Der große weiße Lkw ist mit Blumen geschmückt und von der blaugelben Fahne von Bosnien-Herzegowina bedeckt. Begleitet von Polizei biegt er fast behutsam um die Ecke der gelben Nationalbibliothek in Sarajewo. Die Menschen bleiben stehen, fotografieren, eine grauhaarige Frau hebt die Hände zum Gebet. Der Lkw fährt die Überreste von 33 Ermordeten, die heute beerdigt werden. Auf dem großen Friedhof der Gedenkstätte Potocari bei Srebrenica, wo schon mehr als 6.000 Opfer begraben liegen. Auch Muhamed Alic wird unter den Zehntausenden trauern, die erwartet werden:
"Ich muss weinen, wenn ich an die Tausende ermordete junge Männern denke. Wegen nichts. Nur weil sie Muslime waren."
Gemeinsam mit rund 5.000 anderen ist der 91-Jährige von Nezuk bei Tuzla bis nach Srebrenica, gelaufen. Rund 100 Kilometer durch Wälder und Berge. In umgekehrter Richtung war diese Route vor 24 Jahren der qualvolle Fluchtweg aus Srebrenica. Am 11. Juli 1995 beginnt dort der Völkermord. An diesem Tag nimmt die bosnisch-serbische Armee die UN-Schutzzone Srebrenica ein.
Drei Söhne und den Mann verloren
Brutaler Auftakt zur Vertreibung von rund 25.000 Frauen und Kindern und einem Genozid an mehr als 8000 schutzlosen bosnisch-muslimischen Männern und Jugendlichen. Begangen von Soldaten der bosnisch-serbischen Armee und Paramilitärs unter dem Oberbefehl von Ratko Mladic. Heute in Den Haag nicht rechtskräftig verurteilter Kriegsverbrecher. Sein zynischer Auftritt in Srebrenica klingt damals so:
"Guten Tag! Ihr habt viel von mir gehört, jetzt könnt ihr mich auch mal sehen. Ich bin General Mladic. Unter euch sind auch Männer im wehrfähigen Alter. Alle seid ihr sicher. Dieses Mal schenke ich euch das Leben."
Fatima Aljic verliert in Srebrenica ihren Ehemann und ihre Söhne Seval und Dzemal.
"Am 13.Juli 1995 habe ich sie in Kravice noch gesehen, von einem Lkw aus. Sie waren gefangen und standen in einer Reihe. Meinen Sohn Dzemal sah ich mit durchschnittenen Kehle an der Straße liegen. Es lag neben anderen auf dem Boden. Ich habe ihn an der Kleidung erkannt. Er war barfuß und seine Füße waren so blass. Ich habe mich so darüber gewundert. Das Blut war wohl herausgeflossen, sodass die Füße so weiß waren."
7000 sind noch vermisst
Fatima Aljic sitzt aufrecht auf dem Sofa in der ordentlichen Wohnung in Sarajevo, wo sie nun lebt. Nur ein paar Knochen ihres Mannes und des Sohnes Seval konnte die 70-Jährige 2006 begraben.
2008 wurden zwei bis drei Knochen von Dzemal gefunden. Und sie hat noch einen Kummer. Ihr ältester Sohn Sabahudin war Soldat und gilt seit dem Krieg als vermisst. Er ist damit einer von 7.000 in Bosnien-Herzegowina, darunter mehr als 1.000, die in Srebrenica ermordet wurden, listet Emza Fazlic auf vom Internationalen Institut für die Suche nach Vermissten in Sarajevo.
"Die Bodenbeschaffenheit hat sich geändert und es gibt weniger Augenzeugen, sodass es immer schwieriger wird, ein Massengrab zu finden. Wir appellieren an Menschen, die Bescheid wissen. Es gibt eine kostenlose Telefonnummer, wo sie das melden können. Wir haben auf unserer Website eine Karte, auf der man anonym eine Stelle anklicken und melden kann. Außerdem sollten die Analytiker intensiver an dem Archivmaterial aus dem Jugoslawientribunal in Den Haag arbeiten oder die Unterlagen des Verteidigungsministeriums durcharbeiten, um an neue Informationen zu kommen. Nur so können wir möglichst viele Vermisste finden."
Kinder, Männer, Frauen wurden wahllos getötet
Ihren dritten, so schmerzlich vermissten Sohn zu finden, das würde auch Fatima Aljic ein wenig Ruhe bringen. Auch wenn ihre geschundene Seele immer mit Srebrenica verbunden bleiben wird. Ein Völkermord, der von Serben in Bosnien-Herzegowina oder in Serbien oft genug geleugnet wird.
Man kann ja niemandem beschreiben, was dort passiert ist. Sie haben wahllos getötet: Kinder, Männer, Frauen. So viele Tote und sie verneinen das noch. Glauben sie denn, es ist nur ein Völkermord, wenn sie wirklich alle töten und niemand überlebt?
Auch der alte Muhamed Alic will weiter an den Völkermord erinnern und im nächsten Jahr wieder mitlaufen von Nezud bei Tuzla nach Srebrenica.
"Ich bin 91 und werde bald 92 Jahre alt. Ich habe, Gott sei Dank, so gute Beine, dass ich wieder nach Srebrenica laufen kann. Ich sehe allerdings schlecht und brauche einen Begleiter."