Was sind die Motive für solche Menschheitsverbrechen?
Die Frage danach: Was sind die Gründe? Was sind die Motive für solche Menschheitsverbrechen wie Völkermorde? Das zentrale Motiv für eine Politik des Völkermords ist die ideologisch begründete Veränderung oder Umgestaltung einer Gesellschaft in kürzester Frist mit gewaltsamen Mitteln, sei es hin zu einer ethnischen Homogenisierung, sei es hin zu einer religiösen Homogenisierung. Aber zentral ist das Moment eigentlich, einen als nicht integrierbar definierten anderen gewaltsam aus einer Gesellschaft zu entfernen mit den Mitteln eines Völkermords.
Liminski: Also nicht Machtmotive, sondern ideologische Motive?
Brehl: Ich denke, zentral sind ideologische Motive. Für die Beteiligung am Völkermord von einzelnen Tätern kommen natürlich andere Aspekte hinzu wie möglicherweise gruppendynamische Prozesse und so weiter und so fort, aber auf der politischen Ebene wird die Entscheidung zum Völkermord getroffen vor dem Hintergrund eines ideologischen Systems, was sich zum einen sicherlich im Recht weiß, im Sinne der Geschichte zu handeln, und auf der anderen Ebene insbesondere das, was ich eben angesprochen habe, ein ideologisches Gestaltungsziel gewaltsam zu erreichen.
Liminski: Genozid-Forschung ist ein ziemlich junger Wissenschaftszweig, der wohl mit dem theoretischen Siegeszug der Menschenrechte aufkam. Welche Völkermorde waren Objekt der Forschung und welche sind es noch nicht?
Brehl: Ich kann vielleicht ganz kurz einen Satz sagen. Die Genozid-Forschung ist entstanden ursprünglich in angloamerikanischen Forschungszusammenhängen als Comparative Genocide Studies in den 1970er-Jahren. Das Institut, in dem ich arbeite, das Institut für die Diaspora- und Genozid-Forschung, ist das einzige Institut in der Bundesrepublik Deutschland, das diese Forschungsrichtung vertritt, auch mit einer eigenen Perspektive, nämlich der Idee des Strukturvergleichs.
Welche Genozide waren Gegenstand der Forschung? Insbesondere natürlich der Völkermord an den europäischen Juden. Die Schoah ist gut beforscht worden. Der Völkermord an den Herero ist insbesondere anlässlich des 100. Jahrestages im Jahr 2004 ein großes Thema der Forschung gewesen. Der Völkermord an den Armeniern ist beforscht. Teilweise aber natürlich sehr problematisch ist die Forschung dazu, weil die Republik Türkei bis heute viele der maßgeblichen Quellen in den Archiven verschlossen hält, sodass natürlich da eine sehr gute Forschungslage auf der einen Seite ist, auf der anderen Seite durchaus auch noch Forschungsbedarf ist. Auch der Völkermord in Ruanda 1994 ist eigentlich recht gut beforscht, insbesondere in französischen und englischen Kontexten.
Völkermorde, die bisher noch wenig Gegenstand der Forschung gewesen sind, vergleichsweise wenig Gegenstand der Forschung gewesen sind, sind zum einen der Genozid in Kambodscha, der Völkermord der Roten Khmer an der kambodschanischen Bevölkerung 1975 bis '79, und zum anderen beispielsweise etwas, worüber überhaupt nur wenige Leute wissen, die Ermordung von mehr als 200.000 indonesischen Kommunisten und ihrer Familien in den späten 1960er-Jahren. Auch dazu gibt es gerade im europäischen Kontext bisher sehr wenig Forschung.
Der Genozid soll Zukunft gestalten
Liminski: Völkermorde hat es wohl zu allen Zeiten gegeben und die Forschung ist da stark, wo es auch Zeugen und Dokumente gibt. Aber kann man nicht doch auch sagen, dass das 20. Jahrhundert ein besonders dunkles Kapitel der Genozid-Forschung ist?
Brehl: Ja, und dafür gibt es auch Gründe. Alle Beispiele, die ich eben genannt habe, sind ja Völkermorde, die im 20. Jahrhundert stattgefunden haben. Sicherlich hat es Massengewalt, kollektive Gewalt und auch die Vernichtung von ganzen Bevölkerungsgruppen schon vor dem 20. Jahrhundert in der Vormoderne gegeben, aber die Politik des Völkermords hat doch eine spezifische Qualität und das ist einerseits ihre spezifische ideologische Legitimierung, das eingebunden sein in weltanschauliche Systeme, die auf eine Zukunft gerichtet sind. Ein Genozid ist immer eine auf die Zukunft gerichtete Gewalt, die Zukunft gestalten will.
Zum anderen liegt ein wesentlicher Punkt darin: Für diese genozidale Gewalt im 20. Jahrhundert ist der Gedanke eigentlich der Gestaltungsoffenheit der Wirklichkeit, die Idee, dass man so was wie Gesellschaft, dass man so was wie den Staat, dass man die Wirklichkeit und Geschichte als Mensch selbst gestalten kann und dass man sie auch gestalten muss, und dass Gesellschaftsstaat und der Mensch selbst verbesserungsbedürftig sind. Da ist Genozid ein zentrales Mittel der Gestaltung, und das hat natürlich was mit den wissensgeschichtlichen Entwicklungen seit der Aufklärung und im 19. Jahrhundert natürlich auch mit dem aufkommenden wissenschaftlichen Rassismus zu tun, der Idee, dass es bestimmte Völker und Rassen gäbe, die eigentlich an der Spitze der Geschichte stünden, und dass es andere gibt, die eigentlich von der Geschichte aussortiert werden müssen, der Sozial-Darwinismus, die Idee, dass im Kampf der Völker nur die Überlegenen auch überleben dürfen. Das sind, denke ich, solche ideologischen Systeme, die da eine große Rolle spielen.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist natürlich die Idee des homogenen Nationalstaats, der ein spezifisches Problem mit Gruppen hat, die er als nicht integrierbar ansieht. Und die letzte Konsequenz ist, wie eben schon mal gesagt, diesen als nicht integrierbar definierten anderen vernichten zu müssen.
Völkermord wird in der Mitte der Gesellschaft geplant
Liminski: Herr Brehl, worin sehen Sie den Nutzen der Genozid-Forschung? Vergangenheit bewältigen, Gerechtigkeit schaffen, den Sinn für Menschenrechte schärfen?
Brehl: Alles das, was Sie angesprochen haben: Sicherlich erst mal dazu beizutragen, historische Prozesse in ihren Strukturen zu verstehen, das Spezifische eigentlich von Gewaltpolitiken zu verstehen und deutlich zu machen, dass Genozide oder diese Massengewalt, die moderne Massengewalt des Genozids nicht irgendein situationaler Ausbruch eines Volkszorns ist, sondern dass ein solcher Völkermord geplant wird in der Mitte der Gesellschaft und auch getragen wird von Eliten der Gesellschaft und vor allem auch fest anschlussfähig ist an die Wissenshorizonte einer Gesellschaft. Mit dem Blick auf die Herero beispielsweise: Die Vernichtung einer als von der Geschichte überholt, nicht zivilisationsfähigen Bevölkerungsgruppe - so wurden die Afrikaner gesehen - galt eigentlich als legitim, und das muss man einfach so sehen. Das ist, denke ich, ein zentraler Punkt.
Liminski: Genozid-Forschung ist nötig, gerade heute, könnte man daraus schließen. Das war der Historiker und Genozid-Forscher Medardus Brehl. Er lehrt an der Ruhr-Universität Bochum. Besten Dank für das Gespräch, Herr Brehl.
Brehl: Bitte sehr. Danke schön.
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